»Bis jetzt sind es zwei Lire und dreißig Zentesimi; und hier ist noch österreichisches Geld, vielleicht eine halbe Lira.«

»Und zwanzig Franken – und zwanzig Franken!« rief Geronimo. »Ich weiß es ja!« Er torkelte in die Stube und setzte sich schwer auf die Bank.

»Was weißt du?« fragte Carlo.

»So laß doch die Späße! Gib es mir in die Hand! Wie lang hab ich schon kein Goldstück in der Hand gehabt!«

»Was willst du denn? Woher soll ich ein Goldstück nehmen? Es sind zwei Lire oder drei.«

Der Blinde schlug auf den Tisch. »Jetzt ist es aber genug, genug! Willst du es etwa vor mir verstecken?«

Carlo blickte den Bruder besorgt und verwundert an. Er setzte sich neben ihn, rückte ganz nahe und faßte wie begütigend seinen Arm: »Ich verstecke nichts vor dir. Wie kannst du das glauben? Niemandem ist es eingefallen, mir ein Goldstück zu geben.«

»Aber er hat mir’s doch gesagt!«

»Wer?«

»Nun, der junge Mensch, der hin und her lief.«

»Wie? Ich versteh dich nicht!«

»So hat er zu mir gesagt: ›Wie heißt du?‹ und dann: ›Gib acht, gib acht, laß dich nicht betrügen!‹«

»Du mußt geträumt haben, Geronimo – das ist ja Unsinn!«

»Unsinn? Ich hab es doch gehört, und ich höre gut. ›Laß dich nicht betrügen; ich habe ihm ein Goldstück ...‹ – nein, so sagte er: ›Ich habe ihm ein Zwanzig-Frankstück gegeben.‹«

Der Wirt kam herein. »Nun, was ist’s mit euch? Habt ihr das Geschäft aufgegeben? Ein Vierspänner ist gerade angefahren.«

»Komm!« rief Carlo, »komm!«

Geronimo blieb sitzen. »Warum denn? Warum soll ich kommen? Was hilft’s mir denn? Du stehst ja dabei und –«

Carlo berührte ihn am Arm. »Still, komm jetzt hinunter!«

Geronimo schwieg und gehorchte dem Bruder. Aber auf den Stufen sagte er: »Wir reden noch, wir reden noch!«

Carlo begriff nicht, was geschehen war. War Geronimo plötzlich verrückt geworden? Denn, wenn er auch leicht in Zorn geriet, in dieser Weise hatte er noch nie gesprochen.

In dem eben angekommenen Wagen saßen zwei Engländer; Carlo lüftete den Hut vor ihnen, und der Blinde sang. Der eine Engländer war ausgestiegen und warf einige Münzen in Carlos Hut. Carlo sagte: »Danke« und dann, wie vor sich hin: »Zwanzig Zentesimi.« Das Gesicht Geronimos blieb unbewegt; er begann ein neues Lied. Der Wagen mit den zwei Engländern fuhr davon.

Die Brüder gingen schweigend die Stufen hinauf. Geronimo setzte sich auf die Bank, Carlo blieb beim Ofen stehen.

»Warum sprichst du nicht?« fragte Geronimo.

»Nun,« erwiderte Carlo, »es kann nur so sein, wie ich dir gesagt habe.« Seine Stimme zitterte ein wenig.

»Was hast du gesagt?« fragte Geronimo.

»Es war vielleicht ein Wahnsinniger.«

»Ein Wahnsinniger? Das wäre ja vortrefflich! Wenn einer sagt: ›Ich habe deinem Bruder zwanzig Franken gegeben,‹ so ist er wahnsinnig! – Eh, und warum hat er gesagt: ›Laß dich nicht betrügen‹ – eh?«

»Vielleicht war er auch nicht wahnsinnig ... aber es gibt Menschen, die mit uns armen Leuten Späße machen ...«

»Eh!« schrie Geronimo, »Späße? – Ja, das hast du noch sagen müssen – darauf habe ich gewartet!« Er trank das Glas Wein aus, das vor ihm stand.

»Aber, Geronimo!« rief Carlo, und er fühlte, daß er vor Bestürzung kaum sprechen konnte, »warum sollte ich ... wie kannst du glauben ...?«

»Warum zittert deine Stimme ... eh ... warum ...?«

»Geronimo, ich versichere dir, ich –«

»Eh – und ich glaube dir nicht! Jetzt lachst du ... ich weiß ja, daß du jetzt lachst!«

Der Knecht rief von unten: »He, blinder Mann, Leut’ sind da!«

Ganz mechanisch standen die Brüder auf und schritten die Stufen hinab. Zwei Wagen waren zugleich gekommen, einer mit drei Herren, ein anderer mit einem alten Ehepaar. Geronimo sang; Carlo stand neben ihm, fassungslos. Was sollte er nur tun? Der Bruder glaubte ihm nicht! Wie war das nur möglich? – Und er betrachtete Geronimo, der mit zerbrochener Stimme seine Lieder sang, angstvoll von der Seite. Es war ihm, als sähe er über diese Stirne Gedanken fliehen, die er früher dort niemals gewahrt hatte.

Die Wagen waren schon fort, aber Geronimo sang weiter. Carlo wagte nicht, ihn zu unterbrechen. Er wußte nicht, was er sagen sollte, er fürchtete, daß seine Stimme wieder zittern würde. Da tönte Lachen von oben, und Maria rief: »Was singst denn noch immer? Von mir kriegst du ja doch nichts!«

Geronimo hielt inne, mitten in einer Melodie; es klang, als wäre seine Stimme und die Saiten zugleich abgerissen. Dann ging er wieder die Stufen hinauf, und Carlo folgte ihm. In der Wirtsstube setzte er sich neben ihn. Was sollte er tun? Es blieb ihm nichts anderes übrig: er mußte noch einmal versuchen, den Bruder aufzuklären.

»Geronimo,« sagte er, »ich schwöre dir ...