Denn Rollmaus war zwar mit der Geige nicht zufrieden, weil er meinte, diese sei ein Anzeichen von leichtem Geblüt, aber die Leutchen halten sich ordentlich. Dann zuerst war ich Pathe, dann Rollmaus. Es sind aber keine Erscheinungen mehr vorgekommen.«

»Das war von Ihnen brav und liebevoll gehandelt,« rief der Professor kräftig.

»Man ist ja bei alledem auch Mensch,« entschuldigte sich die Frau Oberamtmann.

»Und ich hoffe, ein guter Mensch,« versetzte der Professor. »Glauben Sie mir, verehrte Frau, in der Philosophie und anderer Gelehrsamkeit gibt es verschiedene Ansichten. Man streitet sich über Vieles, und leicht hält Einer den Andern für unwissend. Aber was Redlichkeit heißt und Menschenfreundlichkeit, darüber sind die Ansichten selten verschieden gewesen, und wo man diese Eigenschaften findet, hat Jedermann Freude und Hochachtung, und diese habe ich jetzt vor Ihnen, Frau Oberamtmann.«

Das sagte er herzlich der gelehrten Frau. An seiner andern Seite hörte er ein leises Rauschen des Gewandes, und als er sich zu Ilse wandte, begegnete er einem Blick so voll von demüthiger Dankbarkeit, daß er mit Mühe seine Haltung bewahrte.

Die Frau Oberamtmann aber saß lächelnd und zufrieden mit dem philosophischen System ihres Nachbars. Wieder kehrte sich der Professor zu ihr und sprach mit ihr davon, daß es gar nicht leicht sei, Hilflosen auf die rechte Art wohlzuthun. Die Frau Oberamtmann gab zu, daß die Leute ohne Bildung ihre eigene Art hätten, aber »man kann leicht mit ihnen fertig werden, wenn sie nur erkennen, daß man's gut meint.« Und der Professor veranlaßte allerdings noch ein kleines Mißverständniß, als er der Oberamtmann achtungsvoll in seiner Sprache bemerkte: »Ganz recht, zuletzt ist auch auf diesem Gebiet geduldige Liebe die Voraussetzung einer fruchtbaren Thätigkeit.«

»Ja,« bestätigte die Rollmaus verlegen, »allerdings; diese gewisse Thätigkeit, welche Sie erwähnen, fehlt bei uns gar nicht, und sie heiraten meist gerade noch zur rechten Zeit, aber die geduldige Liebe, welche Sie sehr richtig Voraussetzung nennen, ist bei unsern Landleuten nicht immer vorhanden, denn sie sorgen bei einer Heirat oft mehr um Geld als um Liebe.«

Wenn aber auch einzelne Noten in dem Concert am obern Tisch nicht recht zueinander stimmten, so verging doch der Truthahn und die Sahnmehlspeise – ein Meisterwerk aus Ilse's Küche – ohne widerwärtigen Zusammenstoß des gelehrten Wissens. Und Alle erhoben sich wohl miteinander zufrieden. Nur die Kinder, deren unschuldige Bosheit am dauerhaftesten ist, empfanden ein Mißfallen, daß heut Frau Oberamtmann in keinen Kampf eintrat, in welchem das Conversationslexikon als oberster Kampfrichter waltete. Während nun die Männer im Nebenzimmer Kaffe tranken, saß Frau Rollmaus wieder auf dem guten Sopha, und Ilse hatte einen harten Stand die neugierigen Fragen zu beantworten, mit denen sie jetzt wegen der beiden Fremden angegriffen wurde. Unterdeß belagerten die Kinder das Sopha und lauerten auf eine Gelegenheit, um selbst einen kleinen Feldzug gegen die ahnungslose Frau Oberamtmann zu unternehmen.

»Also sie forschen nach, und in unserer Gegend. Nach Indianern kann es nicht sein, ich wüßte nicht, daß hierherum welche aufgetreten wären. Es müßte denn ein Irrthum sein, und sie müßten Zigeuner meinen, solche kommen vor. Denken Sie, liebe Ilse, erst vor vierzehn Tagen ein Mann und zwei Weiber, jede mit einem Kinde. Die Weiber sagten wahr; was sie dem Hausmädchen prophezeit haben, ist wirklich merkwürdig, und am Abend fehlten zwei Hühner. Sollte es wegen der Zigeuner sein? aber das kann ich nicht glauben, da dies bloß Kesselflicker sind und nichtsnutzige Leute. Nein, deretwegen forschen sie nicht.«

»Wer sind denn aber die Zigeuner?« frug Clara.

»Liebes Kind, sie sind Vagabonden, welche früher ein Volk waren und sich verbreiteten. Sie hatten einen König und Briefe und Jagdhunde, obgleich sie große Spitzbuben waren. Ursprünglich aber sind sie Egypter, eigentlich aber auch Indianer.«

»Wie können sie Indianer sein,« rief Hans ohne alle Ehrerbietung, »die Indianer wohnen ja in Amerika. Wir haben auch ein Conversationslexikon, und wir wollen gleich nachsehen.«

»Ja, ja,« riefen die Kinder und liefen mit dem Bruder zum Bücherschrank. Triumphirend brachte jedes einen Band getragen und stellte die neuen Einbände zwischen den Kaffetassen vor Frau Rollmaus auf. Diese blickte keineswegs erfreut auf die geheime Quelle ihrer Kraft, welche hier vor Aller Augen bloßgelegt wurde.

»Und unseres ist neuer als das Ihre,« rief der kleine Franz, die Hand schwenkend. Vergebens bemühte sich Ilse durch abweisende Winke diesen Ausbruch des Familienstolzes zu unterdrücken. Hans hielt, das Wort Zigeuner suchend, den letzten Band fest in seinen Händen und eine Niederlage der Frau Oberamtmann war nach menschlichem Dafürhalten nicht mehr abzuwehren. Aber plötzlich sprang Hans auf, hielt den Band in die Höhe und rief: »Hier steht der Herr Professor!« – »Unser Herr Professor steht im Conversationslexikon!« schrieen die Kinder. Familienfehde und Zigeuner waren vergessen, Ilse nahm dem Bruder das Buch aus der Hand, die Oberamtmann stand auf, um die merkwürdige Stelle über Ilse's Schultern selbst zu lesen, alle Kinderköpfe drängten sich um das Buch, daß sie wieder aussahen wie ein Bündel Knospen am Fruchtbaum, und alle spähten neugierig nach den Zeilen, die für ihren Gast und sie selbst so ruhmvoll waren. In dem Artikel standen die gewöhnlichen kurzen Notizen, welche über lebende Gelehrte gegeben werden, Ort und Tag seiner Geburt und die – meist lateinischen – Titel seiner Schriften. Alle diese Titel wurden trotz der unleserlichen Sprache mit Jahreszahl und Format laut abgelesen.