Ich
nehme mir vor, dieses Versäumnis wiedergutzumachen.
So wiederholt sich denn abermals das Jahresmärchen von vorn.
Wir sind nun wieder, Gott sei Dank!
An seinem artigsten Kapitel.
Veilchen und Maiblumen sind wie überschriften oder Vignetten dazu.
Es macht uns immer einen angenehmen Eindruck, wenn wir sie in dem
Buche des Lebens wieder aufschlagen.
Wir schelten die Armen, besonders die Unmündigen, wenn sie sich an den
Straßen herumlegen und betteln.
Bemerken wir nicht, daß sie gleich tätig sind, sobald es was zu tun
gibt?
Kaum entfaltet die Natur ihre freundlichen Schätze, so sind die Kinder
dahinterher, um ein Gewerbe zu eröffnen; keines bettelt mehr, jedes
reicht dir einen Strauß; es hat ihn gepflückt, ehe du vom Schlaf
erwachtest, und das Bittende sieht dich so freundlich an wie die Gabe.
Niemand sieht erbärmlich aus, der sich einiges Recht fühlt, fordern zu
dürfen.
Warum nur das Jahr manchmal so kurz, manchmal so lang ist, warum es so
kurz scheint und so lang in der Erinnerung!
Mir ist es mit dem vergangenen so, und nirgends auffallender als im
Garten, wie Vergängliches und Dauerndes ineinandergreift.
Und doch ist nichts so flüchtig, das nicht eine Spur, das nicht
seinesgleichen zurücklasse.
Man läßt sich den Winter auch gefallen.
Man glaubt sich freier auszubreiten, wenn die Bäme so geisterhaft, so
durchsichtig vor uns stehen.
Sie sind nichts, aber sie denken auch nichts zu.
Wie aber einmal Knospen und Blüten kommen, dann wird man ungeduldig,
bis das volle Laub hervortritt, bis die Landschaft sich verkörpert und
der Baum sich als eine Gestalt uns entgegendrängt.
Alles Vollkommene in seiner Art muß über seine Art hinausgehen, es muß
etwas anderes, Unvergleichbares werden.
In manchen Tönen ist die Nachtigall noch Vogel; dann steigt sie über
ihre Klasse hinüber und scheint jedem Gefiederten andeuten zu wollen,
was eigentlich singen heiße.
Ein Leben ohne Liebe, ohne die Nähe des Geliebten ist nur eine
"comedie a tiroir", ein schlechtes Schubladenstück.
Man schiebt eine nach der andern heraus und wieder hinein und und eilt
zur folgenden.
Alles, was auch Gutes und Bedeutendes vorkommt, hängt nur kümmerlich
zusammen.
Man muß überall von vorn anfangen und möchte überall enden.
Charlotte von ihrer Seite befindet sich munter und wohl.
Sie freut sich an dem tüchtigen Knaben, dessen vielversprechende
Gestalt ihr Auge und Gemüt stündlich beschäftigt.
Sie erhält durch ihn einen neuen Bezug auf die Welt und auf den Besitz.
Ihre alte Tätigkeit regt sich wieder; sie erblickt, wo sie auch
hinsieht, im vrgangenen Jahre vieles getan und empfindet Freude am
Getanen.
Von einem eigenen Gefühl belebt, steigt sie zur Mooshütte mit Ottilien
und dem Kinde; und indem sie dieses auf den kleinen Tisch als auf
einen häuslichen Altar niederlegt und noch zwei Plätze leer sieht,
gedenkt sie der vorigen Zeiten, und eine neue Hoffnung für sie und
Ottilien dringt hervor.
Junge Frauenzimmer sehen sich bescheiden vielleicht nach diesem oder
jenem Jüngling um, mit stiller Prüfung, ob sie ihn wohl zum Gatten
wünschten; wer aber für eine Tochter oder einen weiblichen Zögling zu
sorgen hat, schaut in einem weitern Kreis umher.
So ging es auch in diesem Augenblick Charlotten, der eine Verbindung
des Hauptmanns mit Ottilien nicht unmöglich schien, wie sie doch auch
schon ehemals in dieser Hütte nebeneinander gesessen hatten.
Ihr war nicht unbekannt geblieben, daß jene Aussicht auf eine
vorteilhafte Heirat wieder verschwunden sei.
Charlotte stieg weiter, und Ottilie trug das Kind.
Jene überließ sich mancherlei Betrachtungen.
Auch auf dem festen Lande gibt es wohl Schiffbruch; sich davon auf das
schnellste zu erholen und herzustellen, ist schön und preiswürdig.
Ist doch das Leben nur auf Gewinn und Verlust berechnet!
Wer macht nicht irgendeine Anlage und wird darin gestört!
Wie oft schlägt man einen Weg ein und wird davon abgeleitet! Wie oft
werden wir von einem scharf ins Auge gefaßten Ziel abgelenkt, um ein
höheres zu erreichen!
Der Reisende bricht unterwegs zu seinem höchsten Verdruß ein Rad und
gelangt durch diesen unangenehmen Zufall zu den erfreulichsten
Bekanntschaften und Verbindungen, die auf sein ganzes Leben Einfluß
haben. Das Schicksal gewährt uns unsre Wünsche, aber auf seine Weise,
um uns etwas über unsere Wünsche geben zu können.
Diese und ähnliche Betrachtungen waren es, unter denen Charlotte zum
neuen Gebäude auf der Höhe gelangte, wo sie vollkommen bestätigt
wurden.
Denn die Umgebung war viel schöner, als man sichs hatte denken können.
Alles störende Kleinliche war ringsumher entfernt, alles Gute der
Landschaft, was die Natur, was die Zeit daran getan hatte, trat
reinlich hervor und fiel ins Auge, und schon grünten die jungen
Pflanzungen, die bestimmt waren, einige Lücken auszufüllen und die
abgesonderten Teile angenehm zu verbinden.
Das Haus selbst war nahezu bewohnbar, die Aussicht, besonders aus den
obern Zimmern, höchst mannigfaltig.
Je länger man sich umsah, desto mehr Schönes entdeckte man.
Was mußten nicht hier die verschiedenen Tagszeiten, was Mond und Sonne
für Wirkungen hervorbringen!
Hier zu verweilen war höchst wünschenswert, und wie schnell ward die
Lust zu bauen und zu schaffen in Charlotten wieder erweckt, da sie
alle grobe Arbeit getan fand!
Ein Tischer, ein Tapezier, ein Maler, der mit Patronen und leichter
Vergoldung sich zu helfen wußte, nur dieser bedurfte man, und in
kurzer Zeit war das Gebäude im Stande.
Keller und Küche wurden schnell eingerichtet; denn in der Entfernung
vom Schlosse mußte man alle Bedürfnisse um sich versammeln.
So wohnten die Frauenzimmer mit dem Kinde nun oben, und von diesem
Aufenthalt, als von einem neuen Mittelpunkt, eröffneten sich ihnen
unerwartete Spaziergänge.
Sie genossen vergnüglich in einer höheren Region der freien, frischen
Luft bei dem schönsten Wetter.
Ottiliens liebster Weg, teils allein, teils mit dem Kinde, ging
herunter nach den Platanen auf einem bequemen Fußsteig, der sodann zu
dem Punkte leitete, wo einer der Kähne angewunden war, mit denen man
überzufahren pflegte.
Sie erfreute sich manchmal einer Wasserfahrt, allein ohne das Kind,
weil Charlotte deshalb einige Besorgnis zeigte.
Doch verfehlte sie nicht, täglich den Gärtner im Schloßgarten zu
besuchen und an seiner Sorgfalt für die vielen Pflanzenzöglinge, die
nun alle der freien Luft genossen, freundlich teilzunehmen.
In dieser schönen Zeit kam Charlotten der Besuch eines Engländers sehr
gelegen, der Eduarden auf Reisen kennengelernt, einigemal getroffen
hatte und nunmehr neugierig war, die schönen Anlagen zu sehen, von
denen er soviel Gutes erzählen hörte.
Er brachte ein Empfehlungsschreiben vom Grafen mit und stellte
zugleich einen stillen, aber sehr gefälligen Mann als seinen Begleiter
vor.
Indem er nun bald mit Charlotten und Ottilien, bald mit Gärtnern und
Jägern, öfters mit seinem Begleiter und manchmal allein die Gegend
durchstrich, so konnte man seinen Bemerkungen wohl ansehen, daß er ein
Liebhaber und Kenner solcher Anlagen war, der wohl auch manche
dergleichen selbst ausgeführt hatte.
Obgleich in Jahren, nahm er auf eine heitere Weise an allem teil, was
dem Leben zur Zierde gereichen und es bedeutend machen kann.
In seiner Gegenwart genossen die Frauenzimmer erst vollkommen ihrer
Umgebung.
Sein geübtes Auge empfing jeden Effekt ganz frisch, und er hatte um so
mehr Freude an dem Entstandenen, als er die Gegend vorher nicht
gekannt und, was man daran getan, von dem, was die Natur geliefert,
kaum zu unterscheiden wußte.
Man kann wohl sagen, daß durch seine Bemerkungen der Park wuchs und
sich bereicherte.
Schon zum voraus erkannte er, was die neuen, heranstrebenden
Pflanzungen versprachen.
Keine Stelle blieb ihm unbemerkt, wo noch irgendeine Schönheit
hervorzuheben oder anzubringen war.
Hier deutete er auf eine Quelle, welche, gereinigt, die Zierde einer
ganzen Buschpartie zu werden versprach, hier auf eine Höhle, die,
ausgeräumt und erweitert, einen erwünschten Ruheplatz geben konnte,
indessen man nur wenige Bäume zu fällen brauchte, um von ihr aus
herrliche Felsenmassen aufgetürmt zu erblicken.
Er wünschte den Bewohnern Glück, daß ihnen so manches nachzuarbeiten
übrigblieb, und ersuchte sie, damit nicht zu eilen, sondern für
folgende Jahre sich das Vergnügen des Schaffens und Einrichtens
vorzubehalten.
übrigens war er außer den geselligen Stunden keineswegs lästig; denn
er beschäftigte sich die größte Zeit des Tags, die malerischen
Aussichten des Parks in einer tragbaren dunklen Kammer aufzufangen und
zu reichnen, um dadurch sich und andern von seinen Reisen eine schöne
Frucht zu gewinnen.
Er hatte dieses schon seit mehreren Jahren in allen bedeutenden
Gegenden getan und sich dadurch die angenehmste und interessanteste
Sammlung verschafft.
Ein großes Portefeuille, das er mit sich führte, zeigte er den Damen
vor und unterhielt sie teils durch das Bild, teils durch die Auslegung.
Sie freuten sich, hier in ihrer Einsamkeit die Welt so bequem zu
durchreisen, Ufer und Häfen, Berge, Seen und Flüsse, Städte, Kastelle
und manches andre Lokal, das in der Geschichte einen Namen hat, vor
sich vorbeiziehen zu sehen.
Jede von beiden Frauen hatte ein besonderes Interesse, Charlotte das
allgemeinere, gerade an dem, wo sich etwas historisch Merkwürdiges
fand, während Ottilie sich vorzüglich bei den Gegenden aufhielt, wovon
Eduard viel zu erzählen pflegte, wo er gern verweilt, wohin er öfters
zurückgekehrt; denn jeder Mensch hat in der Nähe und in der Ferne
gewisse örtliche Einzelheiten, die ihn anziehen, die ihm seinem
Charakter nach, um des ersten Eindrucks, gewisser Umstände, der
Gewohnheit willen besonders lieb und aufregend sind.
Sie fragte daher den Lord, wo es ihm denn am besten gefalle und wo er
nun seine Wohnung aufschlagen würde, wenn er zu wählen hätte.
Da wußte er denn mehr als eine schöne Gegend vorzuzeigen und, was ihm
dort widerfahren, um sie ihm lieb und wert zu machen, in seinem eigens
akzentuierten Französisch gar behaglich mitzuteilen.
Auf die Frage hingegen, wo er sich denn jetzt gewöhnlich aufhalte,
wohin er am liebsten zurückkehre, ließ er sich ganz unbewunden, doch
den Frauen unerwartet, also vernehmen: "ich habe mir nun angewöhnt,
überall zu Hause zu sein, und finde zuletzt nichts bequemer, als daß
andre für mich bauen, pflanzen und sich häuslich bemühen.
Nach meinen eigenen Besitzungen sehne ich mich nicht zurück, teils aus
politischen Ursachen, vorzüglich aber, weil mein Sohn, für den ich
alles eigentlich getan und eingerichtet, dem ich es zu übergeben, mit
dem ich es noch zu genießen hoffte, an allem keinen Teil nimmt,
sondern nach Indien gegangen ist, um sein Leben dort, wie mancher
andere, höher zu nutzen oder gar zu vergeuden.
Gewiß, wir machen viel zu viel vorarbeitenden Aufwand aufs Leben.
Anstatt daß wir gleich anfingen, uns in einem mäßigen Zustand
behaglich zu finden, so gehen wir immer mehr ins Breite, um es uns
immer unbequemer zu machen.
Wer genießt jetzt meine Gebäude, meinen Park, meine Gärten?
Nicht ich, nicht einmal die Meinigen: fremde Gäste, Neugierige,
unruhige Reisende.
Selbst bei vielen Mitteln sind wir immer nur halb und halb zu Hause,
besonders auf dem Lande, wo us manches Gewohnte der Stadt fehlt.
Das Buch, das wir am eifrigsten wünschten, ist nicht zur Hand, und
gerade, was wir am meisten bedürften, ist vergessen.
Wir richten uns immer häuslich ein, um wieder auszuziehen, und wenn
wir es nicht mit Willen und Willkür tun, so wirken Verhältnisse,
Leidenschaften, Zufälle, Notwendigkeit und was nicht alles".
Der Lord ahnete nicht, wie tief durch seine Betrachtungen die
Freundinnen getroffen wurden.
Und wie oft kommt nicht jeder in diese Gefahr, der eine allgemeine
Betrachtung selbst in einer Gesellschaft, deren Verhältnisse ihm sonst
bekannt sind, ausspricht!
Charlotten war eine solche zufällige Verletzung auch durch
Wohlwollende und Gutmeinende nichts Neues; und die Welt lag ohnehin so
deutlich vor ihren Augen, daß sie keinen besondern Schmerz empfand,
wenngleich jemand sie unbedachtsam und ungvorsichtig nötigte, ihren
Blick da—oder dorthin auf eine unerfreuliche Stelle zu richten.
Ottilie hingegen, die in halbbewußter Jugend mehr ahnete als sah und
ihren Blick wegwenden durfte, ja mußte von dem, was sie nicht sehen
mochte und sollte, Ottilie ward durch diese traulichen Reden in den
schrecklichsten Zustand versetzt; denn es zerriß mit Gewalt vor ihr
der anmutige Schleier, und es schien ihr, als wenn alles, was bisher
für Haus und Hof, für Garten, Park und die ganze Umgebung geschehen
war, ganz eigentlich umsonst sei, weil der, dem es alles gehörte, es
nicht genösse, weil auch der, wie der gegenwärtige Gast, zum
Herumschweifen in der Welt, und zwar zu dem gefährlichsten, durch die
Liebsten und Nächsten gedrängt worden.
Sie hatte sich an Hören und Schweigen gewöhnt aber sie saß diesmal in
der peinlichsten Lage, die durch des Fremden weiteres Gespräch eher
vermehrt als vermindert wurde, das er mit heiterer Eigenheit und
Bedächtlichkeit fortsetzte.
"Nun glaub ich", sagte er, "auf dem rechten Wege zu sein, da ich mich
immerfort als einen Reisenden betrachte, der vielem entsagt, um vieles
zu genießen.
Ich bin an den Wechsel gewöhnt, ja er wird mir Bedürfnis, wie man in
der Oper immer wieder auf eine neue Dekoration wartet, gerade weil
schon so viele dagewesen.
Was ich mir von dem besten und dem schlechtesten Wirtshause
versprechen darf, ist mir bekannt; es mag so gut oder so schlimm sein,
als es will, nirgends find ich das Gewohnte, und am Ende läuft es auf
eins hinaus, ganz von einer notwendigen Gewohnheit oder ganz von der
willkürlichsten Zufälligkeit abzuhangen.
Wenigstens habe ich jetzt nicht den Verdruß, daß etwas verlegt oder
verloren ist, daß mir ein tägliches Wohnzimmer unbrauchbar wird, weil
ich es muß reparieren lassen, daß man mir eine liebe Tasse zerbricht
und es mir eine ganze Zeit aus keiner andern schmecken will.
Alles dessen bin ich überhoben, und wenn mir das Haus über dem Kopf zu
brennen anfängt, so packen meine Leute gelassen ein und auf, und wir
fahren zu Hofraum und Stadt hinaus.
Und bei allen diesen Vorteilen, wenn ich es genau berechne, habe ich
am Ende des Jahres nicht mehr ausgegeben, als es mich zu Hause
gekostet hätte".
Bei dieser Schilderung sah Ottilie nur Eduarden vor sich, wie er nun
auch mit Entbehren und Beschwerde auf ungebahnten Straßen hinziehe,
mit Gefahr und Not zu Felde liege und bei soviel Unbestand und Wagnis
sich gewöhne, heimatlos und freundlos zu sein, alles wegzuwerfen, nur
um nicht verlieren zu können.
Glücklicherweise trennte sich die Gesellschaft für einige Zeit.
Ottilie fand Raum, sich in der Einsamkeit auszuweinen.
Gewaltsamer hatte sie kein dumpfer Schmerz ergriffen als diese
Klarheit, die sie sich noch klarer zu machen strebte, wie man es zu
tun pflegt, daß man sich selbst peinigt, wenn man einmal auf dem Wege
ist, gepeinigt zu werden.
Der Zustand Eduards kam ihr so kümmerlich, so jämmerlich vor, daß sie
sich entschloß, es koste, was es wolle, zu seiner Wiedervereinigung
mit Charlotten alles beizutragen, ihren Schmerz und ihre Liebe an
irgendeinem stillen Orte zu verbergen und durch irgendeine Art von
Tätigkeit zu betriegen.
Indessen hatte der Begleiter des Lords, ein verständiger, ruhiger Mann
und guter Beobachter, den Mißgriff in der Unterhaltung bemerkt und die
ähnlichkeit der Zustände seinem Freunde offenbart.
Dieser wußte nichts von den Verhältnissen der Familie; allein jener,
den eigentlich auf der Reise nichts mehr interessierte als die
sonderbaren Ereignisse, welche durch natürliche und künstliche
Verhältnisse, durch den Konflikt des Gesetzlichen und des
Ungebändigten, des Verstandes und der Vernunft, der Leidenschaft und
des Vorurteils hervorgebracht werden, jener hatte sich schon früher
und mehr noch im Hause selbst mit allem bekannt gemacht, was
vorgegangen war und noch vorging.
Dem Lord tat es leid, ohne daß er darüber verlegen gewesen wäre.
Man müßte ganz in Gesellschaft schweigen, wenn man nicht manchmal in
den Fall kommen sollte; denn nicht allein bedeutende Bemerkungen,
sondern die trivialsten äußerungen können auf eine so mißklingende
Weise mit dem Interesse der Gegenwärtigen zusammentreffen.
"Wir wollen es heute abend wiedergutmachen", sagte der Lord, "und uns
aller allgemeinen Gespräche enthalten.
Geben Sie der Gesellschaft etwas von den vielen angenehmen und
bedeutenden Anekdoten und Geschichten zu hören, womit Sie Ihr
Portefeuille und Ihr Gedächtnis auf unserer Reise bereichert haben!"
Allein auch mit dem besten Vorsatze gelang es den Fremden nicht, die
Freunde diesmal mit einer unverfänglichen Unterhaltung zu erfreuen.
Denn nachdem der Begleiter durch manche sonderbare, bedeutende,
heitere, rührende, furchtbare Geschichten die Aufmerksamkeit erregt
und die Teilnahme aufs höchste gespannt hatte, so dachte er mit einer
zwar sonderbaren, aber sanfteren Begebenheit zu schließen und ahnete
nicht, wie nahe diese seinen Zuhörern verwandt war.
Zwei Nachbarskinder von bedeutenden Häusern, Knabe und Mädchen, in
verhältnismäßigem Alter, um dereinst Gatten zu werden, ließ man in
dieser angenehmen Aussicht miteinander aufwachsen, und die
beiderseitigen Eltern freuten sich einer künftigen Verbindung.
