Dann aber drehte er sich ihr rasch wieder zu, zog sie an sich und gab ihr einen Kuß.
„Mutter“, sagte er. „Wahrhaftig, Sie sind nicht meine Schwieger- sondern meine rechte Mutter! Die Zigarren haben mir sehr gut geschmeckt! Nicht?“
„Sie sagten es, und das freute mich sehr.“
„Und dabei hungerten Sie?“
„Sie gingen früh eine halbe Stunde aus, und da wurde stets eine Zigarre geraucht. Ich saß daheim und dachte daran, wie gut sie Ihnen schmecken würde.“
„Ja, ja! Ich tat nur so! Ich habe nicht geraucht.“
„Nicht? Wirklich?“ fragte sie erstaunt.
„Nein, keine einzige. Ich habe sie verkauft, drei Kreuzer das Stück; das macht einundzwanzig Kreuzer. Dafür kaufte ich die Brötchen, von denen ich hier das letzte habe. Wir haben also sieben Kreuzer eingebüßt.“
Trotz dieser letzten Worte lächelten sie einander ganz glücklich an.
„So ist es, wenn man Geheimnisse hat“, sagte die Schwiegermutter. „Man hat allemal Verlust dabei. Aber die Zigarren kosteten achtundzwanzig Kreuzer, ich behielt also zwei übrig, und diese habe ich am Sonntag in die Kasse der Brüder und Schwestern der Seligkeit gegeben.“
„Das Scherflein der Witwe, welches tausendfach vergolten wird, wie Christus sagt. – Wenn es wahr wäre!“
Er trat abermals an das Fenster. Sie folgte ihm, legte ihm die Hand wieder auf den Arm und sagte:
„Werden Sie zu Seidelmann gehen?“
Da gab er ihr die Hand und antwortete:
„Sie sind so opferfreudig, daß ich mich nicht beschämen lassen kann. Es ist ein saurer Gang, aber ich werde ihn doch tun.“
„Wann?“
„Jetzt gleich. Das wird am besten sein.“
„Tun Sie das. Der liebe Gott wird das Herz des reichen Mannes lenken, daß er Ihren Wunsch erhört!“
Wilhelmi griff zur Mütze und ging. Der ältere Seidelmann befand sich in seinem Bureau. Er machte ein erwartungsvolles Gesicht, als er den Musterzeichner eintreten sah.
„Bringen Sie die neuen Muster?“ fragte er.
„Noch nicht. Sie werden erst morgen früh fertig.“
Sofort verfinsterte sich das Gesicht des Kaufmannes.
„So haben Sie wohl eine Frage in bezug auf die Zeichnung?“
„Eine Frage? Ja. Aber in anderer Beziehung.“
„Reden Sie!“
„Heute ist mein ältestes Kind gestorben, Herr Seidelmann –“
„Seien Sie froh! Das ist ein wahres Glück für Sie!“
Es war Wilhelmi, als ob er den Sprecher beohrfeigen müsse; aber er beherrschte sich und sagte:
„Sie haben vielleicht recht. Und doch kommt mir dieser Todesfall höchst ungelegen.“
„Wieso?“
„Weil mit ihm Geldausgaben verknüpft sind, denen ich gerade heute noch nicht gewachsen bin!“
„Ah so!“ dehnte Seidelmann, indem er seine Stirn in sehr bedenkliche Falten zog.
„Die Frau liegt mit den anderen Kindern schwer an den Blattern darnieder; man will leben und braucht teure Medizin. Morgen früh bringe ich die Muster. Heute aber brauche ich auf das nötigste zwei Gulden. Würden Sie mir diese vorschießen, Herr Seidelmann?“
„Nein“, lautete es kurz und scharf.
„Sie sind Ihnen doch sicher!“
„Sie sind mir bereits zwei schuldig.“
„Oh, Sie sind reich. Ihnen ist es ganz gleich, ob Sie mir morgen zwei Gulden oder vier abzuziehen haben!“
„Nein, das ist mir ganz und gar nicht gleich! Da irren Sie sich! Ein Geschäftsmann muß ganz streng nach gewissen Grundsätzen handeln. Weicht er davon ab, so hat er es stets zu bereuen.“
„Ich bin mir nicht bewußt, Ihnen je einmal Grund zur Reue gegeben zu haben.“
„O doch, mein Bester!“
„Wann wäre das gewesen?“
„Jetzt, heute! Sie wissen, daß es mein Grundsatz ist, niemals Gehaltszulage zu geben, und ebensowenig pflege ich Vorschüsse zu leisten. Ich habe mich verleiten lassen, bei Ihnen eine Ausnahme zu machen, und – sehen Sie wohl – sofort tritt die Reue ein! Ich gab Ihnen zwei Gulden, und anstatt mich zu bezahlen, kommen Sie und verlangen einen zweiten Vorschuß. Das ist sehr auffällig, mein Lieber! Wenn ich das einreißen ließe, kämen Sie gar nicht aus den Schulden heraus. Sie sehen ein, daß ich um Ihres eigenen Wohles Ihnen die Bitte abschlagen muß.“
„Aber, Herr Seidelmann! Die Leiche im Haus, die Kranken! Sodann diese Kälte! Ich brauche den kleinen Betrag, bei Gott, zur allerhöchsten Not!“
„Das verfängt bei mir nicht! Ich kenne das! Ihr Leute befindet euch stets in der allergrößten Not, und dabei denkt ihr unausgesetzt, daß wir nur da sind, euch fort und fort aus dieser Not zu befreien. Ich kann euch nur den sehr gut gemeinten Rat geben, eure Einkünfte besser zusammenzuhalten.“
„Zehn Gulden in zwei Wochen! Nennen Sie das Einkünfte?“
„Wie sonst? Fünf Gulden wöchentlich ist für Sie genug!“
Der Musterzeichner mußte seine ganze Selbstbeherrschung zusammennehmen, um scheinbar ruhig zu bleiben. Er trat einen Schritt zurück und fragte:
„Es ist also Ihr unerschütterlicher Entschluß, mir den erbetenen Vorschuß zu verweigern?“
„Ja.“
„Nun wohl, so schreite ich zu einer zweiten Bitte.“
„Noch eine! Sie wird doch nicht etwa mit der ersten Ähnlichkeit haben?“
„Leider doch!“
Und indem er weitersprach, vermochte er nicht, das Zittern seiner Stimme, welches eine Folge seiner gewaltsam unterdrückten Aufregung war, ganz zu verbergen.
„Herr Seidelmann, Sie kennen mich. Es kann mir kein Mensch etwas Unrechtes nachsagen –“
„Bis jetzt noch nicht!“ fiel ihm der Kaufmann in die Rede.
„Ich glaube, daß es auch in Zukunft so bleiben wird. Ich habe stets ein reges Ehrgefühl besessen, und war ich einmal in Not, so ließ ich es keinem Menschen merken. Ich habe noch niemand angebettelt.
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