Die Gedichte

RAINER MARIA
RILKE

DIE GEDICHTE

INSEL VERLAG

Die Wiedergabe der Gedichte folgt den grundlegenden, auf den Handschriften bzw. auf den maßgeblichen Drucken beruhenden Ausgaben der Werke Rilkes: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Herausgegeben von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski und August Stahl, Frankfurt am Main und Leipzig: Insel Verlag 1996.

Sämtliche Werke, herausgegeben vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt von Ernst Zinn, Insel Verlag: Wiesbaden 1955 ff. Vgl. auch die editorische Notiz am Schluß des Bandes.

ebook Insel Verlag Berlin 2010

© Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2006

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.



www.suhrkamp.de

eISBN 978-3-458-73960-9

INHALT

Erste Gedichte (1884-1894)

Larenopfer (1895)

Traumgekrönt (1896)

Advent (1897)

Christus-Visionen (1896/1898)

Dir zur Feier (1897/98)

Mir zur Feier (1897/98; 1909)

Das Stunden-Buch

Erstes Buch: Das Buch vom mönchischen Leben (1899)

Zweites Buch: Das Buch von der Pilgerschaft (1901)

Drittes Buch: Das Buch von der Armut und vom Tode (1903)

Das Buch der Bilder (1902/1906)

Des ersten Buches erster Teil

Des ersten Buches zweiter Teil

Des zweiten Buches erster Teil

Des zweiten Buches zweiter Teil

Die Gedichte 1906 bis 1910

Neue Gedichte (1907)

Der Neuen Gedichte anderer Teil (1908)

Die Gedichte 1910 bis 1922

Duineser Elegien (1912/1922)

Die Sonette an Orpheus (1922)

Die Gedichte 1922 bis 1926



Zeittafel

Alphabetisches Verzeichnis der Gedichtanfänge und -überschriften

Editorische Notiz

ERSTE GEDICHTE

(1884-1894)

FÜR EUEREN TRAUUNGS-TAG
〈An die Eltern, zum 24. Mai 1884〉



Ein hoher Festtag ist gekommen,
ein klein’ Papier hab ich genommen.
Drauf schreib ich all die Wünsche Dir
in Dichter-Form, erlaub’ es mir.
Fortuna soll dich stets begleiten
von nahe oder auch von weiten.
Das Glück geleit Euch überall
dies ruft Euch zu der Hannibal.*
Nun lebe wohl mit Gottes Segen,
er schütze Euch auf allen Wegen.
Euer Leben sei nur Glück
auf Unglück denket nie zurück
nie! nie! nie!
Nun lebet wohl ich sag Ade
und hoffe Euch tut nichts mehr weh
Ade Ade
Euer Euch innig liebender Sohn
René



〈AN DIE MUTTER〉
〈Zu ihrem Geburtstage am 4. Mai 1889〉



Liebste Mama!

Es naht ein Tag durch goldne Tore,
ein Tag der Freude und des Glücks.
Zur Feder greif ich rasch,
begeistert von Genien des Augenblicks. –
Und golden prangt in reichen Blüten
die schöne, große, weite Welt
zur hohen Ehr dem schönen Feste,
das lächelnd seinen Einzug hält!
Zu Deinem Wiegenfest das heut erschienen
das Beste, was ein Mensch im Busen trägt,
und alles Hohe, alles edle Schöne,
wofür ein freies Menschenherze schlägt.
Vom reichsten Wunsche ganz durchdrungen
fleh ich zum höchsten Vater hin
und hoffe, daß aus meinen Bitten
der höchste Segen mög erblühn!
Herr! schick von deinem höchsten Throne,
der stolz sich in die Wolken baut,
Zufriedenheit dem Erdensohne
der tränenvoll zum Himmel schaut!
Ich fleh: »Oh Herr! laß lang noch glücklich sein
und schenke Glück und Frieden
dem vielgeliebten, teuren Mütterlein. «
Der Himmel wird den Wunsch erhören,
den fromm ein kleines Herze spricht,
des Kindes Wünsche streng verwehren
kann der barmherz’ge Vater nicht!
So sprech ich hoffend voll Vertrauen,
kann fest auf Gottes Hilfe bauen,
denn wer, so sagt ein hohes Wort,
in Freud und Leid auf Gott vertraut,
hat wahrlich nicht auf Sand gebaut!