Doch man bemerkte gar bald, daß die Absicht zu mißlingen schien, indem
sich zwischen den beiden trefflichen Naturen ein sonderbarer
Widerwille hervortrat.
Vielleicht waren sie einander zu ähnlich.
Beide in sich selbst gewendet, deutlich in ihrem Wollen, fest in ihren
Vorsätzen; jedes einzeln geliebt und geehrt von seinen Gespielen;
immer Widersacher, wenn sie zusammen waren, immer aufbauend für sich
allein, immer wechselsweise zerstörend, wo sie sich begegneten, nicht
wetteifernd nach einem Ziel, aber immer kämpfend um einen Zweck;
gutartig durchaus und liebenswürdig und nur hassend, ja bösartig,
indem sie sich aufeinander bezogen.
Diese wunderliche Verhältnis zeigte sich schon bei kindischen Spielen,
es zeigte sich bei zunehmenden Jahren.
Und wie die Knaben Krieg zu spielen, sich in Parteien zu sondern,
einander Schlachten zu liefern pflegen, so stellte sich das trozig
mutige Mädchen einst an die Spitze des einen Heers und focht gegen das
andre mit solcher Gewalt und Erbitterung, daß dieses schimpflich wäre
in die Flucht geschlagen worden, wenn ihr einzelner Widersacher sich
nicht sehr brav gehalten und seine Gegnerin doch noch zuletzt
entwaffnet und gefangengenommen hätte.
Aber auch da noch wehrte sie sich so gewaltsam, daß er, um seine Augen
zu erhalten und die Feindin doch nicht zu beschäftigen, sein seidenes
Halstuch abreißen und ihr die Hände damit auf den Rücken binden mußte.
Dies verzieh sie ihm nie, ja sie machte so heimliche Anstalten und
Versuche, ihn zu beschädigen, daß die Eltern, die auf diese seltsamen
Leidenschaften schon längst achtgehabt, sich miteinander verständigen
und beschlossen, die beiden feindlichen Wesen zu trennen und jene
lieblichen Hoffnungen aufzugeben.
Der Knabe tat sich in seinen neuen Verhältnissen bald hervor. Jede
Art von Unterricht schlug bei ihm an.
Gönner und eigene Neigung bestimmten ihn zum Soldatenstande.
überall, wo er sich fand, war er geliebt und geehrt.
Seine tüchtige Natur schien nur zum Wohlsein, zum Behagen anderer zu
wirken, und er war in sich, ohne deutliches Bewußtsein, recht
glücklich, den einzigen Widersacher verloren zu haben, den die Natur
ihm zugedacht hatte.
Das Mädchen dagegen trat auf einmal in einen veränderten Zustand.
Ihre Jahre, eine zunehmende Bildung und mehr noch ein gewisses inneres
Gefühl zogen sie von den heftigen Spielen hinweg, die sie bisher in
Gesellschaft der Knaben auszuüben pflegte.
Im ganzen schien ihr etwas zu fehlen, nichts war um sie herum, das
wert gewesen wäre, ihren Haß zu erregen.
Liebenswürdig hatte sie noch niemanden gefunden.
Ein junger Mann, älter als ihr ehemaliger nachbarlicher Widersacher,
von Stand, Vermögen und Bedeutung, beliebt in der Gesellschaft,
gesucht von Frauen, wendete ihr seine ganze Neigung zu.
Es war das erstemal, daß sich ein Freund, ein Liebhaber, ein Diener um
sie bemühte.
Der Vorzug, den er ihr vor vielen gab, die älter, gebildeter,
glänzender und anspruchsreicher waren als sie, tat ihr gar zu wohl.
Seine fortgesetzte Aufmerksamkeit, ohne daß er zudringlich gewesen
wäre, sein treuer Beistand bei verschiedenen unangenehmen Zufällen,
sein gegen ihre Eltern zwar ausgesprochnes, doch ruhiges und nur
hoffnungsvolles Werben, da sie freilich noch sehr jung war: das alles
nahm sie für ihn ein, wozu die Gewohnheit, die äußern, nun von der
Welt als bekannt angenommenen Verhältnisse das Ihrige beitrugen.
Sie war so oft Braut genannt worden, daß sie sich endlich selbst dafür
hielt, und weder sie noch irgend jemand dachte daran, daß noch eine
Prüfung nötig sei, als sie den Ring mit demjenigen wechselte, der so
lange Zeit für ihren Bräutigam galt.
Der ruhige Gang, den die ganze Sache genommen hatte, war auch durch
das Verlöbnis nicht beschleunigt worden.
Man ließ eben von beiden Seiten alles so fortgewähren, man freute sich
des Zusammenlebens und wollte die gute Jahreszeit durchaus noch als
einen Frühling des künftigen ernsteren Lebens genießen.
Indessen hatte der Entfernte sich zum schönsten ausgebildet, eine
verdiente Stufe seiner Lebensbestimmung erstiegen und kam mit Urlaub,
die Seinigen zu besuchen.
Auf eine ganz natürliche, aber doch sonderbare Weise stand er seiner
schönen Nachbarin abermals entgegen.
Sie hatte in der letzten Zeit nur freundliche, bräutliche
Familienempfindungen bei sich genährt, sie war mit allem, was sie
umgab, in übereinstimmung; sie glaubte glücklich zu sein und war es
auch auf gewisse Weise.
Aber nun stand ihr zum erstenmal seit langer Zeit wieder etwas
entgegen: es war nicht hassenswert; sie war des Hasses unfähig
geworden, ja der kindische Haß, der eigentlich nur ein dunkles
Anerkennen des inneren Wertes gewesen, äußerte sich nun in frohem
Erstaunen, erfreulichem Betrachten, gefälligem Eingesthen, halb
willigem halb unwilligem und doch notwendigem Annahen, und das alles
war wechselseitig.
Eine lange Entfernung gab zu längeren Unterhaltungen Anlaß.
Selbst jene kindische Unvernunft diente den Aufgeklärteren zu
scherzhafter Erinnerung, und es war, als wenn man sich jenen
neckischen Haß wenigstens durch eine freundschaftliche, aufmerksame
Behandlung vergüten müsse, als wenn jenes gewaltsame Verkennen nunmehr
nicht ohne ein ausgesprochenes Anerkennen bleiben dürfe.
Von seiner Seite blieb alles in einem verständigen, wünschenswerten
Maß.
Sein Stand, seine Verhältnisse, sein Streben, sein Ehrgeiz
beschäftigten ihn so reichlich, daß er die Freundlichkeit der schönen
Braut als eine dankenswerte Zugabe mit Behaglichkeit aufnahm, ohne sie
deshalb in irgendeinem Bezug auf sich zu betrachten oder sie ihrem
Bräutigam zu mißgönnen, mit dem er übrigens in den besten
Verhältnissen stand.
Bei ihr hingegen sah es ganz anders aus.
Sie schien sich wie aus einem Traum erwacht.
Der Kampf gegen ihren jungen Nachbar war die erste Leidenschaft
gewesen, und dieser heftige Kampf war doch nur, unter der Form des
Widerstrebens, eine heftige, gleichsam angeborne Neigung.
Auch kam es ihr in der Erinnerung nicht anders vor, als daß sie ihn
immer geliebt habe.
Sie lächelte über jenes feindliche Suchen mit den Waffen in der Hand;
sie wollte sich des angenehmsten Gefühls erinnern, als er sie
entwaffnete; sie bildete sich ein, die größte Seligkeit empfunden zu
haben, da er sie band, und alles, was sie zu seinem Schaden und
Verdruß unternommen hatte, kam ihr nur als unschuldiges Mittel vor,
seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Sie verwünschte jene Trennung, sie bejammerte den Schlaf, in den sie
verfallen, sie verfluchte die schleppende, träumerische Gewohnheit,
durch die ihr ein so unbedeutender Bräutigam hatte werden können; sie
war verwandelt, doppelt verwandelt, vorwärts und rückwärts, wie man es
nehmen will.
Hätte jemand ihre Empfindungen, die sie ganz geheimhielt, entwickeln
und mit ihr teilen können, so würde er sie nicht gescholten haben;
denn freilich konnte der Bräutigam die Vergleichung mit dem Nachbar
nicht aushalten, sobald man sie nebeneinander sah.
Wenn man dem einen ein gewisses Zutrauen nicht versagen konnte, so
erregte der andere das vollste Vertrauen; wenn man den einen gern zur
Gesellschaft mochte, so wünschte man sich den andern zum Gefährten;
und dachte man gar an höhere Teilnahme, an außerordentliche Fälle, so
hätte man wohl an dem einen gezweifelt, wenn einem der andere
vollkommene Gewißheit gab.
Für solche Verhältnisse ist den Weibern ein besonderer Takt angeboren,
und sie haben Ursache sowie Gelegenheit, ihn auszubilden.
Je mehr die schöne Braut solche Gesinnungen bei sich ganz heimlich
nährte, je weniger nur irgend jemand dasjenige auszusprechen im Fall
war, was zugunsten des Bräutigams gelten konnte, was Verhältnisse, was
Pflicht anzuraten und zu gebieten, ja was eine unabänderliche
Notwendigkeit unwiderruflich zu fordern schien, desto mehr begünstigte
das schöne Herz seine Einseitigkeit; und indem sie von der einen Seite
durch Welt und Familie, Bräutigam und eigne Zusage unauflöslich
gebunden war, von der andern der emporstrebende Jüngling gar kein
Geheimnis von seinen Gesinnungen, Planen und Aussichten machte, sich
nur als ein treuer und nicht einmal zärtlicher Bruder gegen sie bewies
und nun gar von seiner unmittelbaren Abreise die Rede war, so schien
es, als ob ihr früher kindischer Geist mit allen seinen Tücken und
Gewaltsamkeiten wiedererwachte und sich nun auf einer höheren
Lebensstufe mit Unwillen rüstete, bedeutender und verderblicher zu
wirken.
Sie beschloß zu sterben, um den ehemals Gehaßten und nun so heftig
Geliebten für seine Unteilnahme zu strafen und sich, indem sie ihn
nicht besitzen sollte, wenigstens mit seiner Einbildungskraft, seiner
Reue auf ewig zu vermählen.
Er sollte ihr totes Bild nicht loswerden, er sollte nicht aufhören,
sich Vorwürfe zu machen, daß er ihre Gesinnungen nicht erkannt, nicht
erforscht, nicht geschätzt habe.
Dieser seltsame Wahnsinn begleitete sie überallhin.
Sie verbarg ihn unter allerlei Formen; und ob sie den Menschen gleich
wunderlich vorkam, so war niemand aufmerksam oder klug genug, die
innere, wahre Ursache zu entdecken.
Indessen hatten sich Freunde, Verwandte, Bekannte in Anordnungen von
Mancherlei Festen erschöpft.
Kaum verging ein Tag, daß nicht irgend etwas Neues und Unerwartetes
angestellt worden wäre.
Kaum war ein schöner Platz der Landschaft, den man nicht ausgeschmückt
und zum Empfang vieler froher Gäste bereitet hätte.
Auch wollte unser junger Ankömmling noch vor seiner Abreise das
Seinige tun und lud das junge Paar mit einem engeren Familienkreise zu
einer Wasserlustfahrt.
Man bestieg ein großes, schönes, wohlausgeschmücktes Schiff, eine der
Jachten, die einen kleinen Saal und einige Zimmer anbieten und auf das
Wasser die Bequemlichkeit des Landes überzutragen suchen.
Man fuhr auf dem großen Strome mit Musik dahin; die Gesellschaft hatte
sich bei heißer Tageszeit in den untern Räumen versammelt, um sich an
Geistes—und Glücksspielen zu ergötzen.
Der junge Wirt, der niemals untätig bleiben konnte, hatte sich ans
Steuer gesetzt, den alten Schiffsmeister abzulösen, der an seiner
Seite eingeschlafen war; und eben brauchte der Wachende alle seine
Vorsicht, da er sich einer Stelle nahte, wo zwei Inseln das Flußbette
verengten und, indem sie ihre flachen Kiesufer bald an der einen, bald
an der andern Seite hereinstreckten, ein gefährliches Fahrwasser
zubereiteten.
Fast war der sorgsame und scharfblickende Steurer in Versuchung, den
Meister zu wecken, aber er getraute sichs zu und fuhr gegen die Enge.
In dem Augenblick erschien auf dem Verdeck seine schöne Feindin mit
einem Blumenkranz in den Haaren.
Sie nahm ihn ab und warf ihn auf den Steuernden.
"Nimm dies zum Andenken!" rief sie aus.
"Störe mich nicht!" rief er ihr entgegen, indem er den Kranz auffing;
"ich bedarf aller meiner Kräfte und meiner Aufmerksamkeit".
-"Ich störe dich nicht weiter", rief sie; "du siehst mich nicht wieder!"
Sie sprachs und eilte nach dem Vorderteil des Schiffs, von da sie
ins Wasser sprang.
Einige Stimmen riefen: "rettet!
Rettet!
Sie ertrinkt".
Er war in der entsetzlichsten Verlegenheit.
über dem Lärm erwacht der alte Schiffsmeister, will das Ruder
ergreifen, der jüngere es ihm übergeben, aber es ist keine Zeit, die
Herrschaft zu wechseln: das Schiff strandet, und in eben dem
Augenblick, die lästigsten Kleidungsstücke wegwerfend, stürzte er sich
ins Wasser und schwamm der schönen Feinden nach.
Das Wasser ist ein freundliches Element für den, der damit bekannt ist
und es zu behandeln weiß.
Es trug ihn, und der geschickte Schwimmer beherrschte es.
Bald hatte er die vor ihm fortgerissene Schöne erreicht; er faßte sie,
wußte sie zu heben und zu tragen; beide wurden vom Strom gewaltsam
fortgerissen, bis sie die Inseln, die Werder weit hinter sich hatten
und der Fluß wieder breit und gemächlich zu fließen anfing.
Nun erst ermannte, nun erholte er sich aus der ersten zudringenden Not,
in der er ohne Besinnung nur mechanisch gehandelt; er blickte mit
emporstrebendem Haupt umher und ruderte nach Vermögen einer flachen,
buschichten Stelle zu, die sich angenehm und gelegen in den Fluß
verlief.
Dort brachte er seine schöne Beute aufs Trockne; aber kein Lebenshauch
war in ihr zu spüren.
Er war in Verzweiflung, als ihm ein betretener Pfad, der durchs
Gebüsch lief, in die Augen leuchtete.
Er belud sich aufs neue mit der teuren Last, er erblickte bald eine
einsame Wohnung und erreichte sie.
Dort fand er gute Leute, ein junges Ehepaar.
Das Unglück, die Not sprach sich geschwind aus.
Was er nach einiger Besinnung forderte, ward geleistet.
Ein lichtes Feuer brannte, wollne Decken wurden über ein Lager
gebreitet, Pelze, Felle und was Erwärmendes vorrätig war, schnell
herbeigetragen.
Hier überwand die Begierde zu retten jede andre Betrachtung.
Nichts ward versäumt, den schönen, halbstarren, nackten Körper wieder
ins Leben zu rufen.
Es gelang.
Sie schlug die Augen auf, sie erblickte den Freund, umschlang seinen
Hals mit ihren himmlischen Armen.
So blieb sie lange; ein Tränenstrom stürzte aus ihren Augen und
vollendete ihre Genesung.
"Willst du mich verlassen", rief sie aus, "da ich dich so
wiederfinde?"—"Niemals", rief er, "niemals!" und wußte nicht, was er
sagte noch was er tat.
"Nur schone dich", rief er hinzu, "schone dich!
Denke an dich um deinet—und meinetwillen".
Sie dachte nun an sich und bemerkte jetzt erst den Zustand, in dem sie
war.
Sie konnte sich vor ihrem Liebling, ihrem Retter nicht schämen; aber
sie entließ ihn gern, damit er für sich sorgen möge; denn noch war,
was ihn umgab, naß und triefend.
Die jungen Eheleute beredeten sich; er bot dem Jüngling und sie der
Schönen das Hochzeitskleid an, das noch vollständig dahing, um ein
Paar von Kopf zu Fuß und von innen heraus zu bekleiden.
In kurzer Zeit waren die beiden Abenteurer nicht nur angezogen,
sondern geputzt.
Sie sahen allerliebst aus, staunten einander an, als sie
zusammentraten, und fielen sich mit unmäßiger Leidenschaft, und doch
halb lächelnd über die Vermummung, gewaltsam in die Arme.
Die Kraft der Jugend und die Regsamkeit der Liebe stellten sie in
wenigen Augenblicken völlig wieder her, und es fehlte nur die Musik,
um sie zum Tanz aufzufordern.
Sich vom Wasser zur Erde, vom Tode zum Leben, aus dem Familienkreise
in eine Wildnis, aus der Verzweiflung zum Entzücken, aus der
Gleichgültigkeit zur Neigung, zur Leidenschaft gefunden zu haben,
alles in einem Augenblick—der Kopf wäre nicht hinreichend, das zu
fassen; er würde zerspringen oder sich verwirren.
Hiebei muß das Herz das Beste tun, wenn eine solche überraschung
ertragen werden soll.
Ganz verloren eins ins andere, konnten sie erst nach einiger Zeit an
die Angst, an die Sorgen der Zurückgelassenen denken, und fast konnten
sie selbst nicht ohne Angst, ohne Sorge daran denken, wie sie jenen
wiederbegegnen wollten.
"Sollen wir fliehen?
Sollen wir uns verbergen?" sagte der Jüngling.
"Wir wollen zusammenbleiben", sagte sie, indem sie an seinem Hals hing.
Der Landmann, der von ihnen die Geschichte des gestrandeten Schiffs
vernommen hatte, eilte, ohne weiter zu fragen, nach dem Ufer.
Das Fahrzeug kam glücklich einhergeschwommen; es war mit vieler Mühe
losgebracht worden.
Man fuhr aufs ungewisse fort, in Hoffnung, die Verlornen
wiederzufinden.
Als daher der Landmann mit Rufen und Winken die Schiffenden aufmerksam
machte, an eine Stelle lief, wo ein vorteilhafter Landungsplatz sich
zeigte, und mit Winken und Rufen nicht aufhörte, wandte sich das
Schiff nach dem Ufer, und welch ein Schauspiel ward es, da sie
landeten!
Die Eltern der beiden Verlobten drängten sich zuerst ans Ufer; den
liebenden Bräutigam hatte fast die Besinnung verlassen.
Kaum hatten sie vernommen, daß die lieben Kinder gerettet seien, so
traten diese in ihrer sonderbaren Verkleidung aus dem Busch hervor.
Man erkannte sie nicht eher, als bis sie ganz herangetreten waren.
"Wenn seh ich?" riefen die Mütter.
"Was seh ich?" riefen die Väter.
Die Geretteten warfen sich vor ihnen nieder.
"Eure Kinder!" riefen sie aus, "ein Paar".
-"Verzeiht!" rief das Mädchen.
"Gebt uns Euren Segen!" rief der Jüngling.
"Gebt uns Euren Segen!" riefen beide, da alle Welt staunend verstummte.
"Euren Segen!" ertönte es zum drittenmal, und wer hätte den versagen
können!
Der Erzählende machte eine Pause oder hatte vielmehr schon geendigt,
als er bemerken mußte, daß Charlotte höchst bewegt sei; ja sie stand
auf und verließ mit einer stummen Entschuldigung das Zimmer; denn die
Geschichte war ihr bekannt.
Diese Begebenheit hatte sich mit dem Hauptmann und einer Nachbarin
wirklich zugetragen, zwar nicht ganz wie sie der Engländer erzählte,
doch war sie in den Hauptzügen nicht entstellt, nur im einzelnen mehr
ausgebildet und ausgeschmückt, wie es dergleichen Geschichten zu gehen
pflegt, wenn sie erst durch den Mund der Menge und sodann durch die
Phantasie eines geist—und geschmackreichen Erzählers durchgehen.
Es bleibt zuletzt meist alles und nichts, wie es war.
Ottilie folgte Charlotten, wie es die beiden Fremden selbst verlangten,
und nun kam der Lord an die Reihe zu bemerken, daß vielleicht
abermals ein Fehler begangen, etwas dem Hause Bekanntes oder gar
Verwandtes erzählt worden.
