Es ist der Professor Felix Werner, ein gelehrter Philolog, noch ein junger Herr, aber von wohlverdientem Ruf. Da sitzt er an seinem Arbeitstisch und blickt auf verblichene alte Schrift; ein ansehnlicher Mann; wenn er aufsteht, von guter Mittelgröße, dunkles gelocktes Haar umgibt ihm ein großes Antlitz von kräftiger Bildung, nichts Kleines darin, helle treue Augen unter dunklen Brauen, die Nase leicht gebogen, die Muskeln des Mundes stark entwickelt, wie bei einem beliebten Lehrer der studirenden Jugend natürlich ist. Jetzt gerade fährt ein feines Lächeln darüber und die Wangen sind ihm von der Arbeit oder geheimer Aufregung geröthet. Verschwinde hinter einer Wolke, Mond, die Gesellschaft meines Professors ist mir lieber.

Der Professor sprang von seinem Arbeitstisch auf und durchschritt einige Male eifrig das Zimmer, dann trat er an ein Fenster, welches auf das Nachbarhaus hinsah, stellte zwei große Bücher auf das Fensterbrett, legte ein kleineres darüber und brachte dadurch eine Figur hervor, welche einem griechischen P ähnlich sah und durch den Lichtschein dahinter für die Augen im Nachbarhause sichtbar wurde. Nachdem er dies telegraphische Zeichen gezimmert hatte, eilte er wieder an den Tisch und beugte sich von neuem über sein Buch.

Der Diener trat leise ein, das Abendessen wegzuräumen, welches auf einem Seitentisch zurechtgestellt war. Da er die Speisen unberührt fand, blickte er mißbilligend auf den Professor und blieb lange hinter dem leeren Stuhl stehen. Endlich rückte er sich in militärische Haltung: »Der Herr Professor haben das Abendbrot vergessen.«

»Räumen Sie ab, Gabriel,« befahl der Professor.

Gabriel bewies keinen guten Willen. »Der Herr Professor sollten wenigstens ein Stück kalten Braten zu sich nehmen. Aus Nichts wird Nichts,« fügte er wohlwollend hinzu.

»Es ist nicht in der Ordnung, daß Sie hereinkommen, mich zu stören.«

Gabriel nahm den Teller und trug ihn zum Professor. »Nehmen der Herr Professor wenigstens ein paar Bissen.«

»So geben Sie,« sagte der Professor und aß.

Gabriel benutzte die Pause, in welcher sein Herr widerstandslos bei verständlicher Thätigkeit verweilte, zu einer respectvollen Anmahnung: »Mein seliger Hauptmann hielt sehr auf ein gutes Abendessen.«

»Jetzt aber sind Sie ins Civile übersetzt,« versetzte der Professor lächelnd.

»Es ist aber auch nicht in der Ordnung,« fuhr Gabriel hartnäckig fort, »wenn ich allein den Braten esse, den ich für Sie hole.«

»Ich hoffe, Sie sind jetzt zufrieden,« versetzte der Professor und schob ihm den Teller zurück.

Gabriel zuckte die Achseln. »Es ist zum wenigsten guter Wille. Der Herr Doctor war nicht zu Hause.«

»Ich sehe. Sorgen Sie dafür, daß die Hausthür geöffnet bleibt.«

Gabriel machte Kehrt und entfernte sich mit den Tellern.

Wieder war der Gelehrte allein, das goldene Licht der Lampe fiel auf sein Antlitz und die Bücher, welche um ihn lagen, schneller rauschten die weißen Blätter unter der Hand des Nachschlagenden und in starker Spannung arbeiteten seine Züge.

Da pochte es an die Thür, der erwartete Besuch trat ein.

