Aber was kann mir das für später helfen? Ob ich verurteilt werde oder nicht, so komme ich doch nach Hause, wo sie bereits so elend sind. Und dieses Elend wird durch mich nur noch schlimmer. Denke dir, was ich erwarte! O Gott, das Kind – das Kind!“
Und wieder begann sie zum Erbarmen zu schluchzen. Engelchen fühlte das tiefste Mitleid. Sie sagte sich, daß Gustel sich ganz besonders fürchte, ihren armen Eltern zur Last zu fallen, und daß es vielleicht besser sei, ihr die Wahrheit zu sagen. Darum entfuhr es ihr:
„Du brauchst dir wegen zu Hause keine Sorge zu machen!“
„Keine? Das ist ja meine größte Sorge! Was soll werden, wenn auch ich noch komme, und – nicht ich allein!“
„Du wirst den Eltern nicht beschwerlich werden.“
„Nicht? Wieso?“
„Deine Mutter ist – liebe Gustel, du wirst doch nicht darüber erschrecken?“
Da fuhr die Genannte von ihrem Lager empor und sagte:
„Erschrecken? Gott, was meinst du! Was werde ich hören? Was ist geschehen, daß ich darüber erschrecken könnte?“
„Hast du es wirklich noch nicht erfahren?“
„Was denn? Ich weiß nichts, gar nichts. Ich weiß nur, daß der Vater entlassen ist.“
„Wer hat es dir gesagt?“
„Der Aktuar und der Wachtmeister.“
„Und sie haben dir weiter nichts gesagt?“
„Nein.“
„Von deiner Mutter?“
„Nein, kein Wort! Was ist mit ihr? Engelchen, mach schnell! Sage es mir! Herr Jesus! Der Gendarm war bei uns. Ich sollte gestohlen haben! Mutter war so sehr krank. Sie hat gehört, daß man mich und den Vater fortgeschafft hat, und da – da – Engelchen, sag's! Sie ist noch kränker geworden?“
„Ja, liebe Gustel!“
„Nicht nur kränker geworden! Sie ist sogar gestorben, gestorben vor Schreck und Herzeleid?“
Engelchen antwortete auf diese Frage nicht, darum fügte ihre Freundin noch hinzu:
„Gestehe es nur! Sie ist tot! Nicht wahr?“
„Ja“, erklang es leise und zögernd.
Engelchen hatte erwartet, daß ihre Mitgefangene nun in laute Klagen ausbrechen werde; aber das geschah nicht, sie blieb ruhig; sie ließ keinen Laut hören. Es trat eine tiefe Stille ein, welche umso bedrückender und beängstigender wirkte, je länger sie dauerte. So vergingen fünf Minuten, zehn Minuten, ja wohl eine ganze Viertelstunde. Engelchen lauschte angestrengt; aber es war nicht das geringste zu hören. Da wurde es ihr bange und immer banger; sie konnte es nicht mehr aushalten und sagte, leise rufend:
„Gustel!“
Sie erhielt keine Antwort.
„Gustel! Hörst du mich?“
Jetzt war nur ein leises Rascheln des Lagers zu hören.