"Wir müssen uns hüten", fuhr er fort, "daß wir nicht noch mehr übles
stiften.
Für das viele Gute und Angenehme, das wir hier genossen, scheinen wir
den Bewohnerinnen wenig Glück zu bringen; wir wollen uns auf eine
schickliche Weise zu empfehlen suchen".
"Ich muß gestehen", versetzte der Begleiter, "daß mich hier noch etwas
anderes festhält, ohne dessen Aufklärung und nähere Kenntnis ich
dieses Haus nicht gern verlassen möchte.
Sie waren gestern, Mylord, als wir mit der tragbaren dunklen Kammer
durch den Park zogen, viel zu beschäftigt, sich einen wahrhaft
malerischen Standpunkt auszuwählen, als daß Sie hätten bemerken sollen,
was nebenher vorging.
Sie lenkten vom Hauptwege ab, um zu einem wenig besuchten Platze am
See zu gelangen, der Ihnen ein reizendes Gegenüber anbot.
Ottilie, die uns begleitete, stand an zu folgen und bat, sich auf dem
Kahne dorthin begeben zu dürfen.
Ich setzte mich mit ihr ein und hatte meine Freude an der Gewandtheit
der schönen Schifferin.
Ich versicherte ihr, daß ich seit der Schweiz, wo auch die reizendsten
Mädchen die Stelle des Fährmanns vertreten, nicht so angenehm sei über
die Wellen geschaukelt worden, konnte mich aber nicht enthalten, sie
zu fragen, warum sie eigentlich abgelehnt, jenen Seitenweg zu machen;
denn wirklich war in ihrem Ausweichen eine Art von ängstlicher
Verlegenheit.
'Wenn Sie mich nicht auslachen wollen', versetzte sie freundlich, 'so
kann ich Ihnen darüber wohl einige Auskunft geben, obgleich selbst für
mich dabei ein Geheimnis obwaltet.
Ich habe jenen Nebenweg niemals betreten, ohne daß mich ein ganz
eigener Schauer überfallen hätte, den ich sonst nirgends empfinde und
den ich mir nicht zu erklären weiß.
Ich vermeide daher lieber, mich einer solchen Empfindung auszusetzen,
um so mehr, als sich gleich darauf ein Kopfweh an der linken Seite
einstellt, woran ich sonst auch manchmal leide'.
Wir landeten, Ottilie unterhielt sich mit Ihnen, und ich untersuchte
indes die Stelle, die sie mir aus der Ferne deutlich angegeben hatte.
Aber wie groß war meine Verwunderung, als ich eine sehr deutliche Spur
von Steinkohlen entdeckte, die mich überzeugt, man würde bei einigem
Nachgraben vielleicht ein ergiebiges Lager in der Tiefe finden.
Verzeihen Sie, Mylord, ich sehe Sie lächeln und weiß recht gut, daß
Sie mir eine leidenschaftliche Aufmerksamkeit auf diese Dinge, an die
Sie keinen Glauben haben, nur als weiser Mann und als Freund nachsehen;
aber es ist mir unmöglich, von hier zu scheiden, ohne das schöne Kind
auch die Pendelschwingungen versuchen zu lassen".
Es konnte niemals fehlen, wenn die Sache zur Sprache kam, daß der Lord
nicht seine Gründe dagegen abermals wiederholte, welche der Begleiter
bescheiden und geduldig aufnahm, aber doch zuletzt bei seiner Meinung,
bei seinen Wünschen verharrte.
Auch er gab wiederholt zu erkennen, daß man deswegen, weil solche
Versuche nicht jedermann gelängen, die Sache nicht aufgeben, ja
vielmehr nur desto ernsthafter und gründlicher untersuchen müßte, da
sich gewiß noch manche Bezüge und Verwandtschaften unorganischer Wesen
untereinander, organischer gegen sie und abermals untereinander
offenbaren würden, die uns gegenwärtig verborgen seien.
Er hatte seinen Apparat von goldnen Ringen, Markasiten und andern
metallischen Substanzen, den er in einem schönen Kästchen immer bei
sich führte, schon ausgebreitet und ließ nun Metalle, an Fäden
schwebend, über liegende Metalle zum Versuche nieder.
"Ich gönne Ihnen die Schadenfreude, Mylord", sagte er dabei, "die ich
auf Ihrem Gesichte lese, daß sich bei mir und für mich nichts bewegen
will.
Meine Operation ist aber auch nur ein Vorwand.
Wenn die Damen zurückkehren, sollen sie neugierig werden, was wir
Wunderliches hier beginnen".
Die Frauenzimmer kamen zurück.
Charlotte verstand sogleich, was vorging.
"Ich habe manches von diesen Dingen gehört", sagte sie, "aber niemals
eine Wirkung gesehen.
Da Sie alles so hübsch bereit haben, lassen Sie mich versuchen, ob es
mir nicht auch anschlägt".
Sie nahm den Faden in die Hand, und da es ihr Ernst war, hielt sie ihn
stet und ohne Gemütsbewegung; allein auch nicht das mindeste Schwanken
war zu bemerken.
Darauf ward Ottilie veranlaßt.
Sie hielt den Pendel noch ruhiger, unbefangener, unbewußter über die
unterliegenden Metalle.
Aber in dem Augenblicke ward das Schwebende wie in einem entschiedenen
Wirbel fortgerissen und drehte sich, je nachdem man die Unterlage
wechselte, bald nach der einen, bald nach der andern Seite, jetzt in
Kreisen, jetzt in Ellipsen, oder nahm seinen Schwung in graden Linien,
wie es der Begleiter nur erwarten konnte, ja über alle seine Erwartung.
Der Lord selbst stutzte einigermaßen, aber der andere konnte vor Lust
und Begierde gar nicht enden und bat immer um Wiederholung und
Vermannigfaltigung der Versuche.
Ottilie war gefällig genug, sich in sein Verlangen zu finden, bis sie
ihn zuletzt freundlich ersuchte, er möge sie entlassen, weil ihr
Kopfweh sich wieder einstelle.
Er, daüber verwundert, ja entzückt, versicherte ihr mit Enthusiasmus,
daß er sie von diesem übel völlig heilen wolle, wenn sie sich seiner
Kurart anvertraue.
Man war einen Augenblick ungewiß; Charlotte aber, die geschwind
begriff, wovon die Rede sei, lehnte den wohlgesinnten Antrag ab, weil
sie nicht gemeint war, in ihrer Umgebung etwas zuzulassen, wovor sie
immerfort eine starke Apprehension gefühlt hatte.
Die Fremden hatten sich entfernt und, ungeachtet man von ihnen auf
eine sonderbare Weise berührt worden war, doch den Wunsch
zurückgelassen, daß man sie irgendwo wieder antreffen möchte.
Charlotte benutzte nunmehr die schönen Tage, um in der Nachbarschaft
ihre Gegenbesuche zu enden, womit sie kaum fertig werden konnte, indem
sich die ganze Landschaft umher, einige wahrhaft teilnehmend, andre
bloß der Gewohnheit wegen, bisher fleißig um sie bekümmert hatten.
Zu Hause belebte sie der Anblick des Kindes; es war gewiß jeder Liebe,
jeder Sorgfalt wert.
Man sah in ihm ein wunderbares, ja ein Wunderkind, höchst erfreulich
dem Anblick, an Größe, Ebenmaß, Stärke und Gesundheit; und was noch
mehr in Verwunderung setzte, war jene doppelte ähnlichkeit, die sich
immer mehr entwickelte.
Den Gesichtszügen und der ganzen Form nach glich das Kind immer mehr
dem Hauptmann, die Augen ließen sich immer weniger von Ottiliens Augen
unterscheiden.
Durch diese sonderbare Verwandtschaft und vielleicht noch mehr durch
das schöne Gefühl der Frauen geleitet, welche das Kind eines geliebten
Mannes, auch von einer andern, mit zärtlicher Neigung umfangen, ward
Ottilie dem heranwachsenden Geschöpf soviel als eine Mutter oder
vielmehr eine andre Art von Mutter.
Entfernte sich Charlotte, so blieb Ottilie mit dem Kinde und der
Wärterin allein.
Nanny hatte sich seit einiger Zeit, eifersüchtig auf den Knaben, dem
ihre Herrin alle Neigung zuzuwenden schien, trotzig von ihr entfernt
und war zu ihren Eltern zurückgekehrt.
Ottilie fuhr fort, das Kind in die freie Luft zu tragen, und gewöhnte
sich an immer weitere Spaziergänge.
Sie hatte das Milchfläschchen bei sich, um dem Kinde, wenn es nötig,
seine Nahrung zu reichen.
Selten unterließ sie dabei, ein Buch mitzunehmen, und so bildete sie,
das Kind auf dem Arm, lesend und wandelnd, eine gar anmutige Penserosa.
Der Hauptzweck des Feldzugs war erreicht und Eduard, mit Ehrenzeichen
geschmückt, rühmlich entlassen.
Er begab sich sogleich wieder auf jenes kleine Gut, wo er genaue
Nachrichten von den Seinigen fand, die er, ohne daß sie es bemerkten
und wußten, scharf hatte beobachten lassen.
Sein stiller Aufenthalt blickte ihm aufs freundlichste entgegen; denn
man hatte indessen nach seiner Anordnung manches eingerichtet,
gebessert und gefördert, sodaß die Anlagen und Umgebungen, was ihnen
an Weite und Breite fehlte, durch das Innere und zunächst Genießbare
ersetzten.
Eduard, durch einen raschen Lebensgang an entschiedenere Schritte
gewöhnt, nahm sich nunmehr vor, dasjenige auszuführen, was er lange
genug zu überdenken Zeit gehabt hatte.
Vor allen Dingen berief er den Major.
Die Freude des Wiedersehens war groß.
Jugendfreundschaften wie Blutsverwandtschaften haben den bedeutenden
Vorteil, daß ihnen Irrungen und Mißverständnisse, von welcher Art sie
auch seien, niemals von Grund aus schaden und die alten Verhältnisse
sich nach einiger Zeit wiederherstellen.
Zum frohen Mepfang erkundigte sich Eduard nach dem Zustande des
Freundes und vernahm, wie vollkommen nach seinen Wünschen ihn das
Glück begünstigt habe.
Halb scherzend vertraulich fragte Eduard sodann, ob nicht auch eine
schöne Verbindung im Werke sei.
Der Freund verneinte es mit bedeutendem Ernst.
"Ich kann und darf nicht hinterhaltig sein", fuhr Eduard fort; "ich
muß dir meine Gesinnungen und Vorsätze sogleich entdecken.
Du kennst meine Leidenschaft für Ottilien und hast längst begriffen,
daß sie es ist, die mich in diesen Feldzug gestürzt hat.
Ich leugne nicht, daß ich gewünscht hatte, ein Leben loszuwerden, das
mir ohne sie nichts weiter nütze war; allein zugleich muß ich dir
gestehen, daß ich es nicht über mich gewinnen konnte, vollkommen zu
verzweifeln.
Das Glück mit ihr war so schön, so wünschenswert, daß es mir unmöglich
blieb, völlig Verzicht darauf zu tun.
So manche tröstliche Ahnung, so manches heitere Zeichen hatte mich in
dem Glauben, in dem Wahn bestärkt, Ottilie könne die Meine werden.
Ein Glas mit unserm Namenszug bezeichnet, bei der Grundsteinlegung in
die Lüfte geworfen, ging nicht zu Trümmern; es ward aufgefangen und
ist wieder in meinen Händen.
'So will ich mich denn selbst', rief ich mir zu, als ich an diesem
einsamen Orte soviel zweifelhafte Stunden verlebt hatte, 'mich selbst
will ich an die Stelle des Glases zum Zeichen machen, ob unsre
Verbindung möglich sei oder nicht.
Ich gehe hin und suche den Tod, nicht als ein Rasender, sondern als
einer, der zu leben hofft.
Ottilie soll der Preis sein, um den ich kämpfe; sie soll es sein, die
ich hinter jeder feindlichen Schlachtordnung, in jeder Verschanzung,
in jeer belagerten Festung zu gewinnen, zu erobern hoffe.
Ich will Wunder tun mit dem Wunsche, verschont zu bleiben, im Sinne,
Ottilien zu gewinnen, nicht sie zu verlieren'.
Diese Gefühle haben mich geleitet, sie haben mir durch alle Gefahren
beigestanden; aber nun finde ich mich auch wie einen, der zu seinem
Ziele gelangt ist, der alle Hindernisse überwunden hat, dem nun nichts
mehr im Wege steht.
Ottilie ist mein, und was noch zwischen diesem Gedanken und der
Ausführung liegt, kann ich nur für nichts bedeutend ansehen".
"Du löschest", versetzte der Major, "mit wenig Zügen alles aus, was
man dir entgegensetzen könnte und sollte; und doch muß es wiederholt
werden.
Das Verhältnis zu deiner Frau in seinem ganzen Werte dir zurückzurufen,
überlasse ich dir selbst; aber du bist es ihr, du bist es dir
schuldig, dich hierüber nicht zu verdunkeln.
Wie kann ich aber nur gedenken, daß euch ein Sohn gegeben ist, ohne
zugleich auszusprechen, daß ihr einander auf immer angehört, daß ihr
um dieses Wesens willen schuldig seid, vereint zu leben, damit ihr
vereint für seine Erziehung und für sein künftiges Wohl sorgen möget".
"Es ist bloß ein Dünkel der Eltern", versetzte Eduard, "wenn sie sich
einbilden, daß ihr Dasein für die Kinder so nötig sei.
Alles, was lebt, findet Nahrung und Beihülfe; und wenn der Sohn nach
dem frühen Tode des Vaters keine so bequeme, so begünstigte Jugend hat,
so gewinnt er vielleicht ebendeswegen an schnellerer Bildung für die
Welt, durch zeitiges Anerkennen, daß er sich in andere schicken muß,
was wir denn doch früher oder später alle lernen müssen.
Und hievon ist ja die Rede gar nicht: wir sind reich genug, um mehrere
Kinder zu versorgen, und es ist keineswegs Pflicht noch Wohltat, auf
Ein Haupt so viele Güter zu häufen".
Als der Major mit einigen Zügen Charlottens Wert und Eduards lange
bestandenes Verhältnis zu ihr anzudeuten gedachte, fiel ihm Eduard
hastig in die Rede: "wir haben eine Torheit begangen, die ich nur
allzuwohl einsehe.
Wer in einem gewissen Alter frühere Jugendwünsche und Hoffnungen
realisieren will, betriegt sich immer; denn jedes Jahrzehnt des
Menschen hat sein eigenes Glück, seine eigenen Hoffnungen und
Aussichten.
Wehe dem Menschen, der vorwärts oder rückwärts zu greifen durch
Umstände oder durch Wahn veranlaßt wird!
Wir haben eine Torheit begangen; soll sie es denn fürs ganze Leben
sein?
Sollen wir uns aus irgendeiner Art von Bedenklichkeit dasjenige
versagen, was uns die Sitten der Zeit nicht absprechen?
In wie vielen Dingen nimmt der Mensch seinen Vorsatz, seine Tat zurück,
und hier gerade sollte es nicht geschehen, wo vom Ganzen und nicht
vom Einzelnen, wo nicht von dieser oder jener Bedingung des Lebens, wo
vom ganzen Komplex des Lebens die Rede ist!" Der Major verfehlte
nicht, auf eine ebenso geschickte als nachdrückliche Weise Eduarden
die verschiedenen Bezüge zu seiner Gemahlin, zu den Familien, zu der
Welt, zu seinen Besitzungen vorzustellen; aber es gelang ihm nicht,
irgendeine Teilnahme zu erregen.
"Alles dieses, mein Freund", erwiderte Eduard, "ist mir vor der Seele
vorbeigegangen, mitten im Gewühl der Schlacht, wenn die Erde vom
anhaltenden Donner bebte, wenn die Kugeln sausten und pfiffen, rechts
und links die Gefährten niederfielen, mein Pferd getroffen, mein Hut
durchlöchert ward; es hat mir vorgeschwebt beim stillen nächtlichen
Feuer unter dem gestirnten Gewölbe des Himmels.
Dann traten mir alle meine Verbindungen vor die Seele; ich habe sie
durchgedacht, durchgefühlt; ich habe mir zugeeignet, ich habe mich
abgefunden, zu wiederholten Malen, und nun für immer.
In solchen Augenblicken, wie kann ich dirs verschweigen, warst auch du
mir gegenwärtig, auch du gehörtest in meinen Kreis; und gehören wir
denn nicht schon lange zueinander?
Wenn ich dir etwas schluldig geworden, so komme ich jetzt in den Fall,
dir es mit Zinsen abzutragen; wenn du mir je etwas schuldig geworden,
so siehst du dich nun imstande, mir es zu vergelten.
Ich weiß, du liebst Charlotten, und sie verdient es; ich weiß, du bist
ihr nicht gleichgültig, und warum sollte sie deinen Wert nicht
erkennen!
Nimm sie von meiner Hand, führe mir Ottilien zu!
Und wir sind die glücklichsten Menschen auf der Erde".
"Eben weil du mich mit so hohen Gaben bestechen willst", versetzte der
Major, "muß ich desto vorsichtiger, desto strenger sein.
Anstatt daß dieser Vorschlag, den ich still verehre, die Sache
erleichtern möchte, erschwert er sie vielmehr.
Es ist, wie von dir, nun auch von mir die Rede, und so wie von dem
Schicksal, so auch von dem guten Namen, von der Ehre zweier Männer,
die, bis jetzt unbescholten, durch diese wunderliche Handlung, wenn
wir sie auch nicht anders nennen wollen, in Gefahr kommen, vor der
Welt in einem höchst seltsamen Lichte zu erscheinen".
"Eben daß wir unbescholten sind", versetzte Eduard, "gibt uns das
Recht, uns auch einmal schelten zu lassen.
Wer sich sein ganzes Leben als einen zuverlässigen Mann bewiesen, der
macht eine Handlung zuverlässig, die bei andern zweideutig erscheinen
würde.
Was mich betrifft, ich fühle mich durch die letzten Prüfungen, die ich
mir auferlegt, durch die schwierigen, gefahrvollen Taten, die ich für
andere getan, berechtigt, auch etwas für mich zu tun. Was dich und
Charlotten betrifft, so sei es der Zukunft anheimgegeben; mich aber
wirst du, wird niemand von meinem Vorsatze zurückhalten.
Will man mir die Hand bieten, so bin ich auch wieder zu allem erbötig;
will man mich mir selbst überlassen oder mir wohl gar entgegen sein,
so muß ein Extrem entstehen, es werde auch, wie es wolle".
Der Major hielt es für seine Pflicht, dem Vorsatz Eduards solange als
möglich Widerstand zu leisten, und er bediente sich nun gegen seinen
Freund einer klugen Wendung, indem er nachzugeben schien und nur die
Form, den Geschäftsgang zur Sprache brachte, durch welchen man diese
Trennung, diese Verbindungen erreichen sollte.
Da trat denn so manches Unerfreuliche, Beschwerliche, Unschickliche
hervor, daß sich Eduard in die schlimmste Laune versetzt fühlte.
"Ich sehe wohl", rief dieser endlich, "nicht allein von Feinden,
sondern auch von Freunden muß, was man wünscht, erstürmt werden.
Das, was ich will, was mir unentbehrlich ist, halte ich fest im Auge;
ich werde es ergreifen und gewiß bald und behende.
Dergleichen Verhältnisse, weiß ich wohl, heben sich nicht auf und
bilden sich nicht, ohne daß manches falle, was steht, ohne daß manches
weiche, was zu beharren Lust hat.
Durch überlegung wird so etwas nicht geendet; vor dem Verstande sind
alle Rechte gleich, und auf die steigende Waagschale läßt sich immer
wieder ein Gegengewicht legen.
Entschließe dich also, mein Freund, für mich, für dich zu handeln, für
mich, für dich diese Zustände zu entwirren, aufzulösen, zu verknüpfen!
Laß dich durch keine Betrachtungen abhalten; wir haben die Welt
ohnehin schon von uns reden machen; sie wird noch einmal von uns reden,
uns sodann, wie alles übrige, was aufhört neu zu sein, vergessen und
uns gewähren lassen, wie wir können, ohne weitern Teil an uns zu
nehmen".
