Als die Wettläufer wieder bei der Laube ankamen, reichte Ilse dem Professor seinen Ueberziehrock, den sie unterdeß vom Kleiderrechen des Hausflurs geholt hatte: »Es wird spät, Sie dürfen sich bei uns nicht erkälten.« Und es war gar nicht kalt, er aber zog den Rock auf der Stelle an, knöpfte ihn von oben bis unten zu und schüttelte seinen Mitstreiter Hans vergnügt an den Schultern. Darauf setzten sich alle in der Laube nieder, um abzukühlen. Hier mußte auf die stürmische Forderung der Kleinen unter allgemeinem Chorgesange ein Thaler wandern, und von dem strengen Theil der Familie wurde laut gerügt, daß der Thaler zweimal zwischen Ilse und dem Professor auf die Erde fiel, weil sie einander den geheimen Läufer nicht fest genug in die Hand gegeben hatten. Durch dies Spiel war die Gesangeslust der Jugend erweckt worden, Klein und Groß sang zusammen aus voller Kehle solche Lieder, welche sich als gemeinsames Gut erwiesen: »An der Saale kühlem Strande,« das Mantellied und »die Glocke von Capernaum,« dieses als Canon. Darauf sangen Ilse und Clara, von dem Doctor ersucht, zweistimmig ein Volkslied, sehr einfach und schmucklos, und vielleicht traf eben deshalb die melancholische Weise das Herz, so daß es nach dem Lied still wurde und die fremden Herren gewissermaßen gerührt vor sich hinsahen, bis der Landwirth die Gäste aufforderte, auch etwas zum Besten zu geben. Sogleich stimmte der Professor, aus seiner Bewegung auftauchend, mit wohltönendem Basse an: »Im kühlen Keller sitz' ich hier,« daß die Knaben begeistert die Reste aller Milch austranken und mit den Gläsern auf den Tisch stampften. Wieder äußerte sich die Gesellschaft als Chor, sie unternahmen das liebe alte Fragezeichenlied: »des Deutschen Vaterland,« soweit die Kenntniß der Verse reichte, und zum Schluß versuchte sich Alles zusammen an Lützows verwegener Jagd. Der Doctor hielt als fester Chorsänger die Melodie bei den schwierigen Noten schön zusammen und der Refrain klang wundervoll in der stillen Abendluft, die Töne zogen das Weinlaub der Mauer entlang und über die Gipfel der Obstbäume bis an das Gehölz des nächsten Hügels und kamen von dort als Echo zurück.
Nach diesem Hauptstück trieb Ilse die Kinder zum Aufbruch und geleitete die Unzufriedenen in das Haus, die Männer aber saßen noch lange im Gespräch zusammen, sie hatten miteinander gelacht und gesungen und ihre Herzen waren geöffnet. Der Landwirth erzählte aus seinen früheren Tagen, wie er sich da und dort versucht hatte und endlich hier festgesetzt. Der Kampf um das Leben war auch ihm schwer und langwierig gewesen, er erinnerte sich in dieser Stunde gern daran und sprach darüber in der guten Weise eines thätigen Mannes.
So verlief der zweite Tag auf dem Gute zwischen Sonne und Sternen, zwischen Garben und Herden.
Am nächsten Morgen weckte den Professor ein lauter Gesang der geflügelten Hofgenossen. Der Hahn flog auf einen Stein unter dem Fenster der Gaststube und ließ gebieterisch seinen Morgenruf erschallen, die Hennen und junges Hühnervolk standen im Kreise um ihn her und versuchten dieselbe Gesangskunst zu üben. Dazwischen schrieen die Sperlinge, welche im Weinlaub geschlafen hatten, aus vollem Halse, aber sie drangen nicht durch; dann flogen die Tauben heran und gurrten die Triller. Zuletzt kam noch eine Herde Enten zu dem Sängerbund und begann schnatternd den zweiten Chor. Der Professor sah sich genöthigt, das Lager zu räumen, und der Doctor rief unwillig im Bett: »Das kommt von dem gestrigen Singsang. Jetzt lärmt der Brotneid aller zünftigen Hofmusikanten.« Darin aber war er im Irrthum, das kleine Volk des Hofes sang nur aus Amtseifer, es meldete zuerst dem Gute, daß ein unruhiger Tag bevorstehe.
