Wenn die Windsbraut dahinfährt und den Schnee mannshoch in die Thäler weht, wir sitzen im Warmen.«

»Uns in der Stadt aber vergeht der Winter, fast ohne daß wir ihn merken. Nur die kurzen Tage, die weißen Dächer erinnern daran, unsere Arbeit aber verläuft unabhängig vom Wechsel der Jahreszeiten. Und doch hat mich der Blätterfall seit meiner Kindheit betrübt, und im Frühjahr habe ich immer Lust, die Bücher bei Seite zu werfen und durch das Land zu laufen, wie ein Handwerksgesell.«

Sie standen an einem Garbenhaufen. Ilse bog einige Aehrenbündel zum Sitz zurecht und sah über die Felder nach den fernen Bergen.

»So ist's mit uns gerade umgekehrt und anders, als man denken sollte,« begann sie nach einer Weile, »wir sind hier wie die Vögel, die Jahr aus, Jahr ein lustig mit den Flügeln schlagen, Sie aber denken und sorgen um andere Zeiten und andere Menschen, die lange vor uns waren; Ihnen ist das Fremde so vertraut, wie uns der Aufgang der Sonne und die Sternbilder. Und wie Ihnen wehmüthig ist, daß der Sommer endet, ebenso wird es mir schmerzlich, wenn ich einmal von vergangener Zeit höre und lese, und am traurigsten machen mich die Geschichtsbücher. So viel Unglück auf Erden, und gerade die Guten nehmen so oft ein Ende mit Leid. Ich werde dann vermessen und frage, warum hat der liebe Gott das so gewollt? Und es ist wohl recht thöricht, wenn ich das sage, ich lese deshalb nicht gern in der Geschichte.«

»Diese Stimmung begreife ich,« erwiederte der Professor. »Denn wo die Menschen ihren Willen durchzusetzen streben gegen ihr Volk und gegen ihre Zeit, werden sie am Ende fast immer als die Schwächeren widerlegt; auch was der Stärkste etwa siegreich durchsetzt, hat keinen ewigen Bestand. Und wie die Menschen und ihre Werke, vergehen auch die Völker. Aber wir sollen nicht an die Schicksale eines einzelnen Mannes oder Volkes unser Herz hängen, sondern wir sollen verstehen, wodurch sie groß wurden und untergingen, und welches der bleibende Gewinn war, welcher dem Menschengeschlecht durch ihr Leben erhalten wurde. Dann wird der Bericht über ihre Schicksale nur wie eine Hülle, hinter welcher wir die Thätigkeit anderer lebendiger Kräfte erkennen. Denn wir errathen, daß in den Menschen, welche zerbrechen, und in den Völkern, welche zerrinnen, noch ein höheres geheimes Leben waltet, welches nach ewigen Gesetzen schaffend und zerstörend dauert. Und einige Gesetze dieses höhern Lebens zu erkennen und den Segen zu empfinden, welchen dies Schaffen und Zerstören in unser Dasein gebracht hat, das ist Aufgabe und Stolz des Geschichtsforschers. Von diesem Standpunkt verwandelt sich Auflösung und Verderben in neues Leben. Und wer sich gewöhnt, die Vergangenheit so zu betrachten, dem vermehrt sie die Sicherheit, und sie erhebt ihm das Herz.«

Ilse schüttelte das Haupt und sah vor sich nieder. »Der römische Mann, dessen verlorenes Buch Sie zu uns geführt hat, und von dem heut wieder die Rede war, ist er Ihnen deshalb lieb, weil er die Welt ebenso freudig angesehen hat wie Sie?«

»Nein,« versetzte der Professor, »gerade das Gegentheil macht uns seine Arbeit beweglich. Sein ernster Geist wurde niemals durch fröhliche Zuversicht gehoben. Das Schicksal seines Volkes, die Zukunft der Menschen liegt ihm als ein unheimliches Räthsel schwer auf der Seele, in der Vergangenheit erblickt er eine bessere Zeit, freieres Regieren, stärkere Charaktere, reinere Sitten, er erkennt an seinem Volke und im Staat einen Verfall, der selbst durch gute Regenten nicht mehr aufzuhalten ist. Es ist ergreifend, wie der besonnene Mann zweifelt, ob dies furchtbare Schicksal von Millionen eine Strafe der Gottheit ist, oder die Folge davon, daß kein Gott sich um das Loos der Sterblichen kümmert. Ahnungsvoll und ironisch betrachtet er die Geschicke der Einzelnen, die beste Weisheit ist ihm, das Unvermeidliche schweigend und duldend ertragen. Daß er in eine trostlose Oede starrt, erkennt man auch dann, wenn ihm einmal ein kurzes Lächeln die Lippen bewegt; man meint zu sehen, daß um sein Auge doch die Furcht hängt und der starre Ausdruck, welcher dem Menschen bleibt, den einmal tötliches Grauen geschüttelt.«

»Das ist traurig,« rief Ilse.

»Ja, es ist fürchterlich. Und wir begreifen schwer, wie man bei solcher Trostlosigkeit das Leben ertrug. Die Freude, unter einem Volke mit aufsteigender Kraft zu leben, hatte damals nicht der Heide, nicht der Christ. Denn das ist doch das höchste und unzerstörbare Glück des Menschen, wenn er vertrauend auf das Werdende, mit Hoffnung auf das Zukünftige blicken kann. Und so leben wir. Viel Schwaches, viel Verdorbenes und Absterbendes umgibt uns, aber dazwischen wächst eine unendliche Fülle von junger Kraft herauf. Wurzeln und Stamm unseres Volkslebens sind gesund. Innigkeit in der Familie, Ehrfurcht vor Sitte und Recht, harte, aber tüchtige Arbeit, kräftige Rührigkeit auf jedem Gebiet. In vielen Tausenden das Bewußtsein, daß sie ihre Volkskraft steigern, in Millionen, die noch zurückgeblieben sind, die Empfindung, daß auch sie zu ringen haben nach unserer Bildung. Das ist uns Modernen Freude und Ehre, das hilft wacker und stolz machen.