Der Major hatte keinen andern Ausweg und mußte endlich zugeben, daß
Eduard ein für allemal die Sache als etwas Bekanntes und
Vorausgesetztes behandelte, daß er, wie alles anzustellen sei, im
einzelnen durchsprach und sich über die Zukunft auf das heiterste,
sogar in Scherzen erging.
Dann wieder ernsthaft und nachdenklich fuhr er fort: "wollten wir uns
der Hoffnung, der Erwartung überlassen, daß alles sich von selbst
wieder finden, daß der Zufall uns leiten und begünstigen solle, so
wäre dies ein sträflicher Selbstbetrug.
Auf diese Weise können wir uns unmöglich retten, unsre allseitige Ruhe
nicht wiederherstellen; und wie sollte ich trösten können, da ich
unschuldig die Schuld an allem bin!
Durch meine Zudringlichkeit habe ich Charlotten vermocht, dich ins
Haus zu nehmen, und auch Ottilie ist nur in Gefolg von dieser
Veränderung bei uns eingetreten.
Wir sind nicht mehr Herr über das, was daraus entsprungen ist, aber
wir sind Herr, es unschädlich zu machen, die Verhältnisse zu unserm
Glücke zu leiten.
Magst du die Augen von den schönen und freundlichen Aussichten
abwenden, die ich uns eröffne, magst du mir, magst du uns allen ein
trauriges Entsagen gebieten, insofern du dirs möglich denkst, insofern
es möglich wäre: ist denn nicht auch alsdann, wenn wir uns vornehmen,
in die alten Zustände zurückzukehren, manches Unschickliche, Unbequeme,
Verdrießliche zu übertragen, ohne daß irgend etwas Gutes, etwas
Heiteres daraus entspränge?
Würde der glückliche Zustand, in dem du dich befindest, dir wohl
Freude machen, wenn du gehindert wärst, mich zu besuchen, mit mir zu
leben?
Und nach dem, was vorgegangen ist, würde es doch immer peinlich sein.
Charlotte und ich würden mit allem unserm Vermögen uns nur in einer
traurigen Lage befinden.
Und wenn du mit andern Weltmenschen glauben magst, daß Jahre, daß
Entfernung solche Empfindungen abstumpfen, so tief eingegrabene Züge
auslöschen, so ist ja eben von diesen Jahren die Rede, die man nicht
in Schmerz und Entbehren, sondern in Freude und Behagen zubringen will.
Und nun zuletzt noch das Wichtigste auszusprechen: wenn wir auch
unserm äußern und innern Zustande nach das allenfalls abwarten könnten,
was soll aus Ottilien werden, die unser Haus verlassen, in der
Gesellschaft unserer Vorsorge entbehren und sich in der verruchten,
kalten Welt jämmerlich herumdrücken müßte!
Male mir einen Zustand, worin Ottilie ohne mich, ohne uns glücklich
sein könnte, dann sollst du ein Argument ausgesprochen haben, das
stärker ist als jedes andre, das ich, wenn ichs auch nicht zugeben,
mich ihm nicht ergeben kann, dennoch recht gern aufs neue in
Betrachtung und überlegung ziehen will".
Diese Aufgabe war so leicht nicht zu lösen, wenigstens fiel dem
Freunde hierauf keine hinlängliche Antwort ein, und es blieb ihm
nichts übrig, als wiederholt einzuschärfen, wie wichtig, wie
bedenklich und in manchem Sinne gefährlich das ganze Unternehmen sei,
und daß man wenigstens, wie es anzugreifen wäre, auf das ernstlichste
zu bedenken habe.
Eduard ließ sichs gefallen, doch nur unter der Bedingung, daß ihn der
Freund nicht eher verlassen wolle, als bis sie über die Sache völlig
einig geworden und die ersten Schritte getan seien.
Völlig fremde und gegeneinander gleichgültige Menschen, wenn sie eine
Zeitlang zusammenleben, kehren ihr Inneres wechselseitig heraus, und
es muß eine gewisse Vertraulichkeit entstehen.
Um so mehr läßt sich erwarten, daß unsern beiden Freunden, indem sie
wieder nebeneinander wohnten, täglich und stündlich zusammen umgingen,
gegenseitig nichts verborgen blieb.
Sie wiederholten das Andenken ihrer früheren Zustände, und der Major
verhehlte nicht, daß Charlotte Eduarden, als er von Reisen
zurückgekommen, Ottilien zugedacht, daß sie ihm das schöne Kind in der
Folge zu vermählen gemeint habe.
Eduard, bis zur Verwirrung entzückt über diese Entdeckung, sprach ohne
Rückhalt von der gegenseitigen Neigung Charlottens und des Majors, die
er, weil es ihm gerade bequem und günstig war, mit lebhaften Farben
ausmalte.
Ganz leugnen konnte der Major nicht und nicht ganz eingestehen; aber
Eduard befestigte, bestimmte sich nur mehr.
Er dachte sich alles nicht als möglich, sondern als schon geschehen.
Alle Teile brauchten nur in das zu willigen, was sie wünschten; eine
Scheidung war gewiß zu erlangen; eine baldige Verbindung sollte folgen,
und Eduard wollte mit Ottilien reisen.
Unter allem, was die Einbildungskraft sich Angenehmes ausmalt, ist
vielleicht nichts Reizenderes, als wenn Liebende, wenn junge Gatten
ihr neues, frisches Verhältnis in einer neuen, frischen Welt zu
genießen und einen dauernden Bund an soviel wechselnden Zuständen zu
prüfen und zu bestätigen hoffen.
Der Major und Charlotte sollten unterdessen unbeschränkte Vollmacht
haben, alles, was sich auf Besitz, Vermögen und die irdischen
wünschenswerten Einrichtungen bezieht, dergestalt zu ordnen und nach
Recht und Billigkeit einzuleiten, daß alle Teile zufrieden sein
könnten.
Worauf jedoch Eduard am allrmeisten zu fußen, wovon er sich den
größten Vorteil zu versprechen schien, war dies: da das Kind bei der
Mutter bleiben sollte, so würde der Major den Knaben erziehen, ihn
nach seinen Einsichten leiten, seine Fähigkeiten entwickeln können.
Nicht umsonst hatte man ihm dann in der Taufe ihren beiderseitigen
Namen Otto gegeben.
Das alles war bei Eduarden so fertig geworden, daß er keinen Tag
länger anstehen mochte, der Ausführung näherzutreten.
Sie gelangten auf ihrem Wege nach dem Gute zu einer kleinen Stadt, in
der Eduard ein Haus besaß, wo er verweilen und die Rückkunft des
Majors abwarten wollte.
Doch konnte er sich nicht überwinden, daselbst sogleich abzusteigen,
und begleitete den Freund noch durch den Ort.
Sie waren beide zu Pferde, und in bedeutendem Gespräch verwickelt
ritten sie zusammen weiter.
Auf einmal erblickten sie in der Ferne das neue Haus auf der Höhe,
dessen rote Ziegeln sie zum erstenmal blinken sahen.
Eduarden ergreift eine unwiderstehliche Sehnsucht; es soll noch diesen
Abend alles abgetan sein.
In einem ganz nahen Dorfe will er sich verborgen halten; der Major
soll die Sache Charlotten dringend vorstellen, ihre Vorsicht
überraschen und durch den unerwarteten Antrag sie zu freier Eröffnung
ihrer Gesinnung nötigen.
Denn Eduard, der seine Wünsche auf sie übergetragen hatte, glaubte
nicht anders, als daß er ihren entschiedenen Wünschen entgegenkomme,
und hoffte eine so schnelle Einwilligung von ihr, weil er keinen
andern Willen haben konnte.
Er sah den glücklichen Ausgang freudig vor Augen, und damit dieser dem
Lauernden schnell verkündigt würde, sollten einige Kanonenschläge
losgebrannt werden und, wäre es Nacht geworden, einige Raketen steigen.
Der Major ritt nach dem Schlosse zu.
Er fand Charlotten nicht, sondern erfuhr vielmehr, daß sie gegenwärtig
oben auf dem neuen Gebäude wohne, jetzt aber einen Besuch in der
Nachbarschaft ablege, von welchem sie heute wahrscheinlich nicht so
bald nach Hause komme.
Er ging in das Wirtshaus zurück, wohin er sein Pferd gestellt hatte.
Eduard indessen, von unüberwindlicher Ungeduld getrieben, schlich aus
seinem Hinterhalte durch einsame Pfade, nur Jägern und Fischern
bekannt, nach seinem Park und fand sich gegen Abend im Gebüsch in der
Nachbarschaft des Sees, dessen Spiegel er zum erstenmal vollkommen und
rein erblickte.
Ottilie hatte diesen Nachmittag einen Spaziergang an den See gemacht.
Sie trug das Kind und las im Gehen nach ihrer Gewohnheit.
So gelangte sie zu den Eichen bei der überfahrt.
Der Knabe war eingeschlafen; sie setzte sich, legte ihn neben sich
nieder und fuhr zu lesen.
Das Buch war eins von denen, die ein zartes Gemüt an sich ziehen und
nicht wieder loslassen.
Sie vergaß Zeit und Stunde und dachte nicht, daß sie zu Lande noch
einen weiten Rückweg nach dem neuen Gebäude habe; aber sie saß
versenkt in ihr Buch, in sich selbst, so liebenswürdig anzusehen, daß
die Bäume, die Sträuche ringsumher hätten belebt, mit Augen begabt
sein sollen, um sie zu bewundern und sich an ihr zu erfreuen.
Und eben fiel ein rötliches Streiflicht der sinkenden Sonne hinter ihr
her und vergoldete Wange und Schulter.
Eduard, dem es bisher gelungen war, unbemerkt so weit vorzudringen,
der seinen Park leer; die Gegend einsam fand, wagte sich immer weiter.
Endlich bricht er durch das Gebüsch bei den Eichen, er sieht Ottilien,
sie ihn; er fliegt auf sie zu und liegt zu ihren Füßen.
Nach einer langen, stummen Pause, in der sich beide zu fassen suchen,
erklärt er ihr mit wenig Worten, warum und wie er hieher gekommen.
Er habe den Major an Charlotten abgesendet, ihr gemeinsames Schicksal
werde vielleicht in diesem Augenblick entschieden.
Nie habe er an ihrer Liebe gezweifelt, sie gewiß auch nie an der
seinigen.
Er bitte sie um ihre Winwilligung.
Sie zauderte, er beschwur sie; er wollte seine alten Rechte geltend
machen und sie in seine Arme schließen; sie deutete auf das Kind hin.
Eduard erblickt es und staunt.
"Großer Gott!" ruft er aus, "wenn ich Ursache hätte, an meiner Frau,
an meinem Freunde zu zweifeln, so würde diese Gestalt fürchterlich
gegen sie zeugen.
Ist dies nicht die Bildung des Majors?
Solch ein Gleichen habe ich nie gesehen".
"Nicht doch!" versetzte Ottilie; "alle Welt sagt, es gleiche mir".
-"Wär es möglich?" versetzte Eduard, und in dem Augenblick schlug das
Kind die Augen auf, zwei große, schwarze, durchdringende Augen, tief
und freundlich.
Der Knabe sah die Welt schon so verständig an; er schien die beiden zu
kennen, die vor ihm standen.
Eduard warf sich bei dem Kinde nieder, er kniete zweimal vor Ottilien.
"Du bists!" rief er aus, "deine Augen sinds.
Ach!
Aber laß mich nur in die deinigen schaun.
Laß mich einen Schleier werfen über jene unselige Stunde, die diesem
Wesen das Dasein gab.
Soll ich deine reine Seele mit dem unglücklichen Gedanken erschrecken,
daß Mann und Frau entfremdet sich einander ans Herz drücken und einen
gesetzlichen Bund durch lebhafte Wünsche entheiligen können?
Oder ja, da wir einmal so weit sind, da mein Verhältnis zu Charlotten
getrennt werden muß, da du die Meinige sein wirst, warum soll ich es
nicht sagen?
Warum soll ich das harte Wort nicht aussprechen: dies Kind ist aus
einem doppelten Ehbruch erzeugt!
Es trennt mich von meiner Gattin und meine Gattin von mir, wie es uns
hätte verbinden sollen.
Mag es denn gegen mich zeugen, mögen diese herrlichen Augen den
deinigen sagen, daß ich in den Armen einer andern dir gehörte; mögest
du fühlen, Ottilie, recht fühlen, daß ich jenen Fehler, jenes
Verbrechen nur in deinen Armen abbüßen kann!"
"Horch!" rief er aus, indem er aufsprang und einen Schuß zu hören
glaubte, als das Zeichen, das der Major geben sollte.
Es war ein Jäger, der im benachbarten Gebirg geschossen hatte.
Es erfolgte nichts weiter; Eduard war ungeduldig.
Nun erst sah Ottilie, daß die Sonne sich hinter die Berge gesenkt
hatte.
Noch zuletzt blinkte sie von den Fenstern des obern Gebäudes zurück.
"Entferne dich, Eduard!" rief Ottilie".
"O lange haben wir entbehrt, so lange geduldet.
Bedenke, was wir beide Charlotten schuldig sind.
Sie muß unser Schicksal entscheiden, laß uns ihr nicht vorgreifen.
Ich bin die Deine, wenn sie es vergönnt; wo nicht, so muß ich dir
entsagen.
Da du die Entscheidung so nah glaubst, so laß uns erwarten.
Geh in das Dorf zurück, wo der Major dich vermutet.
Wie manches kann vorkommen, das eine Erklärgung fordert.
Ist es wahrscheinlich, daß ein roher Kanonenschlag dir den Erfolg
seiner Unterhandlungen verkünde?
Vielleicht sucht er dich auf in diesem Augenblick.
Er hat Charlotten nicht getroffen, das weiß ich; er kann ihr
entgegengegangen sein, denn man wußte, wo sie hin war.
Wie vielerlei Fälle sind möglich!
Laß mich!
Jetzt muß sie kommen.
Sie erwartet mich mit dem Kinde dort oben".
Ottilie sprach in Hast.
Sie rief sich alle Möglichkeiten zusammen. Sie war glücklich in
Eduards Nähe und fühlte, daß sie ihn jetzt entfernen müsse.
"Ich bitte, ich beschwöre dich, Geliebter!" ief sie aus, "kehre zurück
und erwarte den Major!"—"Ich gehorche deinen Befehlen", rief Eduard,
indem er sie erst leidenschaftlich anblickte und sie dann fest in
seine Arme schloß.
Sie umschlang ihn mit den ihrigen und drückte ihn auf das zärtlichste
an ihre Brust.
Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom Himmel fällt, über ihre
Häupter weg.
Sie wähnten, sie glaubten einander anzugehören; sie wechselten zum
erstenmal entschiedene, freie Küsse und trennten sich gewaltsam und
schmerzlich.
Die Sonne war untergegangen, und es dämmerte schon und duftete feucht
um den See.
Ottilie stand verwirrt und bewegt; sie sah nach dem Berghause hinüber
und glaubte Charlottens weißes Kleid auf dem Altan zu sehen.
Der Umweg war groß am See hin; sie kannte Charlottens ungeduldiges
Haaren nach dem Kinde.
Die Platanen sieht sie gegen sich über, nur ein Wasserraum trennt sie
von dem Pfade, der sogleich zu dem Gebäude hinaufführt.
Mit Gedanken ist sie schon drüben wie mit den Augen.
Die Bedenklichkeit, mit dem Kinde sich aufs Wasser zu wagen,
verschwindet in diesem Drange.
Sie eilt nach dem Kahn, sie fühlt nicht, daß ihr Herz pocht, daß ihre
Füße schwanken, daß ihr die Sinne zu vergehen drohn.
Sie springt in den Kahn, ergreift das Ruder und stößt ab.
Sie muß Gewalt brauchen, sie wiederholt den Stoß, der Kahn schwankt
und gleitet eine Strecke seewärts.
Auf dem linken Arme das Kind, in der linken Hand das Buch, in der
rechten das Ruder, schwankt auch sie und fällt in den Kahn.
Das Ruder entfährt ihr nach der einen Seite und, wie sie sich erhalten
will, Kind und Buch nach der andern, alles ins Wasser.
Sie ergreift noch des Kindes Gewand; aber ihre unbequeme Lage hindert
sie selbst am Aufstehen.
Die freie rechte Hand ist nicht hinreichend sich umzuwenden, sich
aufzurichten; endlich gelingts, sie zieht das Kind aus dem Wasser,
aber seine Augen sind geschlossen, es hat aufgehört zu atmen.
In dem Augenblick kehrt ihre ganze Besonnenheit zurück, aber um desto
größer ist ihr Schmerz.
Der Kahn treibt fast in der Mitte des Sees, das Ruder schwimmt fern,
sie erblickt niemanden am Ufer, und auch was hätte es ihr geholfen,
jemanden zu sehen!
Von allem abgesondert, schwebt sie auf dem treulosen, unzugänglichen
Elemente.
Sie sucht Hülfe bei sich selbst.
So oft hatte sie von Rettung der Ertrunkenen gehört.
Noch am Abend ihres Geburtstags hatte sie es erlebt.
Sie entkleidet das Kind und trocknets mit ihrem Musselingewand.
Sie reißt ihren Busen auf und zeigt ihn zum erstenmal dem freien
Himmel; zum erstenmal drückt sie ein Lebendiges an ihre reine nackte
Brust, ach!
Und kein Lebendiges.
Die kalten Glieder des unglücklichen Geschöpfs verkälten ihren Busen
bis ins innerste Herz.
Unendliche Tränen entquellen ihren Augen und erteilen der Oberfläche
des Erstarrten einen Schein von Wärme und Leben.
Sie läßt nicht nach, sie überhüllt es mit ihrem Schal, und durch
Streicheln, Andrücken, Anhauchen, Küssen, Tränen glaubt sie jene
Hülfsmittel zu ersetzen, die ihr in dieser Abgeschnittenheit versagt
sind. Alles vergebens!
Ohne Bewegung liegt das Kind in ihren Armen, ohne Bewegung steht der
Kahn auf der Wasserfläche; aber auch hier läßt ihr schönes Gemüt sie
nicht hülflos.
Sie wendet sich nach oben.
Knieend sinkt sie in dem Kahne nieder und hebt das erstarrte Kind mit
beiden Armen über ihre unschuldige Brust, die an Weiße und leider auch
an Kälte dem Marmor gleicht.
Mit feuchtem Blick sieht sie empor und ruft Hülfe von daher, wo ein
zartes Herz die größte Fülle zu finden hofft, wenn es überall mangelt.
Auch wendet sie sich nicht vergebens zu den Sternen, die schon einzeln
hervorzublinken anfangen.
Ein sanfter Wind erhebt sich und treibt den Kahn nach dem Platanen.
Sie eilt nach dem neuen Gebäude, sie ruft den Chirurgus hervor, sie
übergibt ihm das Kind.
Der auf alles gefaßte Mann behandelt den zarten Leichnam stufenweise
nach gewohnter Art.
Ottilie steht ihm in allem bei; sie schafft, sie bringt, sie sorgt,
zwar wie in einer andern Welt wandelnd, denn das höchste Unglück wie
das höchste Glück verändert die Ansicht aller Gegenstände; und nur,
als nach allen durchgegangenen Versuchen der wackere Mann den Kopf
schüttelt, auf ihre hoffnungsvollen Fragen erst schweigend, dann mit
einem leisen Nein antwortet, verläßt sie das Schlafzimmer Charlottens,
worin dies alles geschehen, und kaum hat sie das Wohnzimmer betreten,
so fällt sie, ohne den Sofa erreichen zu können, erschöpft aufs
Angesicht über den Teppich hin.
Eben hört man Charlotten vorfahren.
Der Chirurg bittet die Umstehenden dringend, zurückzubleiben, er will
ihr entgegnen, sie vorbereiten; aber schon betritt sie ihr Zimmer.
Sie findet Ottilien an der Erde, und ein Mädchen des Hauses stürzt ihr
mit Geschrei und Weinen entgegen.
Der Chirurg tritt herein, und sie erfährt alles auf einmal.
Wie sollte sie aber jede Hoffnung mit einmal aufgeben!
Der erfahrne, kunstreiche, kluge Mann bittet sie nur, das Kind nicht
zu sehen; er entfernt sich, sie mit neuen Anstalten zu täuschen.
