Er hatte wohl Ursache dazu, denn wie schmerzlich er den Zwang fühlte, der ihm im Verkehr mit Ilse aufgelegt war, so dünkte ihm doch unerträglich, ihren Anblick ganz zu missen und in seiner Stube allein bei dem Wassernapf zu sitzen. Daß er aber den guten Rath verwarf, schmerzte Ilse noch mehr, denn sie fürchtete die Folgen und es that ihr wieder weh, daß er auf ihre Wünsche nichts gab. Als sie vollends erfuhr, daß er heimlich zum Chirurgus nach Rossau geschickt hatte, da kamen dem Mädchen die Thränen in die Augen über das, was sie für Nichtachtung hielt. Denn sie kannte die verkehrten Mittel des Trunkenbolds, und sie wußte jetzt genau, daß es ein Unglück geben würde. Sie kämpfte mit sich bis zum Abend, endlich besiegte die Sorge um den Geliebten alle Bedenken, und als er neben den Kindern in der Laube saß, trat sie vor ihn und bat in ihrer Herzensangst leise mit niedergeschlagenen Augen: »Der fremde Mann macht Ihnen die Schmerzen größer, bitte, lassen Sie mich die Wunde sehen.« Und der Professor, erschrocken über diese Aussicht, welche seine ganze, mühsam erkämpfte Selbstbeherrschung zu vernichten drohte, erwiederte, wie Ilse hörte, mit rauher Stimme – er war aber in Wahrheit nur durch innere Bewegung ein wenig heiser –: »Ich danke, das kann ich gar nicht annehmen.« Da ergriff Ilse die beiden jüngsten Geschwister, welche in den Händen der Zigeuner gewesen waren, stellte sie vor ihn hin und rief heftig: »Bittet ihr, wenn er auf mich nicht hört.« Dem Professor war dieser kleine Auftritt so beweglich und Ilse sah in ihrer Aufregung so unwiderstehlich schön aus, daß ihn die Rührung übermannte und daß er, um gegen den Vater ehrlich zu bleiben, aufstand und schnell aus dem Garten ging.
Ilse preßte die Hände krampfhaft zusammen und sah starr vor sich hin. Alles war ein Traum gewesen. Täuschung war's und thörichte Einbildung, daß sie in seliger Stunde gehofft hatte, er liebe sie. Sie hatte ihm ihr Herz offenbart, und ihr heißes Gefühl war für ihn nichts als dreiste Zudringlichkeit einer Fremden. Sie war ihm ein ungeschicktes Weib vom Lande, dem das städtische Zartgefühl fehlte, und die sich thöricht etwas in den Kopf gesetzt, weil er einige Male gütig zu ihr gesprochen. Sie stürzte in ihr Zimmer, dort sank sie vor ihrem Lager nieder und ein krampfhaftes Schluchzen erschütterte ihre Glieder.
Sie war den ganzen Abend nicht mehr sichtbar, am nächsten Tag trat sie dem Geliebten stolz und kalt gegenüber, sie sprach nur das Nöthigste und rang in der Stille mit Thränen und unendlichem Jammer.
Alles war hochsinnig für eine feine und zarte Brautwerbung zurechtgelegt, aber wenn zwei Menschen einander lieb haben, sollen sie das einer dem andern auch frisch und einfältig sagen, ohne Disposition und, beim Styx, auch ohne Zartgefühl.