„Gustel, antworte! Mir wird es sonst ganz bange!“
Da erklang es unter einem Schluchzen, wie Engelchen es in ihrem ganzen Leben noch nicht gehört hatte:
„Tot! Tot! Meine Mutter ist tot!“
„Tröste dich! Sei ruhig! Sie ist gut aufgehoben!“
„Meine Mutter! Meine liebe, gute Mutter!“
„Nicht so, nicht so, liebe Gustel! Weine lieber! Weine dich aus! Das erleichtert das Herz!“
„O du mein Gott! Meine Mutter ist tot! Meinetwegen ist sie gestorben! Was soll ich tun? Wenn ich nur auch gleich sterben könnte! Wäre ich doch weg, weg von der Welt!“
Das arme Mädchen war auf das tiefste erschüttert. Engelchen versuchte alles, die Freundin zu trösten, aber ihre gutgemeinten Worte fanden keine Beachtung. Erst mit der Zeit wurde der erste Eindruck dieser traurigen Botschaft überwunden, und die tiefe Erschütterung löste sich in Tränen auf. Dann fragte die Weinende:
„Wann ist sie denn gestorben?“
„Gleich als sie hörte, daß man euch arretiert und nach der Amtsstadt geschafft habe.“
„Gleich da! Wie entsetzlich! Wer kann sich da beruhigen! Wer kann sich darüber hinwegsetzen!“
„Und doch gibt es auch dabei einen Trost!“
„Welchen? Ich weiß keinen!“
„Daß deine Mutter einen guten Tod gehabt hat.“
„Vor Schreck! Nennst du das gut?“
„Sie ist schnell gestorben; sie hat nicht zu leiden gehabt.“
„Aber sie ist doch gestorben, vor Schreck, vor Entsetzen! Das ist fürchterlich! Das kann ich nimmermehr verwinden! Sie tot, und ich mit dem Vater gefangen! Was ist da mit den armen, kleinen Geschwistern geschehen?“
„Da brauchst du dich nicht zu kränken! Sie sind gut versorgt!“
„Versorgt? Oh, man wird sie in das Armenhaus geschafft haben. Und wie sie es dort haben, wie es dort zugeht, das weiß man ja ganz genau!“
„Es ist wahr, sie sind zunächst nach dem Armenhaus geschafft worden; aber sie sind nur wenige Stunden dort geblieben. Der Herr Pastor hat sie geholt!“
„Der? Gott segne ihn! Er hat sie zu sich genommen?“
„Nein; aber er hat sie zu Hausers getan.“
„Zu Hausers? Da sind sie gut aufgehoben! Hausers sind ja brave Leute. Aber bei ihnen ist die Armut daheim. Sie haben selbst zu schaffen, um zur Not auszukommen. Wie wollen sie jetzt für so viele sorgen können?“
„Auch da ist geholfen. Es ist nämlich ein fremder Herr zu dem Pfarrer – ah, hast du schon von dem Fürsten des Elends gehört?“
„Nein. Wer ist das?“
„Das ist ein sehr geheimnisvoller Mann, der zuerst in der Residenz aufgetreten ist. Wo irgendwer in Not und Sorge gewesen ist, da ist dieser Mann gekommen und hat geholfen. Wo es irgendeinen Jammer, ein Elend gegeben hat, da ist er schnell bei der Hand gewesen. Darum hat man ihn eben den Fürsten des Elends genannt.“
Gustel machte zu diesen Auseinandersetzungen keine Bemerkung; sie hörte nur zu. Darum fuhr Engelchen fort:
„Jetzt nun ist er auch im Gebirge aufgetaucht.“
„Um zu helfen?“
„Ja.“
„Wohl auch bei uns, in unserem Städtchen?“
„Ja. Und zwar seid ihr die ersten gewesen, denen er seine Hilfe gebracht hat.“
„Wir? Meine Geschwister?“
„Ja. Er ist am Sonntag in der Dämmerung zum Pfarrer gekommen und hat sich nach euch erkundigt.“
„Oh, der kann nichts Übles von uns sagen!“
„Nein, und darum ist dieser fremde Herr auch gleich zur Hilfe bereit gewesen.“
„Wie will ich ihm dafür danken, wenn ich wieder frei bin.“
„Das wird dir sehr schwer werden, denn er hüllt sich in das tiefste Geheimnis. Kein Mensch kennt ihn; kein Mensch hat erfahren, wer er eigentlich ist.“
„Oh, ich werde so lange forschen, bis ich es erfahren habe! Was hat er denn für die Geschwister getan?“
„Zunächst hat er eine Summe Geldes zum Begräbnisse deiner Mutter gegeben.“
„Gott sei Dank! Sie ist also nicht in einem Kommunesarg begraben worden?“
„Nein.“
„Das ist wenigstens ein kleiner Trost.
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