Sie hat sich auf ihren Sofa gesetzt, Ottilie liegt noch an der Erde,
aber an der Freundin Kniee herangehoben, über die ihr schönes Haupt
hingesenkt ist.
Der ärztliche Freund geht ab und zu; er scheint sich um das Kind zu
bemühen, er bemüht sich um die Frauen.
So kommt die Mitternacht herbei, die Totenstille wird immer tiefer.
Charlotte verbirgt sichs nicht mehr, daß das Kind nie wieder ins Leben
zurückkehre; sie verlangt es zu sehen.
Man hat es in warme wollne Tücher reinlich eingehüllt, in einen Korb
gelegt, den man neben sie auf den Sofa setzt; nur das Gesichtchen ist
frei; ruhig und schön liegt es da.
Von dem Unfall war das Dorf bald erregt worden und die Kunde sogleich
bis nach dem Gasthof erschollen.
Der Major hatte sich die bekannten Wege hinaufbegeben; er ging um das
Haus herum, und indem er einen Bedienten anhielt, der in dem Angebäude
etwas zu holen lief, verschaffte er sich nähere Nachricht und ließ den
Chirurgen herausrufen.
Dieser kam, erstaunt über die Erscheinung seines alten Gönners,
berichtete ihm die gegenwärtige Lage und übernahm es, Charlotten auf
seinen Anblick vorzubereiten.
Er ging hinein, fing ein ableitendes Gespräch an und führte die
Einbildungskraft von einem Gegenstand auf den andern, bis er endlich
den Freund Charlotten vergegenwärtigte, dessen gewisse Teilnahme,
dessen Nähe dem Geiste, der Gesinnung nach, die er denn bald in eine
wirkliche übergehen ließ.
Genug, sie erfuhr, der Freund stehe vor der Tür, er wisse alles und
wünsche eingelassen zu werden.
Der Major trat herein; ihn begrüßte Charlotte mit einem schmerzlichen
Lächeln.
Er stand vor ihr.
Sie hub die grünseidne Decke auf, die den Leichnam verbarg, und bei
dem dunklen Schein einer Kerze erblickte er nicht ohne geheimes
Grausen sein erstarrtes Ebenbild.
Charlotte deutete auf einen Stuhl, und so saßen sie gegeneinader über,
schweigend, die Nacht hindurch.
Ottilie lag noch ruhig auf den Knieen Charlottens; sie atmete sanft;
sie schlief, oder sie schien zu schlafen.
Der Morgen dämmerte, das Licht verlosch, beide Freunde schienen aus
einem dumpfen Traum zu erwachen.
Charlotte blickte den Major an und sagte gefaßt: "erklären Sie mir,
mein Freund, durch welche Schickung kommen Sie hieher, um teil an
dieser Trauerszene zu nehmen?" "Es ist hier", antwortete der Major
ganz leise, wie sie gefragt hatte—als wenn sie Ottilien nicht
aufwecken wollten -, "es ist hier nicht Zeit und Ort, zurückzuhalten,
Einleitungen zu machen und sachte heranzutreten.
Der Fall, in dem ich Sie finde, ist so ungeheuer, daß das Bedeutende
selbst, weshalb ich komme, dagegen seinen Wert verliert".
Er gestand ihr darauf ganz ruhig und einfach den Zweck seiner Sendung,
insofern Eduard ihn abgeschickt hatte, den Zweck seines Kommens,
insofern sein freier Wille, sein eigenes Interesse dabei war.
Er trug beides sehr zart, doch aufrichtig vor; Charlotte hörte
gelassen zu und schien weder darüber zu staunen noch unwillig zu sein.
Als der Major geendigt hatte, antwortete Charlotte mit ganz leiser
Stimme, sodaß er genötigt war, seinen Stuhl heranzurücken: in einem
Falle, wie dieser ist, habe ich mich noch nie befunden, aber in
ähnlichen habe ich mir immer gesagt: 'wie wird es morgen sein?'
Ich fühle recht wohl, daß das Los von mehreren jetzt in meinen Händen
liegt; und was ich zu tun habe, ist bei mir außer Zweifel und bald
ausgesprochen.
Ich willige in die Scheidung.
Ich hätte mich früher dazu entschließen sollen; durch mein Zaudern,
mein Widerstreben habe ich das Kind getötet.
Es sind gewisse Dinge, die sich das Schicksal hartnäckig vornimmt.
Vergebens, daß Vernunft und Tugend, Pflicht und alles Heilige sich ihm
in den Weg stellen: es soll etwas geschehen, was ihm recht ist, was
uns nicht recht scheint; und so greift es zuletzt durch, wir mögen uns
gebärden, wie wir wollen.
Doch was sag ich!
Eigentlich will das Schicksal meinen eigenen Wunsch, meinen eigenen
Vorsatz, gegen die ich unbedachtsam gehandelt, wieder in den Weg
bringen.
Habe ich nicht selbst schon Ottilien und Eduarden mir als das
schicklichste Paar zusammengedacht?
Habe ich nicht selbst beide einander zu nähern gesucht?
Waren Sie nicht selbst, mein Freund, Mitwisser dieses Plans?
Und warum konnte ich den Eigensinn eines Mannes nicht von wahrer Liebe
unterscheiden?
Warum nahm ich seine Hand an, da ich als Freundin ihn und eine andre
Gattin glücklich gemacht hätte?
Und betrachten Sie nur diese unglückliche Schlummernde!
Ich zittere vor dem Augenblicke, wenn sie aus ihrem halben
Totenschlafe zum Bewußtsein erwacht.
Wie soll sie leben, wie soll sie sich trösten, wenn sie nicht hoffen
kann, durch ihre Liebe Eduarden das zu ersetzen, was sie ihm als
Werkzeug des wunderbarsten Zufalls geraubt hat?
Und sie kann ihm alles wiedergeben nach der Neigung, nach der
Leidenschaft, mit der sie ihn liebt.
Vermag die Liebe, alles zu dulden, so vermag sie noch viel mehr, alles
zu ersetzen.
An mich darf in diesem Augenblick nicht gedacht werden.
Entfernen Sie sich in der Stille, lieber Major.
Sagen Sie Eduarden, daß ich in die Scheidung willige, daß ich ihm,
Ihnen, Mittlern die ganze Sache einzuleiten überlasse, daß ich um
meine künftige Lage unbekümmert bin und es in jedem Sinne sein kann.
Ich will jedes Papier unterschreiben, das man mir bringt; aber man
verlange nur nicht von mir, daß ich mitwirke, daß ich bedenke, daß ich
berate".
Der Major stand auf.
Sie reichte ihm ihre Hand über Ottilien weg.
Er drückte seine Lippen auf diese liebe Hand.
"Und für mich, was darf ich hoffen?" lispelte er leise.
"Lassen Sie mich Ihnen die Antwort schuldig bleiben", versetzte
Charlotte.
"Wir haben nicht verschuldet, unglücklich zu werden, aber durch nicht
verdient, zusammen glücklich zu sein".
Der Major entfernte sich, Charlotten tief im Herzen beklagend, ohne
jedoch das arme abgeschiedene Kind bedauern zu können.
Ein solches Opfer schien ihm nötig zu ihrem allseitigen Glück. Er
dachte sich Ottilien mit einem eignen Kind auf dem Arm, als den
vollkommensten Ersatz für das, was sie Eduarden geraubt; er dachte
sich einen Sohn auf dem Schoße, der mit mehrerem Recht sein Ebenbild
trüge als der abgeschiedene.
So schmeichelnde Hoffnungen und Bilder gingen ihm durch die Seele, als
er auf dem Rückwege nach dem Gasthofe Eduarden fand, der die ganze
Nacht im Freien den Major erwartet hatte, da ihm kein Feuerzeichen,
kein Donnerlaut ein glückliches Gelingen verkünden wollte.
Er wußte bereits von dem Unglück, und auch er, anstatt das arme
Geschöpf zu bedauern, sah diesen Fall, ohne sichs ganz gestehen zu
wollen, als eine Fügung an, wodurch jedes Hindernis an seinem Glück
auf einmal beseitigt wäre.
Gar leicht ließ er sich daher durch den Major bewegen, der ihm schnell
den Entschluß seiner Gattin verkündigte, wieder nach jenem Dorfe und
sodann nach der kleinen Stadt zurückzukehren, wo sie das Nächste
überlegen und einleiten wollten.
Charlotte saß, nachdem der Major sie verlassen hatte, nur wenige
Minuten in ihre Betrachtungen versenkt; denn sogleich richtete Ottilie
sich auf, ihre Freundin mit großen Augen anblickend.
Erst erhob sich von dem Schoße, dann von der Erde und stand vor
Charlotten.
"Zum zweitenmal"—so begann das herrliche Kind mit einem
unüberwindlichen, anmutigen Ernst -"zum zweitenmal widerfährt mir
dasselbe.
Du sagtest mir einst, es begegne den Menschen in ihrem Leben oft
ähnliches auf ähnliche Weise und immer in bedeutenden Augenblicken.
Ich finde nun die Bemerkung wahr und bin gedrungen, dir ein Bekenntnis
zu machen.
Kurz nach meiner Mutter Tode, als ein kleines Kind, hatte ich meinen
Schemel an dich gerückt; du saßest auf dem Sofa wie jetzt; mein Haupt
lag auf deinen Knieen, ich schlief nicht, ich wachte nicht; ich
schlummerte.
Ich vernahm alles, was um mich vorging, besonders alle Reden sehr
deutlich; und doch konnte ich mich nicht regen, mich nicht äußern und,
wenn ich auch gewollt hätte, nicht andeuten, daß ich meiner selbst
mich bewußt fühlte.
Damals sprachst du mit einer Freundin über mich; du bedauertest mein
Schicksal, als eine arme Waise in der Welt geblieben zu sein; du
schuildertest meine abhängige Lage und wie mißlich es um mich stehen
könne, wenn nicht ein besondrer Glücksstern über mich walte.
Ich faßte alles wohl und genau, vielleicht zu streng, was du für mich
zu wünschen, was du von mir zu fordern schienst.
Ich machte mir nach meinen beschränkten Einsichten hierüber Gesetze;
nach diesen habe ich lange gelebt, nach ihnen war mein Tun und Lassen
eingerichtet zu der Zeit, da du mich liebtest, für mich sorgtest, da
du mich in dein Haus aufnahmst, und auch noch eine Zeit hernach.
Aber ich bin aus meiner Bahn geschritten, ich habe meine Gesetze
gebrochen, ich habe sogar das Gefühl derselben verloren, und nach
einem schrecklichen Ereignis klärst du mich wieder über meinen Zustand
auf, der jammervoller ist als der erste.
Auf deinem Schoße ruhend, halb erstarrt, wie aus einer fremden Welt
vernehm ich abermals deine leise Stimme über meinem Ohr; ich vernehme,
wie es mit mir selbst aussieht; ich schaudere über mich selbst; aber
wie damals habe ich auch diesmal in meinem halben Totenschlaf mir
meine neue Bahn vorgezeichnet.
Ich bin entschlossen, wie ichs war, und wozu ich entschlossen bin,
mußt du gleich erfahren.
Eduards werd ich nie!
Auf eine schreckliche Weise hat Gott mir die Augen geöffnet, in
welchem Verbrechen ich befangen bin.
Ich will es büßen; und niemand gedenke mich von meinem Vorsatz
abzubringen!
Darnach, Liebe, Beste, nimm deine Maßregeln.
Laß den Major zurückkommen; schreibe ihm, daß keine Schritte geschehen.
Wie ängstlich war mir, daß ich mich nicht rühren und regen konnte, als
er ging.
Ich wollte auffahren, aufschreien: du solltest ihn nicht mit so
frevelhaften Hoffnungen entlassen".
Charlotte sah Ottiliens Zustand, sie empfand ihn; aber sie hoffte
durch Zeit und Vorstellungen etwas über sie zu gewinnen.
Doch als sie einige Worte aussprach, die auf eine Zukunft, auf eine
Milderung des Schmerzes, auf Hoffnung deuteten: "nein!" rief Ottilie
mit Erhebung; "sucht mich nicht zu bewegen, nicht zu hintergehen!
In dem Augenblick, in dem ich erfahre, du habest in die Scheidung
gewilligt, büße ich in demselbigen See mein Vergehen, mein Verbrechen".
Wenn sich in einem glücklichen, friedlichen Zusammenleben Verwandte,
Freunde, Hausgenossen, mehr als nötig und billig ist, von dem
unterhalten, was geschieht oder geschehen soll, wenn sie sich einander
ihre Vorsätze, Unternehmungen, Beschäftigungen wiederholt mitteilen
und, ohne gerade wechselseitigen Rat anzunehmen, doch immer das ganze
Leben gleichsam ratschlagend behandeln, so findet man dagegen in
wichtigen Momenten, eben da, wo es scheinen sollte, der Mensch bedürfe
fremden Beistandes, fremder Bestätigung am allermeisten, daß sich die
einzelnen auf sich selbst zurückziehen, jedes für sich zu handeln,
jedes auf seine Weise zu wirken strebt und, indem man sich einander
die einzelnen Mittel verbirgt, nur erst der Ausgang, die Zwecke, das
Erreichte wieder zum Gemeingut werden.
Nach so viel wundervollen und unglücklichen Ereignissen war denn auch
ein gewisser stiller Ernst über die Freundinnen gekommen, der sich in
einer liebenswürdigen Schonung äußerte.
Ganz in der Stille hatte Scharlotte das Kind nach der Kapelle gesendet.
Es ruhte dort als das erste Opfer eines ahnungsvollen Verhängnisses.
Charlotte kehrte sich, soviel es ihr möglich war, gegen das Leben
zurück, und hier fand sie Ottilien zuerst, die ihres Beistandes
bedurfte.
Sie beschäftigte sich vorzüglich mit ihr, ohne es jedoch merken zu
lassen.
Sie wußte, wie sehr das himmlische Kind Eduarden liebte; sie hatte
nach und nach die Szene, die dem Unglück vorhergegangen war,
herausgeforscht und jeden Umstand teils von Ottilien selbst, teils
durch Briefe des Majors erfahren.
Ottilie von ihrer Seite erleichterte Charlotten sehr das
augenblickliche Leben.
Sie war offen, ja gesprächig, aber niemals war von dem Gegenwärtigen
oder kurz Vergangenen die Rede.
Sie hatte stets aufgemerkt, stets beobachtet, sie wußte viel; das kam
jetzt alles zum Vorschein.
Sie unterhielt, sie zerstreute Charlotten, die noch immer die stille
Hoffnung nährte, ein ihr so wertes Paar verbunden zu sehen.
Allein bei Ottilien hing es anders zusammen.
Sie hatte das Geheimnis ihres Lebensganges der Freundin entdeckt; sie
war von ihrer frühen Einschränkung, von ihrer Dienstbarkeit entbunden.
Durch ihre Reue, durch ihren Entschluß fühlte sie sich auch befreit
von der Last jenes Vergehens, jenes Mißgeschicks.
Sie bedurfte keiner Gewalt mehr über sich selbst; sie hatte sich in
der Tiefe ihres Herzens nur unter der Bedingung des völligen Entsagens
verziehen, und diese Bedingung war für alle Zukunft unerläßlich. So
verfloß einige Zeit, und Charlotte fühlte, wie sehr Haus und Park,
Seen, Felsen—und Baumgruppen nur traurige Empfindungen täglich in
ihnen beiden erneuerten.
Daß man den Ort verändern müsse, war allzu deutlich, wie es geschehen
solle, nicht so leicht zu entscheiden.
Sollten die beiden Frauen zusammenbleiben?
Eduards früherer Wille schien es zu gebieten, seine Erklärung, seine
Drohung es nötig zu machen; allein wie war es zu verkennen, daß beide
Frauen mit allem guten Willen, mit aller Vernunft, mit aller
Anstrengung sich in einer peinlichen Lage nebeneinander befanden?
Ihre Unterhaltungen waren vermeidend.
Manchmal mochte man gern etwas nur halb verstehen, öfters wurde aber
doch ein Ausdruck, wo nicht durch den Verstand, wenigstens durch die
Empfindung mißdeutet.
Man fürchtet sich zu verletzen, und gerade die Furcht war am ersten
verletzbar und verletzte am ersten.
Wollte man den Ort verändern und sich zugleich, wenigstens auf einige
Zeit, voneinander trennen, so trat die alte Frage wieder hervor, wo
sich Ottilie hinbegeben solle.
Jenes große, reiche Haus hatte vergebliche Versuche gemacht, einer
hoffnungsvollen Erbtochter unterhaltende und wetteifernde Gespielinnen
zu verschaffen.
Schon bei der letzten Anwesenheit der Baronesse und neuerlich durch
Briefe war Charlotte aufgefordert worden, Ottilien dorthin zu senden;
jetzt brachte sie es abermals zur Sprache.
Ottilie verweigerte aber ausdrücklich, dahin zu gehen, wo sie
dasjenige finden würde, was man große Welt zu nennen pflegt.
"Lassen Sie mich, liebe Tante", sagte sie, "damit ich nicht
eingeschränkt und eigensinnig erscheine, dasjenige aussprechen, was zu
verschweigen, zu verbergen in einem andern Falle Pflicht wäre.
Ein seltsam unglücklicher Mensch, und wenn er auch schuldlos wäre, ist
auf eine fürchterliche Weise gezeichnet.
Seine Gegenwart erregt in allen, die ihn sehen, die ihn gewahr werden,
eine Art von Entsetzen.
Jeder will das Ungeheure ihm ansehen, was ihm auferlegt ward; jeder
ist neugierig und ängstlich zugleich.
So bleibt ein Haus, eine Stadt, worin eine ungeheure Tat geschehen,
jedem furchtbar, der sie betritt.
Dort leuchtet das Licht des Tages nicht so hell, und die Sterne
scheinen ihren Glanz zu verlieren.
Wie groß und hoch vielleicht zu entschuldigen ist gegen solche
Unglückliche die Indiskretion der Menschen, ihre alberne
Zudringlichkeit und ungeschickte Gutmütigkeit!
Verzeihen Sie mir, daß ich so rede; aber ich habe unglaublich mit
jenem armen Mädchen gelitten, als es Luciane aus den verborgenen
Zimmern des Hauses hervorzog, sich freundlich mit ihm beschäftigte, es
in der besten Absicht zu Spiel und Tanz nötigen wollte.
als das arme Kind bange und immer bänger zuletzt floh und in Ohnmacht
sank, ich es in meine Arme faßte, die Gesellschaft erschreckt,
aufgeregt und jeder erst recht neugierig auf die Unglückselige ward,
da dachte ich nicht, daß mir ein gleiches Schicksal bevorstehe; aber
mein Mitgefühl, so wahr und lebhaft, ist noch lebendig.
Jetzt kann ich mein Mitleiden gegen mich selbst wenden und mich hüten,
daß ich nicht zu ähnlichen Auftritt Anlaß gebe".
"Du wirst aber, liebes Kind", versetzte Charlotte, "dem Anblick der
Menschen dich nirgends entziehen können.
Klöster haben wir nicht, in denen sonst eine Freistatt für solche
Gefühle zu finden war".
"Die Einsamkeit macht nicht die Freistatt, liebe Tante", versetzte
Ottilie.
"Die schätzenswerteste Freistatt ist da zu suchen, wo wir tätig sein
können.
Alle Büßungen, alle Entbehrungen sind keineswegs geeignet, uns einem
ahnungsvollen Geschick zu entziehen, wenn es uns zu verfolgen
entschieden ist.
Nur wenn ich im müßigen Zustande der Welt zur Schau dienen soll, dann
ist sie mir widerwärtig und ängstigt mich.
Findet man mich aber freudig bei der Arbeit, unermüdet in meiner
Pflicht, dann kann ich die Blicke eines jeden aushalten, weil ich die
göttlichen nicht zu scheuen brauche".
"Ich müßte mich sehr irren", versetzte Charlotte, "wenn deine Neigung
dich nicht zur Pension zurückzöge".
"Ja", versetzte Ottilie, "ich leugne es nicht; ich denke es mir als
eine glückliche Bestimmung, andre auf dem gewöhnlichen Wege zu
erziehen, wenn wir auf dem sonderbarsten erzogen worden.
Und sehen wir nicht in der Geschichte, daß Menschen, die wegen großer
sittlicher Unfälle sich in die Wüsten zurückzogen, dort keineswegs,
wie sie hofften, verborgen und gedeckt waren?
