Die Vergangenheit leugnen wir einfach.“
Ernst Bang ist rasch näher gekommen, wie um zu retten; er hört noch:
„Wer von der Vergangenheit spricht, lügt. Abgemacht.“
Helene ist sehr blass.
Hermann hat es nicht bemerkt. Eben hat jemand draussen geklingelt, und er beeilt sich, zu öffnen; es könnte von Holms sein. Helene erreicht ihn noch an der Thür. Ihre Lippen brennen. Es ist ein letzter Versuch.
Aber Holzer hält sich die Ohren zu und lacht laut.
Da lässt sie ihn los, lässt ihn los – und kommt langsam zur Lampe zurück, ganz ruhig.
Bang steht an der anderen Seite des Tisches, und die Lampe singt zwischen ihnen merkwürdig laut.
Einmal schaut ihn Helene an mit traurigen, hilflosen Augen. Und Ernst Bang hebt ein wenig die Achseln, unmerklich.
Das ist alles.
Der Tag wird immer verlegen in der kleinen Mietswohnung, in welcher so schwere, unverständliche Möbel stehen. Aber die Dämmerung begreift alles. Sie weiss, dass das Vergangenheit ist, was da in Stühlen und Schränken und Bildern sich erhält, und dass die engen Stuben, drei Treppen hoch, schuldlos sind an dieser fremden Vergangenheit, wie Menschen, deren Gesicht von irgend einem Vorfahr den Namen eines Gefühls geerbt hat, das sie mit ihren eigenen schwächeren Herzen gar nicht zu tragen vermöchten.
Die beiden Fenster führen den roten Abend herein, der über die Dächer kommt und leise zu den wartenden Dingen tritt, welche ihn schweigend empfangen. Am freudigsten nimmt ihn die schmale, mit Säulen geschmückte Kommode auf, die wie ein kleiner Altar ist: mit all dem Silber und Glas auf ihr lächelt sie ihm zu.
Marie Holzer steht gerade vor dieser Kommode. Sie hält von den kleinen Miniaturen, welche da neben den massiven Armleuchtern aufgestellt sind, eine nach der andern in den Abend und betrachtet jede aufmerksam. Dabei ist ihr junges, helles Gesicht ernst und nachdenklich. Für eine Weile wendet sie es einer Dame in Schwarz zu, die, nah bei ihr, auf dem Fensterplatze sitzt und vor sich hinsieht, ohne dass ihre grossen Augen etwas halten. Und so kann Marie Holzer sie ruhig anschauen, als wäre auch das ein Bild: dieses Gesicht, dem man kein Alter zu geben wagt, obwohl es nicht jung ist, diesen feinen Mund, der von wehen Erinnerungen bewegt, ein unsichtbares Leiden überwindet, und dieses Haar, von dem man zu wissen glaubt, dass es schwer ist. Und vor allem die Vornehmheit dieser zarten, stillen Gestalt, die geduldige Ruhe dieser schwarzen Schultern, auf denen das schlichte Nutzkleid wie eine Würde liegt.
Jetzt erhebt die schlanke Uhr, die fast verheimlicht zwischen den Fenstern steht, ihre zitternde Stimme und sagt feierlich sechs Schläge, von denen sie jeden anders betont; Marie Holzer lässt sie ganz ausreden und wartet auch noch das Geräusch ab, mit welchem die geteilte Stille sich hinter dem letzten Schlage wieder schliesst. Dann sagt sie: „Merkwürdig.“ Und nimmt wieder ein Bild von der Kommode und wiederholt: „Merkwürdig.“ Da erschrickt die Frau am Fenster: „Sie haben etwas gesagt, Marie?“ Das Mädchen stellt zuerst die Miniatur wieder an die alte Stelle, ehe es antwortet. „Gesagt? – Eigentlich nicht. Es ist nur so seltsam.“ Die Dame sieht flüchtig über den Abendhimmel hin und fragt leise: „Was denn, Kind?“
„Dass man hier bei Ihnen immer so anders wird. So eigentümlich fromm. Man ist immer wie zum allererstenmal hier. Man kann das Staunen nicht verlernen.“ Pause. Sie biegt die Arme in jungmädchenhafter Art hoch zurück und bettet den Kopf hinein, wie man es wohl während eines leisen Traumes thun mag, den man tief, mit allen Sinnen geniesst. Ihre Augen sind auch geschlossen, als sie fortfährt: „Und das giebt es hier, mitten in der Stadt, hoch in diesem lauten, alltäglichen Zinshaus, in dem nüchterne, unwichtige Menschen wohnen. Ueber ihnen ist dieses Seltsame. Sie tragen es gleichsam auf ihren Köpfen und ahnen nichts davon.“ Sie lässt die Arme fallen. „Nein, sehen Sie, Frau Malcorn, dass es so etwas giebt!...“
„Aber was denn eigentlich, Kind?“
„Alles das: diese Bilder und diese Dinge und Sie, Frau Malcorn, und Harald – ja, auch Harald.“
Frau Malcorn schüttelt leise den Kopf. „Sind denn einsame Menschen so anders als –“
„Einsame Menschen? – Ja. Vielleicht. Aber das ist es nicht allein.“ Marie Holzer geht zu dem anderen Fenster hin. Und dann: „Sie sind nicht einsam eigentlich.
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