Unten löste Ilse leise ihre Hand aus der seinen, er ließ sie los ohne Wort und Druck, aber die wenigen Minuten umfaßten für beide eine Welt von seligen Gefühlen. »Komm herab, Franz,« bat Ilse, und nahm den schlafenden Bruder vom Arm ihres Freundes. Sie beugte sich zu dem Kleinen nieder und sprach ihm Muth ein, und weiter ging es zu der Gesellschaft, welche am Bach die Zurückgebliebenen erwartete.

Der Wagen des Oberamtmanns fuhr vor. Wortreich waren die Abschiedsgrüße der Frau Oberamtmann; auch der Starrsinn des Gatten war durch die Vorstellungen seiner Frau gemildert, und als er die Mütze in der Hand hielt, bequemte er sich mit erträglichem Anstande zum Biß in den erwähnten sauren Apfel. Er trat auf die Schreiberleute aus der Stadt zu und ersuchte sie, auch ihm das Vergnügen ihres Besuches zu schenken, und als er die freundlichen Worte sprach, übte die Einladung selbst auf sein ehrliches Gemüth eine weitere besänftigende Wirkung, er streckte auch noch die Hand aus, und als diese ihm kräftig geschüttelt wurde, näherte er sich der Ansicht, daß die Fremden im Grunde auch nicht so übel wären. Der Gutsherr begleitete die Gäste zu dem Wagen, Hans reichte die Schachtel hinein, und beide Landwirthe beobachteten unter dem letzten Gutnachtruf noch mit Kennerblicken, wie die Braunen anzogen.

 

7.

Neue Feindseligkeit.

 

Während zwischen dem Professor und dem Doctor eine helle Frauengestalt aufstieg, wollte das Schicksal, daß zwischen denbeiden Nachbarhäusern eine neue Fehde entbrannte. Und das ging so zu.

Herr Hahn hatte die Abwesenheit seines Sohnes zu einer Verschönerung des Grundstücks benutzt. Sein Garten lief nach dem Parke spitz zu, und er hatte viel darüber nachgedacht, wie diese Spitze zu einer guten Wirkung verwerthet werden könnte. Denn die kleine Erhöhung, die er dort aufgeworfen und mit Rosen besetzt hatte, erwies sich als ungenügend. Er beschloß also, ein hübsches wasserdichtes Sommerhaus für solche Besucher des Gartens zu zimmern, welche nicht geneigt waren, bei schlechtem Wetter nach der nahen Wohnstube zurückzugehen. Alles war schon vor der Abreise des Sohnes weislich überlegt, den Tag darauf ließ er einen schlanken Holzbau errichten, mit kleinen Fenstern nach der Straße, oben statt des Daches eine Plattform mit lustigen Bänken, deren Latten über die Holzwände und den Gartenzaun kühn in die Luft der Straße vorsprangen. Die Sache sah gut aus. Als aber Herr Hahn herzlich vergnügt seine Gattin eine kleine Seitentreppe auf die Plattform hinaufführte und die wohlgerundete Frau Hahn, nichts Arges ahnend, auf der Luftbank niedersaß und von dort oben verwundert auf die Welt herunterblickte, da ergab sich, daß die Spaziergänger gerade unter ihr wegschritten, und wer längs dem Zaun ging, sah den Himmel über sich verdunkelt durch das Gefieder des großen Vogels, der auf seinem hohen Sitz der Straßenwelt den Rücken kehrte. Da klangen schon in der ersten Viertelstunde so spitze Reden herauf, daß die arglose Frau Hahn dem Weinen nahe war und ihrem Hausherrn mit ungewohnter Energie erklärte, sie werde sich nie wieder als Henne behandeln lassen und die Plattform nicht wieder besteigen. Die Familienstimmung wurde dadurch nicht besser, daß Herr Hummel während dieser Ausstellung der Frau Hahn am Zaune des Nachbargartens gestanden und über die nichtswürdigen Redensarten des Volkes recht höhnisch gelacht hatte.