Sie wurden zurückgerufen in die Welt, um die Verirrten auf den rechten
Weg zu führen; und wer konnte es besser als die in den Irrgängen des
Lebens schon Eingeweihten!
Sie wurden berufen, den Unglücklichen beizustehen; und wer vermochte
das eher als sie, denen kein irdisches Unheil mehr begegnen konnte!"
"Du wählst eine sonderbare Bestimmung", versetzte Charlotte. "Ich
will dir nicht widerstreben; es mag sein, wenn auch nur, wie ich hoffe,
auf kurze Zeit".
"Wie sehr danke ich Ihnen", sagte Ottilie, "daß Sie mir diesen Versuch,
diese Erfahrung gönnen wollen.
Schmeichle ich mir nicht zu sehr, so soll es mir glücken.
An jenem Orte will ich mich erinnern, wie manche Prüfungen ich
ausgestanden und wie klein, wie nichtig sie waren gegen die, die ich
nachher erfahren mußte.
Wie heiter werde ich die Verlegenheiten der jungen Auschößlinge
betrachten, bei ihren kindlichen Schmerzen lächeln und sie mit leiser
Hand aus allen kleinen Verirrungen herausführen.
Der Glückliche ist nicht geeignet, Glücklichen vorzustehen; es liegt
in der menschlichen Natur, immer mehr von sich und von andern zu
fordern, je mehr man empfangen hat.
Nur der Unglückliche, der sich erholt, weiß für sich und andere das
Gefühl zu nähren, daß auch ein mäßiges Gute mit Entzücken genossen
werden soll".
"Laß mich gegen deinen Vorsatz", sagte Charlotte zuletzt nach einigem
Bedenken, "noch einen Einwurf anführen, der mir der wichtigste scheint.
Es ist nicht von dir, es ist von einem Dritten die Rede.
Die Gesinnungen des guten, vernünftigen, frommen Gehülfen sind dir
bekannt; auf dem Wege, den du gehst, wirst du ihm jeden Tag werter und
unentbehrlicher sein.
Da er schon jetzt seinem Gefühl nach nicht gern ohne dich leben mag,
so wird er auch künftig, wenn er einmal deine Mitwirkung gewohnt ist,
ohne dich sein Geschäft nicht mehr verwalten können.
Du wirst ihm anfangs darin beistehen, um es ihm hernach zu verleiden".
"Das Geschick ist nicht sanft mit mir verfahren", versetzte Ottilie,
"und wer mich liebt, hat vielleicht nicht viel Besseres zu erwarten.
So gut und verständig als der Freund ist, ebenso, hoffe ich, wird sich
in ihm auch die Empfindung eines reinen Verhältnisses zu mir
entwickeln; er wird in mir eine geweihte Person erblicken, die nur
dadurch ein ungeheures übel für sich und andre vielleicht aufzuwiegen
vermag, wenn sie sich dem Heiligen widmet, das, uns unsichtbar
umgebend, allein gegen die ungeheuren zudringenden Mächte beschirmen
kann".
Charlotte nahm alles, was das liebe Kind so herzlich geäußert, zur
stillen überlegung.
Sie hatte verschiedentlich, obgleich auf das leiseste, angeforscht, ob
nicht eine Annäherung Ottiliens zu Eduard denkbar sei; aber auch nur
die leiseste Erwähnung, die mindeste Hoffnung, der kleinste Verdacht
schien Ottilien aufs tiefste zu rühren, ja sie sprach sich einst, da
sie es nicht umgehen konnte, hierüber ganz deutlich aus.
"Wenn dein Entschluß", entgegnete ihr Charlotte, "Eduarden zu entsagen,
so fest und unveränderlich ist, so hüte dich nur vor der Gefahr des
Wiedersehens.
In der Entfernung von dem geliebten Gegenstande scheinen wir, je
lebhafter unsere Neigung ist, desto mehr Herr von uns selbst zu werden,
indem wir die ganze Gewalt der Leidenschaft, wie sie sich nach außen
erstreckte, nach innen wenden; aber wie bald, wie geschwind sind wir
aus diesem Irrtum gerissen, wenn dasjenige, was wir entbehren zu
können glaubten, auf einmal wieder als unentbehrlich vor unsern Augen
steht.
Tue jetzt, was du deinen Zuständen am gemäßesten hältst; prüfe dich,
ja verändre lieber deinen gegenwärtigen Entschluß: aber aus dir selbst,
aus freiem, wollendem Herzen.
Laß dich nicht zufällig, nicht durch überraschung in die vorigen
Verhältnisse wieder hineinziehen; dann gibt es erst einen Zwiespalt im
Gemüt, der unerträglich ist.
Wie gesagt, ehe du diesen Schritt tust, ehe du dich von mir entfernst
und ein neues Leben anfängst, das dich wer weiß auf welche Wege leitet,
so bedenke noch einmal, ob du denn wirklich für alle Zukunft Eduarden
entsagen kannst.
Hast du dich aber hierzu bestimmt, so schließen wir einen Bund, daß du
dich mit ihm nicht einlassen willst, selbst nicht in eine Unterredung,
wenn er dich aufsuchen, wenn er sich zu dir drängen sollte".
Ottilie besann sich nicht einen Augenblick, sie gab Charlotten das
Wort, das sie sich schon selbst gegeben hatte.
Nun aber schwebte Charlotten immer noch jene Drohung Eduards vor der
Seele, daß er Ottilien nur so lange entsagen könne, als sie sich von
Charlotten nicht trennte.
Es hatten sich zwar seit der Zeit die Umstände so verändert, es war
so mancherlei vorgefallen, daß jenes vom Augenblick ihm abgedrungene
Wort gegen die folgenden Ereignisse für aufgehoben zu achten war;
dennoch wollte sie auch im entferntesten Sinne weder etwas wagen noch
etwas vornehmen, das ihn verletzen könnte, und so sollte Mittler in
diesem Falle Eduards Gesinnungen erforschen.
Mittler hatte seit dem Tode des Kindes Charlotten öfters, obgleich nur
auf Augenblicke, besucht.
Dieser Unfall, der ihm die Wiedervereinigung beider Gatten höchst
unwahrscheinlich machte, wirkte gewaltsam auf ihn; aber immer nach
seiner Sinnesweise hoffend und strebend, freute er sich nun im stillen
über den Entschluß Ottiliens.
Er vertraute der lindernden, vorüberziehenden Zeit, dachte noch immer
die beiden Gatten zusammenzuhalten und sah diese leidenschaftlichen
Bewegungen nur als Prüfungen ehelicher Liebe und Treue an.
Charlotte hatte gleich anfangs den Major von Ottiliens erster
Erklärung schriftlich unterrichtet, ihn auf das inständigste gebeten,
Eduarden dahin zu vermögen, daß keine weiteren Schritte geschähen, daß
man sich ruhig verhalte, daß man abwarte, ob das Gemüt des schönen
Kindes sich wieder herstelle.
Auch von den spätern Ereignissen und Gesinnungen hatte sie das Nötige
mitgeteilt, und nun war freilich Mittlern die schwierige Aufgabe
übertragen, auf eine Veränderung des Zustandes Eduarden vorzubereiten.
Mittler aber, wohl wissend, daß man das Geschehene sich eher gefallen
läßt, als daß man in ein noch zu Geschehendes einwilligt, überredete
Charlotten, es sei das beste, Ottilien gleich nach der Pension zu
schicken.
Deshalb wurden, sobald er weg war, Anstalten zur Reise gemacht.
Ottilie packte zusammen, aber Charlotte sah wohl, daß sie weder das
schöne Köfferchen noch irgend etwas daraus mitzunehmen sich anschickte.
Die Freundin schwieg und ließ das schweigende Kind gewähren.
Der Tag der Abreise kam herbei; Charlottens Wagen sollte Ottilien den
ersten Tag bis in ein bekanntes Nachtquartier, den zweiten bis in die
Pension bringen; Nanny sollte sie begleiten und ihre Dienerin bleiben.
Das leidenschaftliche Mädchen hatte sich gleich nach dem Tode des
Kindes wieder an Ottilien zurückgefunden und hing nun an ihr wie sonst
durch Natur und Neigung, ja sie schien durch unterhaltende
Redseligkeit das bisher Versäumte wieder nachbringen und sich ihrer
geliebten Herrin völlig widmen zu wollen.
Ganz außer sich war sie nun über das Glück, mitzureisen, fremde
Gegenden zu sehen, da sie noch niemals außer ihrem Geburtsort gewesen,
und rannte vom Schlosse ins Dorf, zu ihren Eltern, Verwandten, um ihr
Glück zu verkündigen und Abschied zu nehmen.
Unglücklicherweise traf sie dabei in die Zimmer der Maserkranken und
empfand sogleich die Folgen der Ansteckung.
Man wollte die Reise nicht aufschieben; Ottilie drang selbst darauf;
sie hatte den Weg schon gemacht, sie kannte die Wirtleute, bei denen
sie einkehren sollte; der Kutscher vom Schlosse führte sie; es war
nichts zu besorgen.
Charlotte widersetzte sich nicht; auch sie eilte schon in Gedanken aus
diesen Umgebungen weg, nur wollte sie noch die Zimmer, die Ottilie im
Schloß bewohnt hatte, wieder für Eduarden einrichten, gerade so wie
vor der Ankunft des Hauptmanns gewesen.
Die Hoffnung, ein altes Glück wiederherzustellen, flammt immer einmal
wieder in dem Menschen auf, und Charlotte war zu solchen Hoffnungen
abermals berechtigt, ja genötigt.
Als Mittler gekommen war, sich mit Eduarden über die Sache zu
unterhalten, fand er ihn allein, den Kopf in die rechte Hand gelehnt,
den Arm auf den Tisch gestemmt.
Er schien sehr zu leiden.
"Plagt Ihr Kopfweh Sie wieder?" fragte Mittler.
"Es plagt mich", versetzte jener; "und doch kann ich es nicht hassen,
denn es erinnert mich an Ottilien.
Vielleicht leidet auch sie jetzt, denk ich, auf ihren linken Arm
gestützt, und leidet wohl mehr als ich.
Und warum soll ich es nicht tragen wie sie?
Diese Schmerzen sind mir heilsam, sind mir, ich kann beinah sagen,
wünschenswert; denn nur mächtiger, deutlicher, lebhafter schwebt mir
das Bild ihrer Geduld, von allen ihren übrigen Vorzügen begleitet, vor
der Seele, nur im Leiden empfinden wir recht vollkommen alle die
großen Eigenschaften, die nötig sind, um es zu ertragen".
Als Mittler den Freund in diesem Grade resigniert fand, hielt er mit
seinem Anbringen nicht zurück, das er jedoch stufenweise, wie der
Gedanke bei den Frauen entsprungen, wie er nach und nach zum Vorsatz
gereift war, historisch vortrug.
Eduard äußerte sich kaum dagegen.
Aus dem wenigen, was er sagte, schien hervorzugehen, daß er jenen
alles überlasse; sein gegenwärtiger Schmerz schien ihn gegen alles
gleichgültig gemacht zu haben.
Kaum war er allein, so stand er auf und ging in dem Zimmer hin und
wider.
Er fühlte seinen Schmerz nicht mehr, er war ganz außer sich
beschäftigt.
Schon unter Mittlers Erzählung hatte die Einbildungskraft des
Liebenden sich lebhaft ergangen.
Er sah Ottilien allein oder so gut als allein auf wohlbekanntem Wege,
in einem gewohnten Wirtshause, dessen Zimmer er so oft betreten; er
dachte, er überlegte, oder vielmehr er dachte, er überlegte nicht; er
wünschte, er wollte nur.
Er mußte sie sehn, sie sprechen.
Wozu, warum, was daraus entstehen sollte, davon konnte die Rede nicht
sein.
Er widerstand nicht, er mußte.
Der Kammerdiener ward ins Vertrauen gezogen und erforschte sogleich
Tag und Stunde, wann Ottilie reisen würde.
Der Morgen brach an; Eduard säumte nicht, unbegleitet sich zu Pferde
dahin zu begeben, wo Ottilie übernachten sollte.
Er kam nur allzuzeitig dort an; die überraschte Wirtin empfing ihn mit
Freuden; sie war ihm ein großes Familienglück schuldig geworden.
Er hatte ihrem Sohn, der als Soldat sich sehr brav gehalten, ein
Ehrenzeichen verschafft, indem er dessen Tat, wobei er allein
gegenwärtig gewesen, heraushob, mit Eifer bis vor den Feldherrn
brachte und die Hindernisse einiger Mißwollenden überwand.
Sie wußte nicht, was sie ihm alles zuliebe tun sollte.
Sie räumte schnell in ihrer Putzstube, die freilich auch zugleich
Garderobe und Vorratskammer war, möglichst zusammen; allein er
kündigte ihr die Ankunft eines Frauenzimmers an, die hier hereinziehen
sollte, und ließ für sich eine Kammer hinten auf dem Gange notdürftig
einrichten.
Der Wirtin erschien die Sache geheimnisvoll, und es war ihr angenehm,
ihrem Gönner, der sich dabei sehr interessiert und tätig zeigte, etwas
Gefälliges zu erweisen.
Und er, mit welcher Empfindung brachte er die lange, lange Zeit bis
zum Abend hin!
Er betrachtete das Zimmer ringsumher, in dem er sie sehen sollte; es
schien ihm in seiner ganzen häuslichen Seltsamkeit ein himmlischer
Aufenthalt.
Was dachte er sich nicht alles aus, ob er Ottilien überraschen, ob er
sie vorbereiten sollte!
Endlich gewann die letztere Meinung Oberhand; er setzte sich hin und
schrieb.
Dies Blatt sollte sie empfangen.
"Indem du diesen Brief liesest, Geliebteste, bin ich in deiner Nähe.
Du mußt nicht erschrecken, dich nicht entsetzen; du hast von mir
nichts zu befürchten.
Ich werde mich nicht zu dir drängen.
Du siehst mich nicht eher, als du es erlaubst.
Bedenke vorher deine Lage, die meinige.
Wie sehr danke ich dir, daß du keinen entscheidenden Schritt zu tun
vorhast; aber bedeutend genug ist er.
Tu ihn nicht!
Hier, auf einer Art von Scheideweg, überlege nochmals: kannst du mein
sein, willst du mein sein?
O du erzeigst uns allen eine große Wohltat und mir eine
überschwengliche.
Laß mich dich wiedersehen, dich mit Freuden wiedersehen.
Laß mich die schöne Frage mündlich tun und beantworte sie mir mit
deinem schönen Selbst.
An meine Brust, Ottilie!
Hieher, wo du manchmal geruht hast und wo du immer hingehörst!" Indem
er schrieb, ergriff ihn das Gefühl, sein Höchstersehntes nahe sich, es
werde nun gleich gegenwärtig sein.
Zu dieser Türe wird sie hereintreten, diesen Brief wird sie lesen,
wirklich wird sie wie sonst vor mir dastehen, deren Erscheinung ich
mir so oft herbeisehnte.
Wird sie noch dieselbe sein?
Hat sich ihre Gestalt, haben sich ihre Gesinnungen verändert?
Er hielt die Feder noch in der Hand, er wollte schreiben, wie er
dachte; aber der Wagen rollte in den Hof.
Mit flüchtiger Feder setzte er noch hinzu:" ich höre dich kommen.
Auf einen Augenblick leb wohl!" er faltete den Brief, überschrieb ihn;
zum Siegeln war es zu spät.
Er sprang in die Kammer, durch die er nachher auf den Gang zu gelangen
wußte, und augenblicks fiel ihm ein, daß er die Uhr mit dem Petschaft
noch auf dem Tisch gelassen.
Sie sollte diese nicht zuerst sehen; er sprang zurück und holte sie
glücklich weg.
Vom Vorsaal her vernahm er schon die Wirtin, die auf das Zimmer
losging, um es dem Gast anzuweisen.
Er eilte gegen die Kammertür, aber sie war zugefahren.
Den Schlüssel hatte er beim Hineinspringen heruntergeworfen, der lag
inwendig; das Schloß war zugeschnappt, und er stund gebannt.
Heftig drängte er an der Türe; sie gab nicht nach.
O wie hätte er gewünscht, als ein Geist durch die Spalten zu schlüpfen!
Vergebens!
Er verbarg sein Gesicht an den Türpfosten.
Ottilie trat herein, die Wirtin, als sie ihn erblickte, zurück.
Auch Ottilien konnte er nicht einen Augenblick verborgen bleiben.
Er wendete sich gegen sie, und so standen die Liebenden abermals auf
die seltsamste Weise gegeneinander.
Sie sah ihn ruhig und ernsthaft an, ohne vor—oder zurückzugehen, und
als er eine Bewegung machte, sich ihr zu nähern, trat sie einige
Schritte zurück bis an den Tisch.
Auch er trat wieder zurück.
"Ottilie", rief er aus, "laß mich das furchtbare Schweigen brechen!
Sind wir nur Schatten, die einander gegenüberstehen?
Aber vor allen Dingen höre!
Es ist ein Zufall, daß du mich gleich jetzt hier findest.
Neben dir liegt ein Brief, der dich vorbereiten sollte.
Lies, ich bitte dich, lies ihn!
Und dann beschließe, was du kannst".
Sie blickte herab auf den Brief, und nach einigem Besinnen nahm sie
ihn auf, erbrach und las ihn.
Ohne die Miene zu verändern, hatte sie ihn gelegen, und so legte sie
ihn leise weg; dann drückte sie die flachen, in die Höhe gehobenen
Hände zusammen, führte sie gegen die Brust, indem sie sich nur wenig
vorwärts neigte, und sah den dringend Fordernden mit einem solchen
Blick an, daß er von allem abzustehen genötigt war, was er verlangen
oder wünschen mochte.
Diese Bewegung zerriß ihm das Herz.
Er konnte den Anblick, er konnte die Stellung Ottiliens nicht ertragen.
Es sah völlig aus, als würde sie in die Kniee sinken, wenn er beharrte.
Er eilte verzweifelnd zur Tür hinaus und schickte die Wirtin zu der
Einsamen.
Er ging auf dem Vorsaal auf und ab.
Es war Nacht geworden, im Zimmer blieb es stille.
Endlich trat die Wirtin heraus und zog den Schlüssel ab.
Die gute Frau war gerührt, war verlegen, sie wußte nicht, was sie tun
sollte.
Zuletzt im Weggehen bot sie den Schlüssel Eduarden an, der ihn
ablehnte.
Sie ließ das Licht stehen und entfernte sich.
Eduard im tiefsten Kummer warf sich auf Ottiliens Schwelle, die er mit
seinen Tränen benetzte.
Jammervoller brachten kaum jemals in solcher Nähe Liebende eine Nacht
zu.
Der Tag brach an; der Kutscher trieb, die Wirtin schloß auf und trat
in das Zimmer.
Sie fand Ottilien angekleidet eingeschlafen, sie ging zurück und
winkte Eduarden mit einem teilnehmenden Lächeln.
Beide traten vor die Schlafende; aber auch diesen Anblick vermochte
Eduard nicht auszuhalten.
Die Wirtin wagte nicht, das ruhende Kind zu wecken, sie setzte sich
gegenüber.
Endlich schlug Ottilie die schönen Augen auf und richtete sich auf
ihre Füße.
Sie lehnt das Frühstück ab, und nun tritt Eduard vor sie.
Er bittet sie inständig, nur ein Wort zu reden, ihren Willen zu
erklären.
Er wolle allen ihren Willen, schwört er; aber sie schweigt. Nochmals
fragt er sie liebevoll und dringend, ob sie ihm angehören wolle.
Wie lieblich bewegt sie mit niedergeschlagenen Augen ihr Haupt zu
einem sanften Nein!
Er fragt, ob sie nach der Pension wolle.
Gleichgültig verneint sie das.
Aber als er fragt, ob er sie zu Charlotten zurückführen dürfe, bejaht
sies mit einem getrosten Neigen des Hauptes.
Er eilt ans Fenster, dem Kutscher Befehle zu geben; aber hinter ihm
weg ist sie wie der Blitz zur Stube hinaus, die Treppe hinab in dem
Wagen.
Der Kutscher nimmt den Weg nach dem Schlosse zurück; Eduard folgt zu
Pferde in einiger Entfernung.
