Es war der Name einer Entlastungszeugin, die von der Verteidigung vorgeladen worden war - Mrs. Amelia Reddle!
Dann stimmte es also. Das war die freundliche Nachbarin, von welcher der Gefängnisdirektor gesprochen hatte. Diese große, schöne Frau, die mit solcher Ruhe über die Steinfliesen des Gefängnishofes schritt, war ihre Mutter! Und Mrs. Reddle hatte sie großgezogen, ohne ihr etwas von ihrer Herkunft zu erzählen.
Die Buchstaben tanzten ihr vor den Augen, ihre Hände zitterten, als ihre Entdeckung so plötzlich bestätigt wurde.
Ihre Mutter war unschuldig. Sie fühlte nicht nur eine natürliche Auflehnung gegen den Gedanken, daß in ihren Adern das Blut einer Mörderin rann - sie hatte die Überzeugung und innere Gewißheit, daß ihre Mutter unschuldig war.
Ruhig und gelassen ging sie nach Hause zurück. Sie hatte den festen Entschluß gefaßt, die Unschuld ihrer Mutter zu beweisen und wollte ihr Leben dieser Aufgabe widmen.
6
Die Charlotte Street lag verlassen da, als sie auf dem Heimweg um die Ecke bog. Sie kam an einem kleinen, geschlossenen Wagen vorüber, der an der Bordschwelle hielt. Als sie die Straße halbwegs gegangen war und sie eben überqueren wollte, stellte sie überrascht fest, daß derselbe Wagen mit höchster Geschwindigkeit auf sie zukam. Sie hielt an, um ihn an sich vorüberzulassen. Sie bemerkte kaum, daß seine Lampen nur düster brannten, denn ihre Gedanken waren mit anderen Dingen beschäftigt. Das Auto kam näher, sein Tempo erhöhte sich von Sekunde zu Sekunde, und als es nur noch einige Meter von ihr entfernt war, fuhr es plötzlich auf sie zu.
Im ersten Augenblick wollte sie rückwärts ausweichen, aber ihr Instinkt trieb sie vorwärts. Wenn es dem Fahrer noch gelungen wäre, in die Kurve zu gehen, wäre sie dem Tode nicht entgangen. Der plötzliche Sprung nach vorn hatte ihr das Leben gerettet. Die äußere Ecke des Schutzblechs streifte ihr Kleid und riß ein großes Stück Stoff so glatt heraus, als ob es mit der Schere abgeschnitten worden wäre. Im nächsten Augenblick raste der Wagen in Richtung Fitzroy Square an ihr vorbei. Die Nummer war nicht zu erkennen.
Eine Sekunde stand Lois atemlos da und zitterte an allen Gliedern. Dann sah sie, wie sich jemand aus dem tiefen Schatten ihrer Haustüre löste und auf sie zukam. Bevor sie das Gesicht sah, wußte sie schon, wer es war.
»Sie haben Glück gehabt - beinahe hätte es Sie gefaßt«, sagte Michael Dorn.
»Was war denn das? Die müssen die Kontrolle über ihren Wagen verloren haben!«
»Ja, das stimmt«, erwiderte er ruhig. »Haben Sie die Nummer erkennen können?«
Sie schüttelte den Kopf. Seine Frage beunruhigte sie.
»Nein, ich habe sie nicht gelesen. Wünschen Sie etwas von mir, Mr. Dorn?«
»Ich wollte nur sehen, wie es Ihnen nach dem aufregenden Erlebnis geht.«
Sie schaute ihn groß an.
»Welches aufregende Erlebnis meinen Sie denn?«
»Ich denke an den kleinen Unfall, für den ich teilweise selbst verantwortlich bin«, sagte er ruhig. »Wenigstens halte ich einen Zusammenstoß auf der Straße für aufregend. Aber möglicherweise haben Sie stärkere Nerven als ich.«
»Das meinen Sie nicht - Ihre Worte beziehen sich auf mein Erlebnis im Gefängnis.«
Er beugte sich zu ihr nieder.
»Was haben Sie denn im Gefängnis erlebt?« fragte er leise.
»Wenn Sie es nicht wissen, kann ich es Ihnen nicht erzählen.« Sie wandte sich schnell von ihm ab, ging ins Haus und schloß die Tür fast vor seiner Nase.
Noch bevor sie ihr Zimmer erreicht hatte, bereute sie ihre Heftigkeit. Aber es war jetzt zu spät, unter keinen Umständen wäre sie zurückgegangen und hätte sich entschuldigt.
Lizzy erwartete sie in heller Aufregung. »Weißt du auch, daß es beinahe zwölf ist? Ich dachte, du wärest früh zu Bett gegangen.«
»Ich war im Zeitungsbüro und habe für Mr. Shaddles noch einen Gerichtsfall nachgelesen. Aber sieh mal mein Kleid - ein Auto hat mich gestreift.«
Lizzy machte ein ungläubiges Gesicht.
»Wenn es wahr ist, daß du für diesen alten Geizhals Überstunden gemacht hast, dann ist es in deinem Kopf nicht mehr ganz richtig, und du mußt dich vom Arzt untersuchen lassen. Aber ich bin fest davon überzeugt, daß das gar nicht stimmt, was du sagst - ich bin eigentlich sehr böse auf dich.«
»Warum denn?« fragte Lois.
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