Der Landwirth war abgereist. Ein Geldgeschäft, das er auf dem Wege erledigen konnte, gab den Vorwand. Schon den Tag darauf fiel seine gewaltige Gestalt und das sorgenvolle Antlitz in den Straßen der Universitätsstadt auf. Gabriel war sehr verwundert, als ein riesiger Mann, höher als sein alter Freund, der Wachtmeister bei den Kürassieren, an der Thür schellte und einen Brief des Herrn überbrachte, worin Gabriel aufgefordert wurde, sich und das Quartier dem Herrn zur Verfügung zu stellen. Der fremde Mann schritt durch die Zimmer, saß am Arbeitstisch des Professors nieder und begann mit Gabriel ein Gespräch in Kreuzfragen, aus denen der Diener nicht klug werden konnte. Auch Herrn Hummel begrüßte der Fremde, dann ließ er sich nach der Universität führen, hielt auf der Straße Studenten an und frug sie aus, verhandelte mit dem Rechtsanwalt, besuchte einen Kaufmann, mit welchem er zuweilen Getreidegeschäfte machte, ließ sich von Gabriel zum Schneider des Professors führen, dort einen Rock zu bestellen, und Gabriel mußte lange vor der Thür stehen, bis der geschwätzige Schneider den Fremden entließ. Auch zu Herrn Hahn ging er, einen Strohhut zu kaufen, und am Abend sah man seine große Gestalt, welche den chinesischen Tempel unbillig beengte, neben Herrn Hahn bei einer Flasche Wein sitzen. Es war ein armer Vater, der sich bei gleichgültigen Leuten ängstlich erkundigte, ob er sein geliebtes Kind in die Arme eines Fremden legen müsse. Ach, was er erfuhr, war alles noch weit günstiger als er erwartet hatte. Auch ihm wurde deutlich, was die Frau Oberamtmann Rollmaus längst wußte, daß es nach der Meinung Anderer kein gewöhnlicher Mann war, den er bei sich aufgenommen hatte.
Als der Heimkehrende am Abende des nächsten Tages zwischen den letzten Häusern von Rossau dahinfuhr, sah er eine Gestalt eilig auf sich zukommen. Es war der Professor, den die ungeduldige Erwartung auf den Weg getrieben hatte und der jetzt mit verstörtem Gesicht an den Wagen eilte. Der Landwirth sprang von seinem Sitze und sagte dem Professor leise: »Bleiben Sie bei uns, der Himmel gebe zu allem weiteren seinen Segen.« Und als die beiden Männer nebeneinander den Fußpfad hinaufstiegen, fuhr der Gutsherr mit einem Anflug von guter Laune fort: »Sie haben mich gezwungen, um Ihre Wohnung zu spioniren, lieber Herr Professor. Ich habe erfahren, daß Sie still weg leben. Sie bezahlen Ihre Rechnungen pünktlich, Ihr Diener spricht mit Ehrerbietung von Ihnen, die Nachbarn denken gut über Sie, in der Stadt sind Sie ein angesehener Mann, alles was Sie sonst über sich gesagt haben, ist bestätigt. Ihr Quartier ist sehr stattlich, die Küche zu klein, die Vorrathskammer enger als bei uns ein Schrank. Durch die Fenster ist wenigstens Aussicht ins Grüne.«
Sonst wurde kein Wort über den Zweck der Reise gesprochen, aber hoffnungsvoll vernahm der Professor, was der Landwirt von anderen Beobachtungen erzählte, wie reichlich die Bürger lebten, wie glänzend die Läden ausgestattet waren, dann von den hohen Häusern des Marktes, dem Gedränge auf den Straßen und von den Tauben, welche nach altem Herkommen vom Rath gehalten werden und dreist wie Stadtbeamte zwischen Wagen und Menschen umherlaufen.
Es war früher Morgen auf dem Gute, wieder sandte die Sonne ihre ersten Strahlen heiß auf die Erde. Nach einer schlummerlosen Nacht eilte Ilse durch den Garten zu dem kleinen Badehause, das der Vater zwischen Rohr und Gebüsch angelegt hatte. Dort tauchte sie die weißen Glieder in das Wasser, hüllte sich schnell wieder in ihr Gewand und stieg, die Strahlen der Sonne suchend, den Weg hinauf, welcher unweit der Grotte nach der Höhe führte. Da sie wußte, daß unter den Steinen der Höhle noch die kühle Nachtluft lag, stieg sie höher hinauf, wo die Berglehne steil nach der Grotte und dem Thal abfiel. Dort oben auf dem Abhange setzte sie sich zwischen den ersten Büschen nieder, um fern von jedem Menschenauge im Sonnenstrahl die Haare zu trocknen und ihren Anzug zu ordnen.
Sie sah hinüber nach dem Vaterhause, wo auf dem Freunde wohl noch der Morgenschlummer lag, und sah vor sich herunter auf die Steindecke der Grotte und auf den großen Federbusch von Weidenröschen, dem jetzt die weiße Wolle des Samens aus den Schoten quoll. Und sie stützte das Haupt in die Hand und dachte an den letzten Abend, wie wortkarg er wieder gewesen war, und daß der Vater zu ihr gar nicht von seiner Reise sprach.
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