Als der Professor in das Freie trat, glühte noch die Morgenröthe mit feurigem Schein am Himmels, und der erste Lichtstrahl fuhr über die Felder, gebrochen und zitternd wie in Wellen. Der Grund war trocken, an Blatt und Rasen hing kein Thautropfen. Auch die Luft war schwül, und matt nickten die Blumenköpfe an den Stielen. Hatte in der Nacht eine zweite Sonne geschienen? Vom Gipfel eines alten Kirschbaumes aber klang unaufhörlich das helle Pfeifen der Golddrossel. Der alte Gartenarbeiter Jacob sah kopfschüttelnd nach dem Baume: »Ich dachte, der Spitzbub wäre fortgezogen, er hat unter den Kirschen arg gewirthschaftet, jetzt gibt er vor seiner Reise noch eine Nachricht, heut kommt etwas.«
Schnell rollten die Wagen auf das Erntefeld, die Pferde waren unruhig, schüttelten die Köpfe und schlugen mit dem Schweife die Flanken, und die Knechte klatschten ohne Aufhören mit der Peitsche. »Heut stechen die Fliegen,« sagte im Vorbeifahren grüßend der Großknecht, »es kommt ein Wetter.« Der Landwirth trat aus dem Hause, statt des Morgengrußes rief er dem Professor zu: »Das Wetterglas ist gefallen, es ist etwas im Anzuge.« Ilse kam von der Molkerei: »Die Kühe sind unruhig, sie brüllen und arbeiten gegen einander.«
Roth hob sich die Sonne aus trockenem Qualm, die Arbeiter im Felde fühlten die Mattigkeit in den Gliedern und hielten immer wiederbei der Arbeit an, das Antlitz zu trocknen. Der Schäfer war heut mit der Herde unzufrieden, seine Hammel waren auf Kraftübungen versessen; statt zu fressen stießen sie mit den Köpfen zusammen und das Jungvieh hüpfte und tänzelte wie an Drähten in die Höhe gezogen. Unordnung und Widersetzlichkeit waren nicht zu bändigen, der Hund umkreiste die Aufgeregten unaufhörlich mit hängendem Schwanze, und wenn er heut ein Schaf in das Bein zwickte, so merkte es lange den Schaden.
Höher stieg der Sonnenball am wolkenlosen Himmel, heißer wurde der Tag, ein leichter Dunst hob sich vom Boden und machte die Ferne undeutlich, die Sperlinge flogen unruhig um die Baumgipfel, die Schwalben fuhren längs dem Boden und zogen ihre Kreise um die Menschen. Die Freunde suchten ihr Zimmer auf, auch hier empfand man die ermattende Schwüle, der Doctor, welcher einen Plan des Hauses entwarf, legte den Bleistift hin, der Professor las von Ackerbau und Viehzucht, aber er sah oft über sein Buch nach dem Himmel, öffnete das Fenster und schloß es wieder. Das Mittagsmahl war stiller als sonst, der Landwirth sah ernst drein, seine Beamten nahmen sich kaum Zeit, ihre Teller zu leeren. »Es kommt heut ungelegen,« sagte der Hausherr beim Aufstehen zu der Tochter, »ich reite an die Grenze; bin ich nicht vor dem Wetter zurück, so sieh nach Haus und Hof.« Und wieder zogen die Menschen und Rosse auf das Feld, aber heut war ihnen der Weg zur Arbeit sauer.
Die Hitze wurde unerträglich, die Nachmittagssonne brannte auf die Haut, Fels und Mauer fühlten sich heiß an, den Himmel überzog ein weißes Gewölk, das sich zusehends verdichtete und zusammenfuhr. Eifrig trieb der Knecht die Pferde zur Scheuer, die Arbeiter hasteten die Garben abzuladen, im schnellen Trabe fuhren die Wagen, noch eine Ladung unter das schützende Dach zu retten.
Die Freunde standen vor der Hofthür und blickten auf die schweren Wolken, welche vom Himmelsrande heraufzogen. Das gelbe Sonnenlicht kämpfte kurze Zeit gegen die dunkeln Schatten der Höhe, endlich verschwand auch der letzte grelle Schein, glanzlos und trauernd lag die Erde. Ilse trat zu ihnen: »Seine Zeit ist gekommen, gegen vier Uhr steigt es herauf, selten zieht es aus dem Morgen über das ebene Land, dann aber wird es jedesmal schwer für uns, denn die Leute sagen, es kann nicht über die Berghöhe, auf die Sie vom Garten aus sehen. Dann hängt es lange über unserm Felde. Und der Donner, sagt man, rollt bei uns stärker als anderswo.«
Die ersten Stöße des Windes fuhren heulend an das Haus.
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