Die vierzig Tage des Musa Dagh

Franz Werfel

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Roman

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Dieses Werk wurde im März des Jahres 1929 bei einem Aufenthalt in Damaskus entworfen. Das Jammerbild verstümmelter und verhungerter Flüchtlingskinder, die in einer Teppichfabrik arbeiteten, gab den entscheidenden Anstoß, das unfaßbare Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreich alles Geschehenen zu entreißen. Die Niederschrift des Buches erfolgte in der Zeit vom Juli 1932 bis März 1933. Zwischendurch, im November, gelegentlich einer Vorlesungsreise in verschiedenen deutschen Städten, wählte der Verfasser das fünfte Kapitel des ersten Buches zum Vortrag, und zwar genau in der vorliegenden Form, die sich auf historische Überlieferung des Gespräches zwischen Enver Pascha und Pastor Johannes Lepsius stützt.

 

Breitenstein, Frühjahr 1933F. W.

Erstes Buch Das Nahende

Wie lange noch, o Herr, Du Heiliger und Wahrhaftiger,
richtest Du nicht und rächest unser Blut
an den Bewohnern der Erde?

 

Offenbarung Johannis 6, 10

Erstes Kapitel Teskeré

»Wie komme ich hierher?«

Gabriel Bagradian spricht diese einsamen Worte wirklich vor sich hin, ohne es zu wissen. Sie bringen auch nicht eine Frage zum Ausdruck, sondern etwas Unbestimmtes, ein feierliches Erstaunen, das ihn ganz und gar erfüllt. Es mag in der durchglänzten Frühe des März-Sonntags seinen Grund haben, in dem syrischen Frühling, der von den Hängen des Musa Dagh herab die Herden roter Riesen-Anemonen bis in die ungeordnete Ebene von Antiochia vorwärtstreibt. Überall quillt das holde Blut aus den Weidenflächen und erstickt das zurückhaltende Weiß der großen Narzissen, deren Zeit ebenfalls gekommen ist. Ein unsichtbar goldenes Dröhnen scheint den Berg einzuhüllen. Sind es die ausgeschwärmten Immenvölker aus den Bienenstöcken von Kebussije oder wird in dieser durchsichtigsten und durchhörbarsten Stunde die Brandung des Mittelmeers vernehmlich, die den nackten Rücken des Musa Dagh weit dahinten benagt? Der holprige Weg läuft zwischen verfallenen Mauern aufwärts. Wo sie unvermittelt als unordentliche Steinhaufen enden, verengt er sich zu einem Hirtenpfad. Der Vorberg ist erstiegen. Gabriel Bagradian wendet sich um. Seine große Gestalt in dem Touristenanzug aus flockigem Homespun streckt sich lauschend. Er rückt den Fez ein wenig aus der feuchten Stirn. Seine Augen stehen auseinander. Sie sind etwas heller, aber um nichts kleiner als Armenieraugen im allgemeinen.

Nun sieht Gabriel, woher er kommt: Das Haus leuchtet mit seinen grellen Mauern und dem flachen Dach zwischen den Eukalyptusbäumen des Parks. Auch die Stallungen und das Wirtschaftsgebäude blinken in der sonntäglichen Morgensonne. Obgleich zwischen Bagradian und dem Anwesen schon mehr als eine halbe Wegstunde Entfernung liegt, scheint es immer noch so nahe, als sei es seinem Herrn auf dem Fuße gefolgt. Doch auch die Kirche von Yoghonoluk weiter unten im Tal grüßt ihn deutlich mit ihrer großen Kuppel und dem spitzhütigen Seitentürmchen. Diese massig ernste Kirche und die Villa Bagradian gehören zusammen. Gabriels Großvater, der sagenhafte Stifter und Wohltäter, hat beide vor fünfzig Jahren erbaut. Unter den armenischen Bauern und Handwerkern ist es wohl Sitte, nach den Wanderfahrten des Erwerbs aus der Fremde, ja selbst aus Amerika in die Heimatnester zurückzukehren; die reichgewordenen Großbürger aber halten es anders. Sie setzen ihre Prunkvillen an die Küste von Cannes, in die Gärten von Heliopolis oder zumindest auf die Hänge des Libanon in der Umgebung von Beirût. Von dergleichen Emporkömmlingen unterschied sich der alte Awetis Bagradian beträchtlich. Er, der Begründer jenes bekannten Stambuler Welthauses, das in Paris, London und New York Niederlassungen besaß, residierte, soweit es seine Zeit und seine Geschäfte zuließen, Jahr für Jahr in der Villa oberhalb der Ortschaft Yoghonoluk am Musa Dagh. Doch nicht nur Yoghonoluk, auch die übrigen sechs armenischen Dörfer des Bezirkes von Suedja hatten den reichen Segen seiner königlichen Gegenwart genossen. Wenn man von den Kirchen und Schulbauten, von der Berufung amerikanischer Missionslehrer absieht, so genügt es auf das Geschenk hinzuweisen, das der Bevölkerung trotz aller Ereignisse bis auf den heutigen Tag im Gedächtnis geblieben ist: Jene Schiffsladung von Singer-Nähmaschinen, die Awetis Bagradian nach einem besonders glücklichen Geschäftsjahr an fünfzig bedürftige Familien der Dörfer verteilen ließ.

Gabriel – er wendet den lauschenden Blick noch immer von der Villa nicht ab – hat den Großvater gekannt. Er wurde ja unten in dem Hause geboren und hat so manchen langen Kindheits-Monat dort verbracht. Bis zu seinem zwölften Jahr. Und doch, dieses frühere Leben, das einst das seinige war, berührt ihn unwirklich bis zur Schmerzhaftigkeit.