Ich kehrte im Hotel »Zum goldenen Bären« ein, dem einzigen Hotel dieses Städtchens, von dem man mir gesagt hatte, es sei einem Europäer angemessen.

Der Bahnhof war winzig, wie jener in Sipolje, den ich in gewissenhafter Erinnerung behalten hatte. Alle Bahnhöfe der alten österreichisch-ungarischen Monarchie gleichen einander, die kleinen Bahnhöfe in den kleinen Provinzorten. Gelb und winzig, waren sie trägen Katzen ähnlich, die winters im Schnee, sommers in der Sonne lagern, gleichsam beschützt von dem überlieferten kristallenen Glasdach des Perrons und überwacht von dem schwarzen Doppeladler auf gelbem Hintergrund. Überall, in Sipolje wie in Zlotogrod, war der Portier der gleiche, der gleiche Portier mit dem erhabenen Bauch, der dunkelblauen, friedfertigen Uniform, dem schwarzen Riemen quer über der Brust, dem Riemen, in dem die Glocke steckte, die Mutter jenes seligen, dreimaligen, vorschriftsmäßigen Klingelns, das die Abfahrt ankündigte; auch in Zlotogrod, wie in Sipolje, hing am Perron, über dem Eingang zum Büro des Stationsvorstehers, jenes schwarze, eiserne Instrument, aus dem wunderbarerweise das ferne silberne Klingeln des fernen Telephons kam, Signale, zart und lieblich, aus anderen Welten, so daß man sich wunderte, daß sie Zuflucht gefunden hatten in einem so schweren, wenn auch kleinen Gehäuse; auf der Station in Zlotogrod, wie auf der in Sipolje, salutierte der Portier den Ankommenden wie den Abreisenden, und sein Salutieren war wie eine Art militärischen Segens; auf dem Bahnhof in Zlotogrod, wie auf dem in Sipolje, gab es den gleichen »Wartesaal zweiter und erster Klasse«, das gleiche Büfett mit den Schnapsflaschen und der gleichen blonden, vollbusigen Kassiererin und den zwei riesengroßen Palmen rechts und links vom Büfett, die ebenso an Vorweltgewächse erinnerten wie an Pappendeckel. Und vor dem Bahnhof warteten die drei Fiaker, genauso wie in Sipolje. Und ich erkannte sofort den unverkennbaren Fiaker Manes Reisiger.

Selbstverständlich war er es, der mich zum Hotel »Zum goldenen Bären« fuhr. Er hatte einen schönen, mit zwei silbergrauen Schimmeln bespannten Fiaker, die Speichen der Räder waren gelb lackiert und die Räder mit Gummi versorgt, so wie sie Manes in Wien bei den sogenannten »Gummiradlern« gesehen hatte.

Er gestand mir unterwegs, daß er eigentlich nicht so sehr meinetwegen, in Erwartung meiner Ankunft, seinen Fiaker renoviert hatte wie aus einer Art jener instinktiven Leidenschaft, die ihn zwang, seine Kollegen, die Wiener Fiaker, genauer zu beobachten und seine Ersparnisse dem Gott des Fortschritts zu opfern, zwei Schimmel zu kaufen und Gummireifen um die Räder zu tun.

Der Weg vom Bahnhof zur Stadt war sehr weit, und Manes Reisiger hatte lang Zeit, mir die Geschichten zu erzählen, die ihn so nahe angingen. Er hielt dabei mit der linken Hand die Zügel. Zu seiner Rechten stak die Peitsche in ihrem Futteral. Die Schimmel kannten wohl den Weg. Es war keineswegs nötig, sie zu lenken. Manes brauchte sich gar nicht um sie zu kümmern. Er saß also nachlässig auf dem Kutschbock, hielt die Zügel sorglos und schlaff in der Linken und neigte sich mir mit dem halben Oberkörper zu, während er mir seine Geschichte erzählte. Beide Schimmel zusammen hatten nur hundertfünfundzwanzig Kronen gekostet. Es waren ärarische Schimmel, jeder auf dem linken Auge blind geworden, für militärische Zwecke also unbrauchbar und von den in Zlotogrod stationierten Neuner-Dragonern billig abgegeben. Allerdings hätte er, der Fiaker Manes Reisiger, sie niemals so leicht kaufen können, wenn er nicht ein Liebling des Obersten von dem Neuner-Dragoner-Regiment gewesen wäre. Es gab im ganzen fünf Fiaker im Städtchen Zlotogrod. Die andern vier, die Kollegen Reisigers, hatten schmutzige Wagen, faule und lahme alte Stuten, krumme Räder und ausgefranste Ledersitze. Die Holzwolle kroch nur so wild durch das abgeschabte und löchrige Leder, und es war wahrhaftig keinem Herrn, geschweige denn einem Obersten von den Neuner-Dragonern zuzumuten, daß er sich in solch einen Fiaker setzte.

Ich hatte eine Empfehlung von Chojnicki an den Garnisonskommandanten, den Obersten Földes von den Neunern, ebenso wie an den Bezirkshauptmann, den Baron Grappik. Gleich morgen, am nächsten Tag nach meiner Ankunft also, gedachte ich, beide Besuche zu machen. Der Fiaker Manes Reisiger verfiel in Schweigen, er hatte nichts mehr Wichtiges zu erzählen, alles, was wichtig in seinem Leben war, hatte er bereits gesagt. Dennoch aber ließ er immer noch die Peitsche im Futteral, dennoch hielt er immer noch die Zügel schlaff und lose, dennoch wandte er mir immer noch vom Kutschbock her seinen Oberkörper zu. Das ständige Lächeln seines breiten Mundes mit den starken weißen Zähnen zwischen der nächtlichen, fast schon blauen Schwärze seines Schnurrbarts und seines Bartes erinnerte leicht an einen milchigen Mond zwischen Wäldern, zwischen angenehmen Wäldern eben. So viel Heiterkeit, so viel Güte war in diesem Lächeln, daß es sogar die Kraft der fremden, flachen, wehmütigen Landschaft beherrschte, durch die ich fuhr. Denn weite Felder zu meiner Rechten, weite Sümpfe zu meiner Linken dehnten sich auf dem Weg zwischen der Bahnstation Zlotogrod und dem Städtchen Zlotogrod, es war, als wäre es gleichsam in freiwilliger Keuschheit bewußt ferne dem Bahnhof geblieben, der es mit der Welt verband. Es war ein regnerischer Nachmittag und, wie gesagt, am Anfang des Herbstes. Die Gummiräder des Fiakers Manes rollten gespenstisch lautlos durch die aufgeweichte, ungepflasterte Landstraße, aber die schweren Hufe der starken, dereinst ärarischen Schimmel klatschten in wuchtigem Rhythmus durch den dunkelgrauen Schlamm, und die dicken Kotklumpen spritzten vor uns her. Es war bereits Halbdunkel, als wir die ersten Häuser erreichten. Mitten auf dem Ringplatz, der kleinen Kirche gegenüber, stand, durch eine einsame, traurige Laterne von weitem schon kundgetan, das einzige zweistöckige Haus von Zlotogrod: nämlich das Hotel »Zum goldenen Bären«. Die einsame Laterne davor erinnerte an ein Waisenkind, das durch Tränen vergeblich zu lächeln versucht.

Dennoch, auf so viel Fremdes, mehr als dies: nämlich Weites und Entferntes, ich mich auch vorbereitet hatte, erschien mir auch das meiste heimisch und vertraut.