Mag Dich auch jetzt noch mancher Kummer drücken,
ich sag es Dir mit freudigem Entzücken:
Ich seh nicht fern ein tröstend Bild,
hoch fliegen seh ich Deines Schicksals Sterne,
und meine schönsten Träume sind erfüllt!
Und nun dem hohen Wiegenfeste
ein Wort zu sagen hab ich noch:
Hoch möge der Geburtstag leben,
hoch, immer höher, ewig hoch!
Hoch! Hoch! Hoch!



〈AN DIE MUTTER〉
〈Zu ihrem Geburtstage am 4. Mai 1890〉



Hoch!

dem Geburtsfeste.

Wünsche, die im Herzensgrunde
längst getagt im Sonnenschein,
tönen nun aus meinem Munde,
teures Herz, Dich zu erfreun.
Des Vertumnus reiche Gaben
aus Fortunas goldnem Horn
sollen Dich in Segen laben
als ein unerschöpflich Born.
Freude winke Dir entgegen,
Freude kehr Dir stets zurück,
wo Du gehst auf allen Wegen
blühe Dir das reinste Glück.
Lange noch in Glück und Frieden
fliehe Dir die schnelle Zeit,
sei das Höchste Dir beschieden:
»Himmlische Zufriedenheit«.
Freude mög Dich stets begleiten,
Liebe soll dein Führer sein,
Treue Dir den Weg bereiten,
überall Dich zu erfreun! –
Höre meiner Wünsche Worte,
höre sie geduldig an;
denn sie haben Dir die Pforte
Deines Glückes aufgetan.
Einfach zwar die Worte klingen,
schmucklos ohne Zier und Glanz,
doch weil sie dem Herz entspringen,
ist gar blumenreich ihr Kranz.
Nun will ich nicht weiter keuchen,
sonst hörst Du mich gar nicht an:
»’s ist ein Lied, das Stein’ erweichen,
Menschen rasend machen kann«.
Doch ich wünsch Dir ja das Beste,
höre nur mein Flehen an;
zu dem hohen Wiegenfeste
was nur geht hab ich getan!
Nun, ein Leben solls heut werden
wie in des Olympos Höhn,
wie bisher auf unsrer Erden
noch kein Sterblicher gesehn.
Doch etwas muß ich Dir noch sagen,
eh ich die Zeilen Dir übergieb,
Du brauchst nicht weiter zu erfragen:
Kannst’s glauben, hab Dich riesig lieb.

Hoch! Hoch! Hoch!



〈AN DEN VATER〉
〈Zu seinem Geburtstage, dem 25. September 1891〉



Teuerster Papa!

Zu diesem Feste sieh mich vor Dich treten,
der Du von meiner ersten Stunde an
für mich gesorgt, in Freude und in Nöten,
laß mich recht herzens-innig für Dich beten
zu dem, der alles Gute senden kann!




Ein Lenz des Schaffens sei Dein ganzes Leben
allüberall der strengen Pflicht geweiht –
in stetem Fleiße unermüdlich weben,
das läßt den Geist zu goldnen Höhen schweben,

macht ihn erhaben über Raum und Zeit.



Und dennoch siehst du klar in all die Tänze
des leichten Lebens offnen Blicks hinein:
Die Menschheit freuet sich der muntern Lenze,
da forsche wohl, wie sehr ein Ding oft glänze,

ob etwas berget dieser äußre Schein?



Du ließest mir so manches Edle lehren,
führst mich den Weg zur Wissenschaft hinan;
wie könnt ich also Dich nicht liebend ehren,
laß mich zur Fahne reiner Wahrheit schwören:

Ich wills vergelten Dir – als Mann.



Ich will bei meiner Arbeit emsig walten
auf daß es wahr, bis ich Dich wiederseh:
Durch Fleiß und Mühe kann sich viel entfalten;
was er versprach, das wird Dir ewig halten –

in treuer Lieb Dein dankbarer René.



