»Wo willst du rasten?« fragte Carlo.
»Nun, im ›Adler‹, wie immer.«
Als sie bei dem kleinen Wirtshause am Ende des Dorfes angelangt waren, kehrten sie ein. Sie setzten sich in die Schenke und ließen sich Wein geben.
»Was macht ihr so früh bei uns?« fragte der Wirt.
Carlo erschrak ein wenig bei dieser Frage. »Ist’s denn so früh? Der zehnte oder elfte September – nicht?«
»Im vergangenen Jahr war es gewiß viel später, als ihr herunterkamt.«
»Es ist so kalt oben,« sagte Carlo. »Heut nacht haben wir gefroren. Ja richtig, ich soll dir bestellen, du möchtest nicht vergessen, das Öl hinaufzuschicken.«
Die Luft in der Schenke war dumpf und schwül. Eine sonderbare Unruhe befiel Carlo; er wollte gern wieder im Freien sein, auf der großen Straße, die nach Tirano, nach Edole, nach dem See von Iseo, überallhin, in die Ferne führt! Plötzlich stand er auf.
»Gehen wir schon?« fragte Geronimo.
»Wir wollen doch heut mittag in Boladore sein, im ›Hirschen‹ halten die Wagen Mittagsrast; es ist ein guter Ort.«
Und sie gingen. Der Friseur Benozzi stand rauchend vor seinem Laden. »Guten Morgen,« rief er. »Nun, wie sieht’s da oben aus? Heut nacht hat es wohl geschneit?«
»Ja, ja,« sagte Carlo und beschleunigte seine Schritte.
Das Dorf lag hinter ihnen, weiß dehnte sich die Straße zwischen Wiesen und Weinbergen, dem rauschenden Fluß entlang. Der Himmel war blau und still. ›Warum hab ich’s getan?‹ dachte Carlo. Er blickte den Blinden von der Seite an. ›Sieht sein Gesicht denn anders aus als sonst? Immer hat er es geglaubt – immer bin ich allein gewesen – und immer hat er mich gehaßt.‹ Und ihm war, als schritte er unter einer schweren Last weiter, die er doch niemals von den Schultern werfen dürfte, und als könnte er die Nacht sehen, durch die Geronimo an seiner Seite schritt, während die Sonne leuchtend auf allen Wegen lag.
Und sie gingen weiter, gingen, gingen stundenlang. Von Zeit zu Zeit setzte sich Geronimo auf einen Meilenstein, oder sie lehnten beide an einem Brückengeländer, um zu rasten. Wieder kamen sie durch ein Dorf. Vor dem Wirtshause standen Wagen, Reisende waren ausgestiegen und gingen hin und her; aber die beiden Bettler blieben nicht. Wieder hinaus auf die offene Straße. Die Sonne stieg immer höher; Mittag mußte nahe sein. Es war ein Tag wie tausend andere.
»Der Turm von Boladore,« sagte Geronimo. Carlo blickte auf. Er wunderte sich, wie genau Geronimo die Entfernungen berechnen konnte: wirklich war der Turm von Boladore am Horizont erschienen. Noch von ziemlich weither kam ihnen jemand entgegen. Es schien Carlo, als sei er am Wege gesessen und plötzlich aufgestanden. Die Gestalt kam näher. Jetzt sah Carlo, daß es ein Gendarm war, wie er ihnen so oft auf der Landstraße begegnete. Trotzdem schrak Carlo leicht zusammen. Aber als der Mann näher kam, erkannte er ihn und war beruhigt. Es war Pietro Tenelli; erst im Mai waren die beiden Bettler im Wirtshaus des Raggazzi in Morignone mit ihm zusammen gesessen, und er hatte ihnen eine schauerliche Geschichte erzählt, wie er von einem Strolch einmal beinahe erdolcht worden war.
»Es ist einer stehen geblieben,« sagte Geronimo.
»Tenelli, der Gendarm,« sagte Carlo.
Nun waren sie an ihn herangekommen.
»Guten Morgen, Herr Tenelli,« sagte Carlo und blieb vor ihm stehen.
»Es ist nun einmal so,« sagte der Gendarm, »ich muß euch vorläufig beide auf den Posten nach Boladore führen.«
»Eh!« rief der Blinde.
Carlo wurde blaß. ›Wie ist das nur möglich?‹ dachte er. ›Aber es kann sich nicht darauf beziehen.
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