Gabriel ist über Juliettes Milde glücklich. All diese Gunst jedoch ändert nichts an der Tatsache, daß Frau und Sohn hier, wenn sie allein zurückbleiben, von der Welt abgeschnitten sind.
Die Steineichenschlucht bleibt hinter Bagradian zurück, ohne daß er in dieser Frage zu größerer Klarheit gelangt wäre. Der ausgetretene Pfad läuft nordwärts und verliert sich zwischen Arbutus- und Rhododendrongesträuch auf dem Bergrücken. Dieser Teil des Musa Dagh wird von den Bergbewohnern Damlajik genannt. Gabriel kennt noch all diese Namen. Der Damlajik erreicht keine nennenswerten Höhen. Die beiden südlich gelegenen Kuppen wachsen bis zu achthundert Metern empor. Sie bilden die letzten Erhebungen des Gebirgsstocks, der dann unversehens und ohne rechte Ordnung mit riesigen Steinhalden in die Ebene des Orontes stürzt, wie abgebrochen. Hier im Norden, wo der Spaziergänger soeben seinen Weg sucht, ist der Damlajik niedriger. Er fällt dann in eine Sattelkerbe ab. Dies ist der schmalste Punkt des ganzen Küstengebirges, die Taille des Musa Dagh. Die Hochfläche verengt sich auf wenige hundert Meter und das Felsgewirr der Steilseite dringt weit vor. Gabriel glaubt jeden Stein und jeden Busch zu kennen. Von allen Bildern der Kindheit hat sich dieser Ort am tiefsten in sein Gedächtnis eingestanzt. Es sind dieselben schirmspannenden Pinien, die hier einen Hain aufschlagen. Es ist derselbe kriechende Nadelwuchs, der sich über den steinigen Boden sträubt. Efeu und anderes Schlinggewächs umhalst eine Runde weiser Felsblöcke, die wie riesenhafte Persönlichkeiten eines Natursenats ihre Beratung unterbrechen, sobald der Schritt des Eindringlings erschallt. Eine reisefertige Schwalbennation durchzwitschert die Stille. Erregtes Spiel in dem grünlichen Binnensee der Luft. Wie von dunklen Forellen. Das jähe Entfalten und Einziehn der Flügel gleicht einem Lidschlag.
Gabriel legt sich, die Arme unter dem Kopf verschränkend, auf eine grasige Stelle. Zweimal hat er schon vorher den Musa Dagh erstiegen, um diese Pinien und Felsblöcke zu finden, ist aber immer aus der Richtung geraten. Die gibt es also gar nicht, dachte er schon. Jetzt schließt er müde die Augen. Kehrt der Mensch an einen alten Ort der Betrachtung und des inneren Lebens zurück, so stürzen sich die Geister, die der Heimkehrer dereinst dort zeugte und zurückließ, leidenschaftlich auf ihn. Auch auf Bagradian stürzen sich seine Knabengeister, als hätten sie hier unter Pinien und Felsen dieser reizenden Einöde dreiundzwanzig Jahre seiner treulich gewartet. Es sind sehr kriegerische Geister. Die wilden Phantome jedes Armenierjungen. (Konnten sie anders sein?) Der blutige Sultan Abdul Hamid hat einen Ferman wider die Christen erlassen. Die Hunde des Propheten, Türken, Kurden, Tscherkessen, sammeln sich um die grüne Fahne, um zu sengen, zu plündern und das Armeniervolk zu massakrieren.
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