Ich kannte die Schenke Jadlowkers, ich war schon ein paarmal dort gewesen, ich kannte den üblichen Trubel, der dort zu herrschen pflegte, jene besondere Art von Lärm, den die plötzlich heimatlos Gewordenen verursachen, die Verzweifelten, alle jene, die eigentlich keine Gegenwart haben, sondern die gerade noch auf dem Weg aus der Vergangenheit in die Zukunft begriffen sind, aus einer vertrauten Vergangenheit in eine höchst ungewisse Zukunft, Schiffspassagieren in jenem Augenblick ähnlich, in dem sie vom festen Land aus in ein fremdes Schiff über einen schwankenden Steg schreiten.
Heute aber war es still. Ja, es war unheimlich still. Sogar der kleine Kapturak, einer der eifrigsten und lautesten Agenten, der all das viele, das er zu verbergen beruflich und von Natur gezwungen war, unter einer unheimlichen, geschäftigen Geschwätzigkeit zu verbergen pflegte, saßger, als er schon war, und also doppelt unscheinbar, ein schweigsamer Schatten seiner selbst. Vorgestern erst hatte er eine sogenannte »Schicht« oder, wie man sich in seinem Beruf anders auszudrücken pflegte, eine »Ladung« von Deserteuren über die Grenze gebracht, und jetzt klebte das Manifest des Kaisers an den Wänden, der Krieg war da, die mächtige Schiffsagentur selbst war ohnmächtig, der mächtige Donner der Weltgeschichte ließ den kleinen, geschwätzigen Kapturak verstummen, und ihr gewaltiger Blitz reduzierte ihn zu einem Schatten. Stumpf und stier saßen die Deserteure, die Opfer Kapturaks, vor ihren Gläsern, die nur halb geleert waren. Früher, sooft ich in die Schenke Jadlowkers gekommen war, hatte ich mit dem ganz besonderen Vergnügen eines jungen, leichtfertigen Menschen, der in den leichtsinnigen Ausdrucksformen der anderen, auch der Fremdesten, die legitime Bestätigung seiner eigenen Gewissenlosigkeit sieht, die Sorglosigkeit der soeben heimatlos Gewordenen beobachtet, die ein Glas nach dem anderen leerten und ein Glas nach dem anderen frisch bestellten. Der Wirt Jadlowker selbst saß hinter dem Schanktisch wie ein Unheilverkünder, zwar nicht ein Bote des Unheils, aber sein Träger; und er sah so aus, als hätte er gar nicht die geringste Lust gehabt, noch neue Gläser einzuschenken, selbst wenn seine Gäste es verlangt hätten. Was hatte dies alles noch für einen Sinn? Morgen, übermorgen konnten die Russen dasein. Der arme Jadlowker, der noch eine Woche früher so majestätisch dagesessen war, mit seinem silbernen Spitzbärtchen, eine Art Bürgermeister unter den Schankwirten, von der verschwiegenen Protektion der Behörden ebenso beschattet und gesichert wie von ihrem ehrenden Mißtrauen, sah heute aus wie ein Mensch, der seine ganze Vergangenheit liquidieren muß; ein Opfer der Weltgeschichte eben. Und die schwere, blonde Kassiererin neben ihm hinter der Theke war ebenfalls gleichsam von der Weltgeschichte gekündigt worden, zu einem kurzen Termin. Alles Private war auf einmal in den Bereich des Öffentlichen getreten. Es repräsentierte das Öffentliche, es vertrat und symbolisierte es. Deshalb war unser Abschied so verfehlt und so kurz. Wir tranken lediglich drei Glas Met, und wir aßen schweigsam gesalzene Erbsen dazu. Plötzlich sagte mein Vetter Joseph Branco: »Ich fahre gar nicht erst nach Sarajevo. Ich melde mich in Zloczow zusammen mit Manes!« – »Bravo!« rief ich. Und ich wußte dabei, daß auch ich gern getan hätte wie mein Vetter. Aber ich dachte an Elisabeth.
XIII
Ich dachte an Elisabeth. Ich hatte nur zwei Gedanken, seitdem ich das Manifest des Kaisers gelesen hatte: den an den Tod und den an Elisabeth. Ich weiß heute noch nicht, welcher von beiden der stärkere war.
Verschwunden und vergessen waren im Angesicht des Todes alle meine törichten Befürchtungen vor dem törichten Spott meiner Freunde. Ich empfand auf einmal Mut, zum erstenmal in meinem Leben hatte ich Mut, meine sogenannte »Schwäche« zu bekennen. Ich ahnte freilich schon, daß der leichtfertige Übermut meiner Wiener Freunde dem schwarzen Glanz des Todes gewichen sein würde und daß es in der Stunde des Abschieds, eines solchen Abschieds, keinen Platz für irgendeinen Hohn mehr geben könnte.
Ich hätte mich auch beim Ergänzungsbezirkskommando Zloczow melden können, wohin der Fiaker Manes zuständig war und zu dem sich auch mein Vetter Joseph Branco begeben wollte. In Wirklichkeit lag es in meiner Absicht, Elisabeth und meine Wiener Freunde und meine Mutter zu vergessen und mich so schnell wie möglich der nächsten Station des Todes auszuliefern, nämlich dem Ergänzungsbezirkskommando Zloczow. Denn ein starkes Gefühl band mich an meinen Vetter Joseph Branco wie an seinen Freund, den Fiaker Manes Reisiger. In der Nähe des Todes wurden meine Gefühle redlicher, gleichsam reinlicher, ähnlich, wie sich manchmal vor einer schweren Krankheit plötzlich die klaren Einsichten und Erkenntnisse einstellen, dermaßen, daß man trotz der Angst, der Bedrängtheit und der würgenden Vorahnung des Leidens eine Art stolzer Genugtuung darüber empfindet, daß man endlich einmal erkannt hat; das Glück, das man durch Leiden erkannt hat, und eine Seligkeit, weil man den Preis der Erkenntnis im voraus erfährt. Man ist sehr glücklich in der Krankheit. Ich war damals ebenso glücklich, in Anbetracht der großen Krankheit, die sich in der Welt ankündigte: nämlich der des Weltkriegs. Ich durfte gleichsam allen meinen Fieberträumen, die ich sonst unterdrückt hatte, freien Lauf lassen. Ich war ebenso befreit wie gefährdet.
Ich wußte bereits, daß mir mein Vetter Joseph Branco und sein Freund Manes Reisiger lieber waren als alle meine früheren Freunde, mit Ausnahme des Grafen Chojnicki. Man stellte sich damals den Krieg sehr einfach und ziemlich leichtfertig vor.
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