Hahn aber, nach kurzem Kampfe zwischen Stolz und Rücksicht, gab der besseren Stimme seines Innern Gehör, entfernte die Bänke und die Plattform und errichtete über dem Sommerhause ein schönes chinesisches Dach. An die Vorsprünge des Daches aber hing er kleine Glocken. Wenn sich der Wind erhob, tönten die Glocken leise. Dieser Einfall wäre eine entschiedene Verbesserung gewesen. Aber die Schlechtigkeit der Menschen gönnte dem Kunstwerk keine Ruhe. Denn die Straßenjungen machten sich ein Vergnügen daraus, einzelne Glocken durch lange Gerten in Bewegung zu erhalten. Und in einer der nächsten Nächte wurde die Nachbarschaft sogar durch ein vielstimmiges Glockenconcert aus dem Schlummer geweckt.

Herrn Hahn däuchte im Schlafe, daß der Winter gekommen sei und eine lustige Gesellschaft Schlitten fahrend sein Haus umkreise; er horchte auf und erkannte mit Entrüstung die aufgeregte Thätigkeit seiner Glocken. Im Nachtkleide eilte er in den Garten und rief zornig in die Luft hinaus: »Wer ist hier?« Augenblicklich verstummte das Geläut, ringsum tiefes Schweigen, friedliche Stille. Er stieg zum Gartenhaus hinauf und sah die unsichern Umrisse seiner Glocken, welche noch unter dem Nachthimmel schwangen, aber rundumher war Niemand zu entdecken. Er ging nach seinem Bett zurück, aber kaum hatte er sich zurechtgelegt, so fing der Lärm wieder an, hastig und rufend, als sollte eine Weihnachtsbescherung eingeläutet werden. Und es wurde auch eine eingeläutet, aber keine fröhliche. Wieder stürmte er ins Freie und wieder schwieg der Lärm, aber als er sich über das Gitter erhob und umherspähte, sah er im Garten gegenüber die breite Gestalt des Herrn Hummel am Zaun stehen und hörte eine dröhnende Stimme rufen: »Was sind das für verrückte Phantastereien?«

»Es ist unerklärlich, Herr Hummel,« rief Herr Hahn begütigend über die Straße hinüber.

»Unerklärlich ist nichts,« rief Herr Hummel, »als der Unfug, Glocken auf offner Straße in die freie Luft zu hängen.«

»Ich verbitte mir Ihre Ausfälle,« rief Herr Hahn tief verletzt, »ich habe das Recht, auf meinem Grundstück aufzuhängen, was ich will.«

Und nun begann ein Kampf der Ansichten über die Straße, schrecklich und kläglich zugleich. Dort Hummels Baß, hier Hahns scharfe Stimme, welche in hohe Tenorlagen hinüberhüpfte; beide Nachtgestalten in langen Schlafröcken, getrennt durch Straße und Verschanzungen, aber wie zwei antike Helden mit starken Worten gegeneinander fechtend. Wenn man auch nicht den wilden Anstrich erkennen konnte, den Herr Hahn durch die rothe Farbe seines Schlafrocks erhielt, so ragte er doch auf der Höhe neben seinem chinesischen Tempel und seine Arme hoben sich imponirend von dem dämmerigen Horizonte ab, Herr Hummel aber stand im Finstern, überschattet von wildem Wein. »Ich werde Sie bei der Polizei belangen, weil Sie die bürgerliche Ruhe stören,« rief Herr Hummel zuletzt und fühlte in seinem Rücken die kleine Hand seiner Frau, die ihn beim Schlafrock faßte und ihn umdrehte und leise beschwor, keine Scene zu geben.

»Und ich werde vor Gericht fragen, wer Ihnen das Recht gibt, Ihre Injurien über die Straße zu werfen,« rief Herr Hahn ebenfalls auf dem Rückzuge, denn unter dem Getöse des Kampfes hatte er häufig die leisen Worte gehört: »Komm zurück, Hahn,« und seine Frau händeringend hinter sich gesehen. Er war aber nicht in der Stimmung, das Schlachtfeld zu verlassen.