Wie höchst überrascht war Charlotte, als sie Ottilien vorfahren und
Eduarden zu Pferde sogleich in den Schloßhof hereinsprengen sah!
Sie eilte bis zur Türschwelle.
Ottilie steigt aus und nähert sich mit Eduarden.
Mit Eifer und Gewalt faßt sie die Hände beider Ehegatten, drückt sie
zusammen und eilt auf ihr Zimmer.
Eduard wirft sich Charlotten um den Hals und zerfließt in Tränen; er
kann sich nicht erklären, bittet, Geduld mit ihm zu haben, Ottilien
beizustehen, ihr zu helfen.
Charlotte eilt auf Ottiliens Zimmer, und ihr schaudert, da sie
hineintritt; es war schon ganz ausgeräumt, nur die leeren Wände
standen da.
Es erschien so weitläufig als unerfreulich.
Man hatte alles weggetragen, nur das Köfferchen, unschlüssig, wo man
es hinstellen sollte, in der Mitte des Zimmers stehengelassen.
Ottilie lag auf dem Boden, Arm und Haupt über den Koffer gestreckt.
Charlotte bemüht sich um sie, fragt, was vorgegangen, und erhält keine
Antwort.
Sie läßt ihr Mädchen, das mit Erquickungen kommt, bei Ottilien und
eilt zu Eduarden.
Sie findet ihn im Saal; auch er belehrt sie nicht.
Er wirft sich vor ihr nieder, er badet ihre Hände in Tränen, er flieht
auf sein Zimmer, und als sie ihm nachfolgen will, begegnet ihr der
Kammerdiener, der sie aufklärt, soweit er vermag.
Das übrige denkt sie sich zusammen und dann sogleich mit
Entschlossenheit an das, was der Augenblick fordert.
Ottiliens Zimmer ist aufs baldigste wieder eingerichtet.
Eduard hat die seinigen angetroffen, bis auf das letzte Papier, wie er
sie verlassen.
Die dreie scheinen sich wieder gegeneinader zu finden, aber Ottilie
fährt fort zu schweigen, und Eduard vermag nichts, als seine Gattin um
Geduld zu bitten, die ihm selbst zu fehlen scheint.
Charlotte sendet Boten an Mittlern und an den Major.
Jener war nicht anzutreffen, dieser kommt.
Gegen ihn schüttet Eduard sein Herz aus, ihm gesteht er jeden
kleinsten Umstand, und so erfährt Charlotte, was begegnet, was die
Lage so sonderbar verändert, was die Gemüter aufgeregt.
Sie spricht aufs liebevollste mit ihrem Gemahl.
Sie weiß keine andere Bitte zu tun als nur, daß man das Kind
gegenwärtig nicht bestürmen möge.
Eduard fühlt den Wert, die Liebe, die Vernunft seiner Gattin; aber
seine Neigung beherrscht ihn ausschließlich.
Charlotte macht ihm Hoffnung, verspricht ihm, in die Scheidung zu
willigen.
Er traut nicht; er ist so krank, daß ihn Hoffnung und Glaube
abwechselnd verlassen; er dringt in Charlotten, sie soll dem Major
ihre Hand zusagen; eine Art von wahnsinnigem Unmut hat ihn ergriffen.
Charlotte, ihn zu besänftigen, ihn zu erhalten, tut, was er fordert.
Sie sagt dem Major ihre Hand zu auf den Fall, daß Ottilie sich mit
Eduarden verbinden wolle, jedoch unter ausdrücklicher Bedingung, daß
die beiden Männer für den Augenblick zusammen eine Reise machen.
Der Major hat für seinen Hof ein auswärtiges Geschäft, und Eduard
verspricht, ihn zu begleiten.
Man macht Anstalten, und man beruhigt sich einigermaßen, indem
wenigstens etwas geschieht.
Unterdessen kann man bemerken, daß Ottilie kaum Speise noch Trank zu
sich nimmt, indem sie immerfort bei ihrem Schweigen verharrt.
Man redet ihr zu, sie wird ängstlich; man unterläßt es.
Denn haben wir nicht meistenteils die Schwäche, daß wir jemanden auch
zu seinem Besten nicht gern quälen mögen?
Charlotte sann alle Mittel durch, endlich geriet sie auf den Gedanken,
jenen Gehülfen aus der Pension kommen zu lassen, der über Ottilien
viel vermochte, der wegen ihres unvermuteten Außenbleibens sich sehr
freundlich geäußert, aber keine Antwort erhalten hatte.
Man spricht, um Ottilien nicht zu überraschen, von diesem Vorsatz in
ihrer Gegenwart.
Sie scheint nicht einzustimmen; sie bedenkt sich; endlich scheint ein
Entschluß in ihr zu reifen, sie eilt nach ihrem Zimmer und sendet noch
vor Abend an die Versammelten folgendes Schreiben.
"Warum soll ich ausdrücklich sagen, meine Geliebten, was sich von
selbst versteht?
Ich bin aus meiner Bahn geschritten, und ich soll nicht wieder hinein.
Ein feindseliger Dämon, der Macht über mich gewonnen, scheint mich von
außen zu hindern, hätte ich mich auch mit mir selbst wieder zur
Einigkeit gefunden.
Ganz rein war mein Vorsatz, Eduarden zu entsagen, mich von ihm zu
entfernen.
Ihm hofft ich nicht wieder zu begegnen.
Es ist anders geworden; er stand selbst gegen seinen eigenen Willen
vor mir.
Mein Versprechen, mich mit ihm in keine Unterredung einzulassen, habe
ich vielleicht zu buchstäblich genommen und gedeutet.
Nach Gefühl und Gewissen des Augenblicks schwieg ich, verstummt ich
vor dem Freunde, und nun habe ich nichts mehr zu sagen.
Ein strenges Ordensgelübde, welches den, der es mit überlegung eingeht,
vielleicht unbequem ängstiget, habe ich zufällig, vom Gefühl
gedrungen, über mich genommen.
Laßt mich darin beharren, solange mir das Herz gebietet.
Beruft keine Mittelsperson!
Dringt nicht in mich, daß ich reden, daß ich mehr Speise und Trank
genießen soll, als ich höchstens bedarf.
Helft mir durch Nachsicht und Geduld über diese Zeit hinweg.
Ich bin jung, die Jugend stellt sich unversehens wieder her. Duldet
mich in eurer Gegenwart, er freut mich durch eure Liebe, belehrt mich
durch eure Unterhaltung; aber mein Innres überlaßt mir selbst!" Die
längst vorbereitete Abreise der Männer unterblieb, weil jenes
auswärtige Geschäft des Majors sich verzögerte.
Wie erwünscht für Eduard!
Nun durch Ottiliens Blatt aufs neue angeregt, durch ihre trostvollen,
hoffnunggebenden Worte wieder ermutigt und zu standhaftem Ausharren
berechtigt, erklärte er auf einmal, er werde sich nicht entfernen.
"Wie töricht", rief er aus, "das Unentbehrlichste, Notwendigste
vorsätzlich, voreilig wegzuwerfen, das, wenn uns auch der Verlust
bedroht, vielleicht noch zu erhalten wäre!
Und was soll es heißen?
Doch nur, daß der Mensch ja scheine, wollen, wählen zu können.
So habe ich oft, beherrscht von solchem albernen Dünkel, Stunden, ja
Tage zu früh mich von Freunden losgerissen, um nur nicht von dem
letzten, unausweichlichen Termin entschieden gezwungen zu werden.
Diesmal aber will ich bleiben.
Warum soll ich mich entfernen?
Ist sie nicht schon von mir entfernt?
Es fällt mir nicht ein, ihre Hand zu fassen, sie an mein Herz zu
drücken; sogar darf ich es nicht denken, es schaudert mir.
Sie hat sich nicht von mir weg, sie hat sich über mich weg gehoben".
Und so blieb er, wie er wollte, wie er mußte.
Aber auch dem Behagen glich nichts, wenn er sich mit ihr zusammenfand.
Und so war auch ihr dieselbe Empfindung geblieben; auch sie konnte
sich dieser seligen Notwendigkeit nicht entziehen.
Nach wie vor übten sie eine unbeschreibliche, fast magische
Anziehungskraft gegeneinander aus.
Sie wohnten unter Einem Dache; aber selbst ohne gerade aneinander zu
denken, mit andern Dingen beschäftigt, von der Gesellschaft hin und
her gezogen, näherten sie sich einander.
Fanden sie sich in Einem Saale, so dauerte es nicht lange, und sie
standen, sie saßen nebeneinader.
Nur die nächste Nähe konnte sie beruhigen, aber auch völlig beruhigen,
und diese Nähe war genug; nicht eines Blickes, nicht eines Wortes,
keiner Gebärde, keiner Berührung bedurfte es, nur des reinen
Zusammenseins.
Dann waren es nicht zwei Menschen, es war nur Ein Mensch im
bewußtlosen, vollkommnen Behagen, mit sich selbst zufrieden und mit
der Welt.
Ja, hätte man eins von beiden am letzten Ende der Wohnung festgehalten,
das andere hätte sich nach und nach von selbst, ohne Vorsatz, zu ihm
hinbewegt.
Das Leben war ihnen ein Rätsel, dessen Auflösung sie nur miteinander
fanden.
Ottilie war durchaus heiter und gelassen, so daß man sich über sie
völlig beruhigen konnte.
Sie entfernte sich wenig aus der Gesellschaft, nur hatte sie es
erlangt, allein zu speisen.
Niemand als Nanny bediente sie.
Was einem jeden Menschen gewöhnlich begegnet, wiederholt sich mehr,
als man glaubt, weil seine Natur hiezu die nächste Bestimmung gibt.
Charakter, Individualität, Neigung, Richtung, örtlichkeit, Umgebungen
und Gewohnheiten bilden zusammen ein Ganzes, in welchem jeder Mensch
wie in einem Elemente, in einer Atmosphäre schwimmt, worin es ihm
allein bequem und behaglich ist.
Und so finden wir die Menschen, über deren Veränderlichkeit so viele
Klage geführt wird, nach vielen Jahren zu unserm Erstaunen unverändert
und nach äußern und innern unendlichen Anregungen unveränderlich.
So bewegte sich auch in dem täglichen Zusammenleben unserer Freunde
fast alles wieder in dem alten Gleise.
Noch immer äußerte Ottilie stillschweigend durch manche Gefälligkeit
ihr zuvorkommendes Wesen, und so jedes nach seiner Art.
Auf diese Weise zeigte sich der häusliche Zirkel als ein Scheinbild
des vorigen Lebens, und der Wahn, als ob noch alles beim alten sei,
war verzeihlich.
Die herbstlichen Tage, an Länge jenen Frühlingstagen gleich, riefen
die Gesellschaft um eben die Stunde aus dem Freien ins Haus zurück.
Der Schmuck an Früchten und Blumen, der dieser Zeit eigen ist, ließ
glauben, als wenn es der Herbst jenes ersten Frühlings wäre; die
Zwischenzeit war ins Vergessen gefallen.
Denn nun blühten die Blumen, dergleichen man in jenen ersten Tagen
auch gesäet hatte; nun reiften Früchte an den Bäumen, die man damals
blühen gesehen.
Der Major ging ab und zu; auch Mittler ließ sich öfter sehen. Die
Abendsitzungen waren meistens regelmäßig.
Eduard las gewöhnlich, lebhafter, gefühlvoller, besser, ja sogar
heiterer, wenn man will, als jemals.
Es war, als wenn er, so gut durch Fröhlichkeit als durch Gefühl,
Ottiliens Erstarren wieder beleben, ihr Schweigen wieder auflösen
wollte.
Er setzte sich wie vormals, daß sie ihm ins Buch sehen konnte, ja er
ward unruhig, zerstreut, wenn sie nicht hineinsah, wenn er nicht gewiß
war, daß sie seinen Worten mit ihren Augen folgte.
Jedes unerfreuliche, unbequeme Gefühl der mittleren Zeit war
ausgelöscht.
Keines trug mehr dem andern etwas nach; jede Art von Bitterkeit war
verschwunden.
Der Major begleitete mit der Violine das Klavierspiel Charlottens, so
wie Eduards Flöte mit Ottiliens Behandlung des Saiteninstruments
wieder wie vormals zusammentraf.
So rückte man dem Geburtstage Eduards näher, dessen Feier man vor
einem Jahre nicht erreicht hatte.
Er sollte ohne Festlichkeit in stillem, freundlichem Behagen diesmal
gefeiert werden.
So war man, halb stillschweigend halb ausdrücklich, miteinander
übereingekommen.
Doch je näher diese Epoche heranrückte, vermehrte sich das Feierliche
in Ottiliens Wesen, das man bisher mehr empfunden als bemerkt hatte.
Sie schien im Garten oft die Blumen zu mustern; sie hatte dem Gärtner
angedeutet, die Sommergewächse aller Art zu schonen, und sich
besonders bei den Astern aufgehalten, die gerade dieses Jahr in
unmäßiger Menge blühten.
Das Bedeutendste jedoch, was die Freunde mit stiller Aufmerksamkeit
beobachteten, war, daß Ottilie den Koffer zum erstenmal ausgepackt und
daraus verschiedenes gewählt und abgeschnitten hatte, was zu einem
einzigen, aber ganzen und vollen Anzug hinreichte.
Als sie das übrige mit Beihülfe Nannys wieder einpacken wollte, konnte
sie kaum damit zustande kommen; der Raum war übervoll, obgleich schon
ein Teil herausgenommen war.
Das junge habgierige Mädchen konnte sich nicht satt sehen, besonders
da sie auch für alle kleineren Stücke des Anzugs gesorgt fand.
Schuhe, Strümpfe, Strumpfbänder mit Devisen, Handschuhe und so manches
andere war noch übrig.
Sie bat Ottilien, ihr nur etwas davon zu schenken.
Diese verweigerte es, zog aber sogleich die Schublade einer Kommode
heraus und ließ das Kind wählen, das hastig und ungeschickt zugriff
und mit der Beute gleich davonlief, um den übrigen Hausgenossen ihr
Glück zu verkünden und vorzuzeigen.
Zuletzt gelang es Ottilien, alles sorgfältig wieder einzuschichten;
sie öffnete hierauf ein verborgenes Fach, das im Deckel angebracht war.
Dort hatte sie kleine Zettelchen und Briefe Eduards, mancherlei
aufgetrocknete Blumenerinnerungen früherer Spaziergänge, eine Locke
ihres Geliebten und was sonst noch verborgen.
Noch eins fügte sie hinzu—es war das Porträt ihres Vaters—und
verschloß das Ganze, worauf sie den zarten Schlüssel an dem goldnen
Kettchen wieder um den Hals an ihre Brust hing.
Mancherlei Hoffnungen waren indes in dem Herzen der Freunde rege
geworden.
Charlotte war überzeugt, Ottilie werde auf jenen Tag wieder zu
sprechen anfangen; denn sie hatte bisher eine heimliche Geschäftigkeit
bewiesen, eine Art von heiterer Selbstzufriedenheit, ein Lächeln, wie
es demjenigen auf dem Gesichte schwebt, der Geliebten etwas Gutes und
Erfreuliches verbirgt.
Niemand wußte, daß Ottilie gar manche Stunde in großer Schwachheit
hinbrachte, aus der sie sich nur für die Zeiten, wo sie erschien durch
Geisteskraft emporhielt.
Mittler hatte sich diese Zeit öfters sehen lassen und war länger
geblieben als sonst gewöhnlich.
Der hartnäckige Mann wußte nur zu wohl, daß es einen gewissen Moment
gibt, wo allein das Eisen zu schmieden ist.
Ottiliens Schweigen sowie ihre Weigerung legte er zu seinen Gunsten
aus.
Es war bisher kein Schritt zu Scheidung der Gatten geschehen; er
hoffte das Schicksal des guten Mädchens auf irgendeine andere günstige
Weise zu bestimmen; er horchte, er gab nach, er gab zu verstehen und
führte sich nach seiner Weise klug genug auf.
Allein überwältigt war er stets, sobald er Anlaß fand, sein
Räsonnement über Materien zu äußern, denen er eine große Wichtigkeit
beilegte.
Er lebte viel in sich, und wenn er mit andern war, so verhielt er sich
gewöhnlich nur handelnd gegen sie.
Brach nun einmal unter Freunden seine Rede los, wie wir schon öfter
gesehen haben, so rollte sie ohne Rücksicht fort, verletzte oder
heilte, nutzte oder schadete, wie es sich gerade fügen mochte.
Den Abend vor Eduards Geburtstage saßen Charlotte und der Major
Eduarden, der ausgeritten war, erwartend beisammen; Mittler ging im
Zimmer auf und ab; Ottilie war auf dem ihrigen geblieben, den
morgenden Schmuck auseinanderlegend und ihrem Mädchen manches
andeutend, welches sie vollkommen verstand und die stummen Anordnungen
geschickt befolgte.
Mittler war gerade auf eine seiner Lieblingsmaterien gekommen. Er
pflegte gern zu behaupten, daß sowohl bei der Erziehung der Kinder als
bei der Leitung der Völker nichts ungeschickter und barbarischer sei
als Verbote, als verbietende Gesetze und Anordnungen.
"Der Mensch ist von Hause aus tätig", sagte er; "und wenn man ihm zu
gebieten versteht, so fährt er gleich dahinter her, handelt und
richtet aus.
Ich für meine Person mag lieber in meinem Kreise Fehler und Gebrechen
so lange dulden, bis ich die entgegengesetzte Tugend gebieten kann,
als daß ich den Fehler los würde und nichts Rechtes an seiner Stelle
sähe.
Der Mensch tut recht gern das Gute, das Zweckmäßige, wenn er nur dazu
kommen kann; er tut es, damit er was zu tun hat, und sinnt darüber
nicht weiter nach als über alberne Streiche, die er aus Müßiggang und
langer Weile vornimmt.
Wie verdrießlich ist mirs oft, mit anzuhören, wie man die Zehn Gebote
in der Kinderlehre wiederholen läßt.
Das vierte ist noch ein ganz hübsches, vernünftiges, gebietendes Gebot.
'Du sollst Vater und Mutter ehren'. Wenn sich das die Kinder recht in
den Sinn schreiben, so haben sie den ganzen Tag daran auszuüben.
Nun aber das fünfte, was soll man dazu sagen?
'Du sollst nicht töten'.
Als wenn irgendein Mensch im mindesten Lust hätte, den andern
totzuschlagen!
Man haßt einen, man erzürnt sich, man übereilt sich, und in Gefolg von
dem und manchem andern kann es wohl kommen, daß man gelegentlich einen
totschlägt.
Aber ist es nicht eine barbarische Anstalt, den Kindern Mord und
Totschlag zu verbieten?
Wenn es hieße: 'sorge für des andern Leben, entferne, was ihm
schädlich sein kann, rette ihn mit deiner eigenen Gefahr; wenn du ihn
beschädigst, denke, daß du dich selbst beschädigst': das sind Gebote,
wie sie unter gebildeten, vernünftigen Völkern statthaben und die man
bei der Katechismuslehre nur kümmerlich in dem 'was ist das?'
nachschleppt.
Und nun gar das sechste, das finde ich ganz abscheulich!
Was?
Die Neugierde vorahnender Kinder auf gefährliche Mysterien reizen,
ihre Einbildungskraft zu wunderlichen Bildern und Vorstellungen
aufregen, die gerade das, was man entfernen will, mit Gewalt
heranbringen!
Weit besser wäre es, daß dergleichen von einem heimlichen Gericht
willkürlich bestraft würde, als daß man vor Kirch und Gemeinde davon
plappern läßt".
In dem Augenblick trat Ottilie herein.
"Du sollst nicht ehebrechen", fuhr Mittler fort.
"Wie grob, wie unanständig!
Klänge es nicht ganz anders, wenn es hieße: 'du sollst Ehrfurcht haben
vor der ehelichen Verbildung; wo du Gatten siehst, die sich lieben,
sollst du dich darüber freuen und teil daran nehmen wie an dem Glück
eines heitern Tages.