Das scheucht den Kummer, dann wird bange
mir nimmermehr vor einer Klag;
Gott geb, daß bei demselben Klange
ich noch viel Jahre folg dem Drange

zu grüßen diesen schönen Tag! –



GLAUBENSBEKENNTNIS
2. April 1893



Ihr lippenfrommen Christen
nennt mich den Atheisten
und flieht aus meiner Näh’,
weil ich nicht wie ihr alle
betöret in der Falle
des Christentumes geh.



Ich weiß es, eure Lehren,
die wissen zu bekehren,
die machen fromm und – dumm.
Denn nur damit ihr sündigt,
hat man euch einst verkündigt
das Evangelium.



Und eure Priester sorgen,
daß heute oder morgen
euch nicht mehr Klarheit wird.
Wacht mit Gesetz und Strafe
doch über seine Schafe
der ›unfehlbare‹ Hirt.



O! heil’ger weiser Vater,
der du des Herrn Berater

auf dieser Erde bist,

Du bist der erste Sünder –
verzeih, ich sags gelinder:
du bist der erste Christ.



Und deine Lämmer lehren:
Die Dreiheit sollt ihr ehren
jetzt und in Ewigkeit.
(Füllt nur den Opferkasten, –
dann seid ihr von den Lasten
der Schulden bald befreit.)



Die Schafe folgen alle,
sobald mit lautem Schalle
die Kirchenglocke hallt; –
sie fühlen sich entschädigt,
wenn nur der Pfaff die Predigt
verschlafen niederlallt.



Der spricht von Tod und Ende, . . .
sie falten ihre Hände
und weinen sich halb blind.
Dann murmeln sie ein: Amen,
und gehn … in Gottes Namen, –
wie glücklich sie doch sind! –



Sie sind ja doch gereinigt
und werden nie gepeinigt
von Fegefeuerglut.
Christ ist für sie gestorben,
hat ihnen Heil erworben
durch sein geheiligt Blut.



Er lehrte sie dies Leben
und alles – hinzugeben
wie er, – der Menschensohn.
Einst würd’ in andern Welten
Gott Vater es vergelten
mit seinem höchstem Lohn! …



»Du wirst dann untergehen«,
ruft ihr, »nicht auferstehen,
wenn die Posaune gellt!«
» »Habt Dank, – ich bleibe liegen,
ich lasse mir’s genügen
an dieser einen Welt. –



Ich glaub an eine Lehre,
von der man sagt, sie wäre
auf Erden selbst sich Lohn.
Die Lehre, die ich übe,
die Lehre heißt die Liebe,
sie ist mir Religion. « «



〈CHRISTUS AM KREUZ〉
〈Ende 1893〉



Noch hatten kaum die Fernen sich gelichtet,
so war ich schon der Stadt entflohn und ging
durch frische Aun. – Dort stand ein Kreuz errichtet,
ein schlichtes Holzkreuz. An dem Kreuze hing
ein Christus dort. Nur schlecht und schlicht bemalet
mit greller Farbe – nicht von Künstlerhand.
Er sah vom Licht des jungen Tags bestrahlet
erbärmlich aus. Doch unweit von mir stand
ein armes Weib. Zwei Kinder ihr zur Seite –
gebetvertieft. Die kannten wohl die Not.
Noch hörte ich die Worte: »Gieb uns heute« –
– die Kleinen sprachens mit – »das täglich Brot. « –
Wer könnte denen diese Hoffnung rauben,
die durch das karge Leben knospend bricht!
Es lag in ihren Blicken so viel Glauben,
in ihren Worten so viel Zuversicht.
Dort eilten sie nun wohl zum Tageswerke
in schnellem Schritte. Das Gebet verlieh
den arbeitsmüden Gliedern neue Stärke . . . . .
Da schien es mir – als müßt ich neiden sie.
Still stand ich da, das Auge voll von Tränen,
das arme Herz zwiespältiger Zweifel voll.
Und da vor meinen Augen sah ich jenen,
zu dem sie flehten, daß er helfen soll. –
Was konnte ich nicht beten? warum schaute
ich immer nur das bunte Blech – nicht mehr? .