»Guten Abend, Fritz,« rief der Professor dem Eintretenden entgegen, »setze dich auf meinen Platz und sieh hierher.«

Der Gast, eine zarte Gestalt, mit feinen Zügen und einer Brille vor den Augen, rückte sich gehorsam zurecht und ergriff ein kleines Buch, welches Mittelpunkt eines Kreises von aufgeschlagenen Werken in jedem Alter und Format war. Mit Kennerblicken musterte er zuerst den Deckel: geschwärztes Pergament mit alten Noten und darunter geschriebenem Kirchentext, er warf einen spähenden Blick auf das Innere des Einbands und suchte nach den Pergamentstreifen, durch welche der übelerhaltene Rücken des Buches mit dem Deckel verbunden war. Dann erst sah er auf das erste Blatt des Inhalts, auf die vergilbten Buchstaben des geschriebenen Textes. »Das Leben der heiligen Hildegard – die Hand des Schreibers aus dem fünfzehnten Jahrhundert,« – sprach er, und sah den Freund fragend an.

»Nicht deshalb zeige ich dir das alte Buch.« Sieh weiter. Der Lebensgeschichte folgen Gebete, eine Anzahl Recepte und Wirthschaftsregeln von verschiedenen Händen bis über die Zeit Luthers hinaus. Ich hatte diese Blätter für dich gekauft, du konntest darin vielleicht etwas für deine Sagen oder Volksaberglauben finden. Bei der Durchsicht aber traf ich auf einer der letzten Seiten diese Stelle, und ich muß dir jetzt das Buch noch vorenthalten. Es scheint, daß mehre Generationen eines Mönchsklosters das Buch benutzt haben, um Bemerkungen einzuzeichnen, denn auf diesem Blatt ist ein Verzeichniß von Kirchenschätzen des Klosters Rossau. Es war ein dürftiges Kloster, das Verzeichniß ist nicht groß oder nicht vollständig. Es wurde von einem unwissenden Mönch, soweit man aus seiner Schrift schließen kann, etwa um 1500 gemacht. Sieh, hier Kirchengeräth und wenige geistliche Gewänder, und hier einige theologische Handschriften des Klosters, für uns gleichgültig, darunter aber zuletzt folgender Titel: »Das alt ungehür puoch von ußfart des swigers.«

Der Doctor prüfte neugierig die Worte. »Das klingt wie Ueberschrift eines Rittergedichts. Und was bedeuten die Worte selbst: Ist der Ausfahrende ein Schwieger oder ein Schweigender?«

»Versuchen wir das Räthsel zu lösen,« fuhr der Professor mit glänzenden Augen fort, und wies mit dem Finger auf dasselbe Blatt. »Eine spätere Hand hat in lateinischer Sprache dazugeschrieben: ›Dies Buch ist latein, fast unlesbar, fängt an mit den Worten: lacrimas et signa und endet mit den Worten: Hier schließt der Geschichten – actorum – dreißigstes Buch.‹ Jetzt rathe.«

Der Doctor sah in das erregte Gesicht des Freundes: »Laß mich nicht warten. Die Anfangsworte klingen vielversprechend, aber ein Titel sind sie nicht, es mögen im Anfange Blätter gefehlt haben.«

»So ist es,« versetzte der Professor vergnügt. »Nehmen wir an: ein, zwei Blätter haben gefehlt. Im fünften Kapitel der Annalen des Tacitus stehen die Worte lacrimas et signa hintereinander.«

Der Doctor sprang auf, auch ihm flog ein freudiges Roth über das Antlitz.

»Setze dich,« fuhr der Professor fort, den Freund niederdrückend. »Der alte Titel vor den Annalen des Tacitus lautete wörtlich übersetzt: ›Tacitus vom Ausgange des göttlichen Augustus‹, besser Deutsch: ›Vom Hinscheiden des Augustus ab.‹ Wohlan, ein unwissender Mönch entzifferte auf irgendeinem Blatte die ersten lateinischen Worte der Ueberschrift: ›Taciti ab excessu‹ und versuchte sie ins Deutsche zu übersetzen.