Sollte sich irgend in ihrem Verhältnis etwas trüben, so sollst du
suchen, es aufzuklären; du sollst suchen, sie zu begütigen, sie zu
besänftigen, ihnen ihre wechselseitigen Vorteile deutlich zu machen,
und mit schöner Uneigennützigkeit das Wohl der andern fördern, indem
du ihnen fühlbar machst, was für ein Glück aus jeder Pflicht und
besonders aus dieser entspringt, welche Mann und Weib unauflöslich
verbindet?" Charlotte saß wie auf Kohlen, und der Zustand war ihr um
so ängstlicher, als sie überzeugt war, daß Mittler nicht wußte, was
und wo ers sagte, und ehe sie ihn noch unterbrechen konnte, sah sie
schon Ottilien, deren Gestalt sich verwandelt hatte, aus dem Zimmer
gehen.
"Sie erlassen uns wohl das siebente Gebot", sagte Charlotte mit
erzwungenem Lächeln.
"Alle die übrigen", versetzte Mittler, "wenn ich nur das rette, worauf
die andern beruhen".
Mit entsetzlichem Schrei hereinstürzend rief Nanny: "sie stirbt!
Das Fräulein stirbt!
Kommen Sie!
Kommen Sie!" Als Ottilie nach ihrem Zimmer schwankend zurückgekommen
war, lag der morgende Schmuck auf mehreren Stühlen völlig ausgebreitet,
und das Mädchen, das betrachtend und bewundernd daran hin und her
ging, rief jubelnd aus: "sehen Sie nur, liebstes Fräulein, das ist ein
Brautschmuck, ganz Ihrer wert!" Ottilie vernahm diese Worte und sank
auf den Sofa.
Nanny sieht ihre Herrin erblassen, erstarren; sie läuft zu Charlotten;
man kommt.
Der ärztliche Hausfreund eilt herbei; es scheint ihm nur eine
Erschöpfung.
Er läßt etwas Kraftbrühe bringen; Ottilie weist sie mit Abscheu weg,
ja sie fällt fast in Zuckungen, als man die Tasse dem Munde nähert.
Er fragt mit Ernst und Hast, wie es ihm der Umstand eingab, was
Ottilie heute genossen habe.
Das Mädchen stockt; er wiederholt seine Frage; das Mädchen bekennt,
Ottilie habe nichts genossen.
Nanny scheint ihm ängstlicher als billig.
Er reißt sie in ein Nebenzimmer, Charlotte folgt, das Mädchen wirft
sich auf die Kniee, sie gesteht, daß Ottilie schon lange so gut wie
nichts genieße.
Auf Andringen Ottiliens habe sie die Speisen an ihrer Statt genossen;
verschwiegen habe sie es wegen bittender und drohender Gebärden ihrer
Gebieterin, und auch, setzte sie unschuldig hinzu, weil es ihr gar so
gut geschmeckt.
Der Major und Mittler kamen heran; sie fanden Charlotten tätig in
Gesellschaft des Arztes.
Das bleiche himmlische Kind saß, sich selbst bewußt, wie es schien, in
der Ecke des Sofas.
Man bittet sie, sich niederzulegen; sie verweigerts, winkt aber, daß
man das Köfferchen herbeibringe.
Sie setzt ihre Füße darauf und findet sich in einer halb liegenden,
bequemen Stellung.
Sie scheint Abschied nehmen zu wollen, ihre Gebärden drücken den
Umstehenden die zarteste Anhänglichkeit aus, Liebe, Dankbarkeit,
Abbitte und das herzlichste Lebewohl.
Eduard, der vom Pferde steigt, vernimmt den Zustand, er stürzt in das
Zimmer, er wirft sich an ihre Seite nieder, faßt ihre Hand und
überschwemmt sie mit stummen Tränen.
So bleibt er lange.
Endlich ruft er aus: "soll ich deine Stimme nicht wieder hören?
Wirst du nicht mit einem Wort für mich ins Leben zurückkehren?
Gut, gut!
Ich folge dir hinüber; da werden wir mit andern Sprachen reden!" Sie
drückt ihm kräftig die Hand, sie blickt ihn lebevoll und liebevoll an,
und nach einem tiefen Atemzug, nach einer himmlischen, stummen
Bewegung der Lippen: "versprich mir zu leben!" ruft sie aus, mit
holder, zärtlicher Anstrengung; doch gleich sinkt sie zurück.
"Ich versprech es!" rief er ihr entgegen, doch rief er es ihr nur nach;
sie war schon abgeschieden.
Nach einer tränenvollen Nacht fiel die Sorge, die geliebten Reste zu
bestatten, Charlotten anheim.
Der Major und Mittler standen ihr bei.
Eduards Zustand war zu bejammern.
Wie er sich aus seiner Verzweiflung nur hervorheben und einigermaßen
besinnen konnte, bestand er darauf, Ottilie sollte nicht aus dem
Schlosse gebracht, sie sollte gewartet, gepflegt, als eine Lebende
behandelt werden; denn sie sei nicht tot, sie könne nicht tot sein.
Man tat ihm seinen Willen, insofern man wenigstens das unterließ, was
er verboten hatte.
Er verlangte nicht, sie zu sehen.
Noch ein anderer Schreck ergriff, noch eine andere Sorge beschäftigte
die Freunde.
Nanny, von dem Arzt heftig gescholten, durch Drohungen zum Bekenntnis
genötigt und nach dem Bekenntnis mit Vorwürfen überhäuft, war
entflohen.
Nach langem Suchen fand man sie wieder, sie schien außer sich zu sein.
Ihre Eltern nahmen sie zu sich.
Die beste Begegnung schien nicht anzuschlagen, man mußte sie
einsperren, weil sie wieder zu entfliehen drohte.
Stufenweise gelang es, Eduarden der heftigsten Verzweiflung zu
entreißen, aber nur zu seinem Unglück; denn es ward ihm deutlich, es
ward ihm gewiß, daß er das Glück seines Lebens für immer verloren habe.
Man wagte es ihm vorzustellen, daß Ottilie, in jener Kapelle
beigesetzt, noch immer unter den Lebendigen bleiben und einer
freundlichen, stillen Wohnung nicht entbehren würde.
Es fiel schwer, seine Einwilligung zu erhalten, und nur unter der
Bedingung, daß sie im offenen Sarge hinausgetragen und in dem Gewölbe
allenfalls nur mit einem Glasdeckel zugedeckt und eine immerbrennende
Lampe gestiftet werden sollte, ließ er sichs zuletzt gefallen und
schien sich in alles ergeben zu haben.
Man kleidete den holden Körper in jenen Schmuck, den sie sich selbst
vorbereitet hatte; man setzte ihr einen Kranz von Asterblumen auf das
Haupt, die wie traurige Gestirne ahnungsvoll glänzten.
Die Bahre, die Kirche, die Kapelle zu schmücken, wurden alle Gärten
ihres Schmucks beraubt.
Sie lagen verödet, als wenn bereits der Winter alle Freude aus den
Beeten weggetilgt hätte.
Beim frühsten Morgen wurde sie im offnen Sarge aus dem Schloß getragen,
und die aufgehende Sonne rötete nochmals das himmlische Gesicht. Die
Begleitenden drängten sich um die Träger, niemand wollte vorausgehn,
niemand folgen, jedermann sie umgeben, jedermann noch zum letztenmale
ihre Gegenwart genießen.
Knaben, Männer und Frauen, keins blieb ungerührt.
Untröstlich waren die Mädchen, die ihren Verlust am unmittelbarsten
empfanden.
Nanny fehlte.
Man hatte sie zurückgehalten, oder vielmehr man hatte ihr den Tag und
die Stunde des Begräbnisses verheimlicht.
Man bewachte sie bei ihren Eltern in einer Kammer, die nach dem Garten
ging.
Als sie aber die Glocken läuten hörte, ward sie nur allzubald inne,
was vorging, und da ihre Wächterin aus Neugierde, den Zug zu sehen,
sie verließ, entkam sie zum Fenster hinaus auf einen Gang und von da,
weil sie alle Türen verschlossen fand, auf den Oberboden.
Eben schwankte der Zug den reinlichen, mit Blättern bestreuten Weg
durchs Dorf hin.
Nanny sah ihre Gebieterin deutlich unter sich, deutlicher,
vollständiger, schöner als alle, die dem Zuge folgten.
überirdisch, wie auf Wolken oder Wogen getragen, schien sie ihrer
Dienerin zu winken, und diese, verworren, schwankend, taumelnd,
stürzte hinab.
Auseinander fuhr die Menge mit einem entsetzlichen Schrei nach allen
Seiten.
Vom Drängen und Getümmel waren die Träger genötigt, die Bahre
niederzusetzen.
Das Kind lag ganz nahe daran; es schien an allen Gliedern
zerschmettert.
Man hob es auf; und zufällig oder aus besonderer Fügung lehnte man es
über die Leiche, ja es schien selbst noch mit dem letzten Lebensrest
seine geliebte Herrin erreichen zu wollen.
Kaum aber hatten ihre schlotternden Glieder Ottiliens Gewand, ihre
kraftlosen Finger Ottiliens gefaltete Hände berührt, als das Mädchen
aufsprang, Arme und Augen zuerst gen Himmel erhob, dann auf die Kniee
vor dem Sarge niederstürzte und andächtig entzückt zu der Herrin
hinaufstaunte.
Endlich sprang sie wie begeistert auf und rief mit heiliger Freude:
"ja, sie hat mir vergeben!
Was mir kein Mensch, was ich mir selbst nicht vergeben konnte, vergibt
mir Gott durch ihren Blick, ihre Gebärde, ihren Mund.
Nun ruht sie wieder so still und sanft; aber ihr habt gesehen, wie sie
sich aufrichtete und mit entfalteten Händen mich segnete, wie sie mich
freundlich anblickte!
Ihr habt es alle gehört, ihr seid Zeugen, daß sie zu mir sagte: 'dir
ist vergeben!'
Ich bin nun keine Mörderin mehr unter euch, sie hat mir verziehen,
Gott hat mir verziehen, und niemand kann mir mehr etwas anhaben".
Umhergedrängt stand die Menge; sie waren erstaunt, sie horchten und
sahen hin und wider, und kaum wußte jemand, was er beginnen sollte.
"Tragt sie nun zur Ruhe!" sagte das Mädchen; "sie hat das Ihrige getan
und gelitten und kann nicht mehr unter uns wohnen".
Die Bahre bewegte sich weiter, Nanny folgte zuerst, und man gelangte
zur Kirche, zur Kapelle.
So stand nun der Sarg Ottiliens, zu ihren Häupten der Sarg des Kindes,
zu ihren Füßen das Köfferchen, in ein starkes eichenes Behältnis
eingeschlossen.
Man hatte für eine Wächterin gesorgt, welche in der ersten Zeit des
Leichnams wahrnehmen sollte, der unter seiner Glasdecke gar
liebenswürdig dalag.
Aber Nanny wollte sich dieses Amt nicht nehmen lassen; sie wollte
allein, ohne Gesellin bleiben und der zum erstenmal angezündeten Lampe
fleißig warten.
Sie verlangte dies so eifrig und hartnäckig, daß man ihr nachgab, um
ein größeres Gemütsübel, das sich befürchten ließ, zu verhüten.
Aber sie blieb nicht lange allein; denn gleich mit sinkender Nacht,
als das schwebende Licht, sein volles Recht ausübend, einen helleren
Schein verbreitete, öffnete sich die Türe, und es trat der Architekt
in die Kapelle, deren fromm verzierte Wände bei so mildem Schimmer
altertümlicher und ahnungsvoller, als er je hätte glauben können, ihm
entgegendrangen.
Nanny saß an der einen Seite des Sarges.
Sie erkannte ihn gleich; aber schweigend deutete sie auf die
verblichene Herrin.
Und so stand er auf der andern Seite, in jugendlicher Kraft und Anmut,
auf sich selbst zurückgewiesen, starr, in sich gekehrt, mit
niedergesenkten Armen, gefalteten, mitleidig gerungenen Händen, Haupt
und Blick nach der Entseelten hingeneigt.
Schon einmal hatte er so vor Belisar gestanden.
Unwillkürlich geriet er jetzt in die gleiche Stellung; und wie
natürlich war sie auch diesmal!
Auch hier war etwas unschätzbar Würdiges von seiner Höhe herabgestürzt;
und wenn dort Tapferkeit, Klugheit, Macht, Rang und Vermögen in einem
Manne als unwiederbringlich verloren bedauert wurden, wenn
Eigenschaften, die der Nation, dem Fürsten in entscheidenden Momenten
unentbehrlich sind, nicht geschätzt, vielmehr verworfen und
ausgestoßen worden, so waren hier soviel andere stille Tugenden, von
der Natur erst kurz aus ihren gehaltreichen Tiefen hervorgerufen,
durch ihre gleichgültige Hand schnell wieder ausgetilgt, seltene,
schöne, liebenswürdige Tugenden, deren friedliche Einwirkung die
bedürftige Welt zu jeder Zeit mit wonnevollem Genügen umfängt und mit
sehnsüchtiger Trauer vermißt.
Der Jüngling schwieg, auch das Mädchen eine Zeitlang; als sie ihm aber
die Tränen häufig aus dem Auge quellen sah, als er sich im Schmerz
ganz aufzulösen schien, sprach sie mit so viel Wahrheit und Kraft, mit
so viel Wohlwollen und Sicherheit ihm zu, daß er, über den Fluß ihrer
Rede erstaunt, sich zu fassen vermochte und seine schöne Freundin ihm
in einer höhern Region lebend und wirkend vorschwebte.
Seine Tränen trockneten, seine Schmerzen linderten sich, knieend nahm
er von Ottilien, mit einem herzlichen Händedruck von Nanny Abschied,
und noch in der Nacht ritt er vom Orte weg, ohne jemand weiter gesehen
zu haben.
Der Wundarzt war die Nacht über ohne des Mädchens Wissen in der Kirche
geblieben und fand, als er sie des Morgens besuchte, sie heiter und
getrosten Mutes.
Er war auf mancherlei Verirrungen gefaßt; er dachte schon, sie werde
ihm von nächtlichen Unterredungen mit Ottilien und von andern solchen
Erscheinungen sprechen, aber sie war natürlich, ruhig und sich völlig
selbstbewußt.
Sie erinnerte sich vollkommen aller früheren Zeiten, aller Zustände
mit großer Genauigkeit, und nichts in ihren Reden schritt aus dem
gewöhnlichen Gange des Wahren und Wirklichen heraus als nur die
Begebenheit beim Leichenbegängnis, die sie mit Freudigkeit oft
wiederholte: wie Ottilie sich aufgerichtet, sie gesegnet, ihr
verziehen und sie dadurch für immer beruhigt habe.
Der fortdauernd schöne, mehr schlaf—als todähnliche Zustand Ottiliens
zog mehrere Menschen herbei.
Die Bewohner und Anwohner wollten sie noch sehen, und jeder mochte
gern aus Nannys Munde das Unglaubliche hören; manche, um darüber zu
spotten, die meisten, um daran zu zweifeln, und wenige, um sich
glaubend dagegen zu verhalten.
Jedes Bedürfnis, dessen wirkliche Befriedigung versagt ist, nötigt zum
Glauben.
Die vor den Augen aller Welt zerschmetterte Nanny war durch Berührung
des frommen Körpers wieder gesund geworden; warum sollte nicht auch
ein ähnliches Glück hier andern bereitet sein?
Zärtliche Mütter brachten zuerst heimlich ihre Kinder, die von
irgendeinem übel behaftet waren, und sie glaubten eine plötzliche
Besserung zu spüren.
Das Zutrauen vermehrte sich, und zuletzt war niemand so alt und so
schwach, der sich nicht an dieser Stelle eine Erquickung und
Erleichterung gesucht hätte.
Der Zudrang wuchs, und man sah sich genötigt, die Kapelle, ja außer
den Stunden des Gottesdienstes die Kirche zu verschließen.
Eduard wagte sich nicht wieder zu der Abgeschiedenen.
Er lebte nur vor sich hin, er schien keine Träne mehr zu haben, keines
Schmerzes weiter fähig zu sein.
Seine Teilnahme an der Unterhaltung, sein Genuß von Speis und Trank
vermindert sich mit jedem Tage.
Nur noch einige Erquickung scheint er aus dem Glase zu schlürfen, das
ihm freilich kein wahrhafter Prophet gewesen.
Er betrachtet noch immer gern die verschlungenen Namenszüge, und sein
ernstheiterer Blick dabei scheint anzudeuten, daß er auch jetzt noch
auf eine Vereinigung hoffe.
Und wie den Glücklichen jeder Nebenumstand zu begünstigen, jedes
Ungefähr mit emporzuheben scheint, so mögen sich auch gern die
kleinsten Vorfälle zur Kränkung, zum Verderben des Unglücklichen
vereinigen.
Denn eines Tages, als Eduard das geliebte Glas zum Munde brachte,
entfernte er es mit Entsetzen wieder; es war dasselbe und nicht
dasselbe; er vermißt ein kleines Kennzeichen.
Man dringt in den Kammerdiener, und dieser muß gestehen, das echte
Glas sei unlängst zerbrochen und ein gleiches, auch aus Eduards
Jugendzeit, untergeschoben worden.
Eduard kann nicht zürnen, sein Schicksal ist ausgesprochen durch die
Tat; wie soll ihn das Gleichnis rühren?
Aber doch drückt es ihn tief.
Der Trank scheint ihm von nun an zu widerstehen; er scheint sich mit
Vorsatz der Speise, des Gesprächs zu enthalten.
Aber von Zeit zu Zeit überfällt ihn eine Unruhe.
Er verlangt wieder etwas zu genießen, er fängt wieder an zu sprechen.
"Ach!" sagte er einmal zu dem Major, der ihm wenig von der Seite kam,
"was bin ich unglücklich, daß mein ganzes Bestreben nur immer eine
Nachahmung, ein falsches Bemühen bleibt!
Was ihr Seligkeit gewesen, wird mir Pein; und doch, um dieser
Seligkeit willen bin ich genötigt, diese Pein zu übernehmen.
Ich muß ihr nach, auf diesem Wege nach; aber meine Natur hält mich
zurück und mein Versprechen.
Es ist eine schreckliche Aufgabe, das Unnachahmliche nachzuahmen.
Ich fühle wohl, Bester, es gehört Genie zu allem, auch zum
Märtyrertum".
Was sollen wir bei diesem hoffnungslosen Zustande der ehegattlichen,
freundschaftlichen, ärztlichen Bemühungen gedenken, in welchen sich
Eduards Angehörige eine Zeitlang hin und her wogten?
Endlich fand man ihn tot.
Mittler machte zuerst diese traurige Entdeckung.
Er berief den Arzt und beobachtete, nach seiner gewöhnlichen Fassung,
genau die Umstände, in denen man den Verdacht des getroffen hatte.
Charlotte stürzte herbei; ein Verdacht des Selbstmordes regte sich in
ihr; sie wollte sich, sie wollte die andern einer unverzeihlichen
Unvorsichtigkeit anklagen.
Doch der Arzt aus natürlichen und Mittler aus sittlichen Gründen
wußten sie bald vom Gegenteil zu überzeugen.
Ganz deutlich war Eduard von seinem Ende überrascht worden.
Er hatte, was er bisher sorgfältig zu verbergen pflegte, das ihm von
Ottilien übriggebliebene in einem stillen Augenblick vor sich aus
einem Kästchen, aus einer Brieftasche ausgebreitet: eine Locke, Blumen,
in glücklicher Stunde gepflückt, alle Blättchen, die sie ihm
geschrieben, von jenem ersten an, das ihm seine Gattin so zufällig
ahnungsreich übergeben hatte.
Das alles konnte er nicht einer ungefähren Entdeckung mit Willen
preisgeben.
Und so lag denn auch dieses vor kurzem zu unendlicher Bewegung
aufgeregte Herz in unstörbarer Ruhe; und wie er in Gedanken an die
Heilige eingeschlafen war, so konnte man wohl ihn selig nennen.
Charlotte gab ihm seinen Platz neben Ottilien und verordnete, daß
niemand weiter in diesem Gewölbe beigesetzt werde.
Unter dieser Bedingung machte sie für Kirche und Schule, für den
Geistlichen und den Schullehrer ansehnliche Stiftungen.
So ruhen die Liebenden nebeneinander.
Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere, verwandte Engelsbilder
schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher
Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen.
Ende dieses Projekt BookishMall.com Etexes "Die Wahlverwandtschaften" von
Johann Wolfgang von Goethe.
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