025 - Die toten Augen von London

EDGAR WALLACE

Die toten Augen von London


THE DARK EYES OF LONDON Kriminalroman



Wilhelm Goldmann Verlag

Aus dem Englischen übertragen von Gregor Müller

Herausgegeben von Friedrich A. Hofschuster


Made in Germany • 1/82- 15, Auflage

©der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Goldmann Verlag, München

Umschlagentwurf: Atelier Adolf & Angelika Bachmann, München

Umschlagfoto: Richard Canntown, Stuttgart

Druck: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh

Krimi 181

Lektorat: Friedrich A. Hofschuster • Herstellung: Peter Sturm

ISBN 3-442-0018 l-1

1

Larry Holt saß vor dem Cafe de la Paix und beobachtete den Menschenstrom auf dem Boulevard des Italiens. Ein Frühlingsgeruch hing in der Luft, die Bäume bekamen kleine, grüne Knospen, weiße Wölkchen bauschten sich am blauen Himmel, und die Zeitungskioske glänzten in der grellen Sonne in allen Farben. Überfüllte Autobusse rumpelten vorbei, kleine Taxis drängelten und flitzten davon, Fußgänger sprangen zurück.

An der Ecke stand ein Polizist, eine Hand auf dem Rücken, und schaute untätig vor sich hin. Auf dem Trottoir schlenderten junge Mädchen, Männer, Soldaten, Händler blieben vor den Kaffeehaustischchen stehen, Araber boten Decken und Tücher an, abgerissen aussehende Männer handelten mit Postkarten und brachten bei der geringsten Ermunterung Fotografien zum Vorschein, die eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren.

Larry Holt liebte dieses Treiben, Hasten, Gedränge. Seit vier Jahren arbeitete er in Frankreich und Deutschland, jetzt war er von Berlin hierhergekommen. Er verspürte ein richtiges Feriengefühl, das sogar ein vielbeschäftigter Detektiv manchmal empfinden kann.

Die dienstliche Stellung Larry Holts war den meisten Beamten von Scotland Yard etwas schleierhaft. Dem Rang nach Inspektor, übte er mehr die Funktionen eines Kommissars aus. Man nahm darum allgemein an, daß er für den ersten freiwerdenden Posten eines assistierenden Kommissars vorgemerkt war. Im Augenblick aber interessierten alle Fragen nach Rang und Beförderung Larry Holt nicht.

Er bezahlte seinen Kaffee und stand auf. Die Hände in den Taschen, eine lange, schwarze Zigarettenspitze zwischen den Zähnen, schlenderte er behaglich um die Ecke zu seinem Hotel.

Er ging an beflissenen Pagen vorbei durch die überfüllte Halle zum Fahrstuhl, als er durch die Glastür, die zum Gästesalon führte, einen eleganten Herrn bemerkte, der bequem in einem Klubsessel saß und bedächtig seine Zigarre rauchte.

Larry grinste und zögerte einen Augenblick. Diesen Mann mit den scharfen Gesichtszügen, der so elegant angezogen war, an dessen Fingern und Krawatte Brillanten blitzten, kannte er doch. In einer Anwandlung mutwilliger Bosheit stieß er die Glastür auf.

»Seh' ich richtig - mein alter Freund Fred?«

Flimmer-Fred, internationaler Hochstapler und Falschspieler, schoß auf, erschrocken starrte er auf Larry.

»Hallo, Mr. Holt!« stammelte er. »Sie sind wirklich der letzte, den hier zu treffen ich erwartet . . .«

»Oder besser - den zu treffen Sie gewünscht hätten, nicht wahr?« unterbrach Larry. »Was für ein Glanz! Donnerwetter, Fred, Sie sind ja herausgeputzt wie ein Weihnachtsbaum!«

Flimmer-Fred feixte unbehaglich, gab sich aber große Mühe, vollkommene Gleichgültigkeit zu zeigen.

»Das alte Leben ist jetzt abgetan für mich, Mr. Holt«, erklärte er.

»Fred, Fred!« Bewundernd betrachtete Larry Freds Äußeres, die große Brillantnadel in seiner Krawatte, die goldene Kette auf der Weste, die Wildlederschuhe, das tadellos gebürstete Haar. »Was für eine neue Sache haben Sie jetzt vor? Ich nehme natürlich nicht an, daß Sie es mir erzählen, aber ich zweifle nicht, daß es ziemlich aussichtsreich ist.«

»Ich bin jetzt in einem Geschäft.« Der Mann fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.

»In wessen Geschäft denn?« fragte Larry interessiert. »Und wie sind Sie da hineingekommen? Mit dem Brecheisen - oder mit einer Dynamitpatrone? Das wäre ja ein ganz neuer Beruf für Sie, Fred! Bis jetzt haben Sie sich doch darauf beschränkt, Unerfahrenen das Geld abzuknöpfen und -«, er machte eine bedeutungsvolle Pause, »die Taschen von gerade Gestorbenen zu plündern.«

Freds Gesicht rötete sich.

»Sie glauben doch nicht, daß ich irgend etwas mit dem Mord in Montpellier zu tun hatte?«

»Ich nehme nicht an, daß Sie den bedauernswerten jungen Mann erschossen haben«, räumte Larry ein, »aber Sie sind beobachtet worden, wie Sie sich über den Toten beugten und seine Taschen durchsuchten.«

»Ich wollte doch bloß sehen, wer er war«, protestierte Fred.

»Sie sind gleichfalls gesehen worden, wie Sie sich mit dem Täter unterhielten. Eine alte Dame, eine gewisse Madame Prideaux, sah von ihrem Schlafzimmerfenster aus, daß Sie den Mann erst festhielten und dann laufenließen. Ich nehme an, er hat Sie geschmiert.«

Fred antwortete nicht gleich. Es verstimmte ihn, wenn sogenannte feine Herren sich so gewöhnlicher Ausdrücke bedienten.

»Das ist nun schon zwei Jahre her, Mr. Holt«, entgegnete er, »und ich begreife nicht, warum Sie diesen alten Kohl wieder aufwärmen. Der Untersuchungsrichter hat mich doch in jeder Beziehung freigesprochen.«

Larry lachte und klopfte ihm auf die Schulter.

»Schon gut, ich bin jetzt auch gar nicht im Dienst, Fred! Ich gehe auf eine Erholungs- und Vergnügungsreise.«

»Sie fahren also nicht nach London?«

»Nein.« Larry kam es so vor, als ob Flimmer-Fred erleichtert aufatmete. »Fahren Sie vielleicht nach London? Schade, daß ich Ihnen nicht Gesellschaft leisten kann, aber ich reise in entgegengesetzter Richtung. Auf Wiedersehen.«

»Viel Vergnügen!« rief ihm Fred nach.

Larry ging auf sein Zimmer, wo er seinen Diener beim Reinigen und Ordnen der Garderobe antraf. Patrick Sunny, den er nun schon seit zwei Jahren als Diener ertrug, war ein ernsthafter junger Mann mit Glotzaugen und rundem Gesicht.