Die Nachtkerze, welche man ihm mitgegeben hatte, flackerte und erlosch; zugleich sprang die Tür auf, welche durch eine Reihe anderer Kammern nach dem oberen Flur hinausführte. Er trat zurück und spähte in die leeren Räume nebenan; dann zog er die offene Tür ins Schloß und drehte wie unwillkürlich von innen den rostigen Schlüssel um.
Wieder sank die schwüle Stille auf Haus und Wald, und wieder lehnte er halb wach, halb träumend in dem offenen Fenster. Schon seit lange hatte es von der Glocke aus dem Giebel zwölf geschlagen: nun war nichts hörbar als oben von dem Uhrboden her das einförmige Klirren der Eisenräder und das Rucken der Ketten, an denen die Gewichte hingen. Da endlich scholl wieder ein dröhnender Glockenschlag in das Haus hinunter; der Junker wandte sich vom Fenster ab und lauschte. Es folgte kein weiterer Schlag, es hatte eins geschlagen. Aber nebenan im Rittersaale rauschte es wie von Frauenkleidern, und jetzt deutlich hörte er »Detlev! Detlev!« wie mit angsterstickter Stimme seinen Namen rufen.
Als er die Tür zum Saale aufriß, erblickte er bei dem Nachtschimmer, der durch die Fenster drang, eine weiße Frauengestalt, welche beide Arme ihm entgegenstreckte.
Einen Augenblick nur stutzte er; dann trat er rasch auf die Erscheinung zu. »Du, Heilwig!« rief er, als eine warme Hand die seine faßte. »Was ist dir? Was hat dich nachts hier nach dem öden Saal hinaufgetrieben?«
Sie blickte ängstlich um sich her. »Die Uhr schlug so fürchterlich; ich wollte zu dir; mir war, als droh dir Unheil hier im Hause!«
Er stützte sie sanft in seinen Armen. »Du träumst, Heilwig!« sagte er, »was sollte mir in meiner Mutter Haus geschehen?«
– »Ich weiß nicht, Detlev; aber laß mich bei dir bleiben; die Sommernacht geht ja bald herum.«
»Nicht nur die Sommernacht; bleib immer bei mir, Heilwig!«
– »Ja, immer, wenn du es willst.«
Sie führte ihn zu einem der alten Sessel, der noch wie einstens, da sie als Kinder ihn gemeinschaftlich dorthin getragen hatten, vor dem Bildnis seiner Mutter stand; er sollte nach seiner Reise jetzt der Ruhe pflegen. Als er ihr den Willen getan hatte, zog sie eine Fußbank darunter vor und setzte sich zu seinen Knien, den Kopf in seine beiden Hände legend. Und als er dann im Schlummer sanft zu atmen schien, sprach sie wie aus Träumen vor sich hin: »Mein Bruder! Mein lieber Bruder!«
Aber er hatte nicht geschlafen; er neigte sich zu ihr herab und flüsterte: »Mein traut Geschwister!«
Dann wieder hob sie den Kopf ein wenig aus des Bruders Hand. »Wie seltsam, Detlev«, sprach sie leise; »es ist doch dunkel; aber ich sehe deutlich deiner Mutter Bildnis: sie blickt uns freundlich an!«
»Ja, Heilwig; sehr freundlich.«
Und dann schwiegen sie. Sie wären fast entschlummert; da horchte Heilwig auf: »Was war das, Detlev?«
– »Ich hörte nichts.«
»Doch! Da ist es wieder; hörst du nicht? Da drinnen riß es an der Kammertür!«
Der Junker hatte sich aufgerichtet. »Die Tür ist verschlossen«, sagte er.
Es war wieder alles still geworden; sie hörten nichts mehr; es mochte nur der Wind gewesen sein. Heilwig legte wieder das Haupt in ihres Bruders Hände; dann schwiegen beide, ein plötzlicher Schlummer hatte sie befangen.
Aber die Nacht war noch nicht herum, und es schlief nicht alles in diesem Hause. Wäre sonst ein Ohr noch wach gewesen, es hätte draußen im Flur das leise Öffnen der Tür zur Winterstube vernehmen müssen; dann ebenso leise unsichere Schritte durch dieselbe bis zur Tür des Saales selbst.
Unhörbar tat sich diese auf, und wie vorsichtig gegen die Kammertür hinschreitend, näherte es sich den Schlafenden. Doch erreichte es dieselben nicht; ein dumpfer Schrei, wie aus der Brust eines entsetzten Tieres, durchbrach die Stille der Nacht.
Heilwig war jäh emporgefahren, als müsse sie mit ihrem Leibe den des Bruders decken; aber es war nicht mehr vonnöten; sie sah nur noch eine taumelnde Gestalt mit beiden Armen um sich greifen und dann in schwerem Fall zu Boden stürzen. Zugleich erscholl ein Klirren, als würde eine Waffe über den Fußboden bis zu ihren Füßen fortgeschleudert.
Heilwig hielt mit beiden Armen des Junkers Hals umklammert. »Detlev! Detlev!« raunte sie ihm zu. Er aber antwortete nicht; er hatte sich gebückt, und seine Hand griff suchend auf dem Fußboden umher. Als er die Waffe erfaßt hatte, die unter ihrem Sessel lag, und seine Finger an dem Schlosse rührten, zuckte er zusammen, und es schüttelte ihn wie Fieberfrost. Zugleich aber sprang er auf, und den Arm fest um sie legend, riß er Heilwig mit sich in die Kammer und weiter, nachdem er hastig aufgeschlossen, durch die Reihe der übrigen Kammern auf den Flur hinaus und hinab die Wendelstiege.
»Wer war das?« rief sie, als beide atemlos im Unterhause angekommen waren. »Der wollte dich töten, Detlev!«
»Ich weiß nicht; frag mich nicht, Heilwig; ich will jetzt nur eines wissen! – Aber meiner Mutter Erbe werde ich nimmermehr verlangen.«
Er zog das Mädchen wieder mit sich fort, bis in die Schlafkammer der Großmutter, bis an das Bett der schlummernden Greisin.
Sie hörten es nicht, wie draußen über der Zugbrücke eilige Schritte laut wurden, und sahen nicht die fliehende Gestalt, die jenseit derselben unter dem Schatten der Eichen in die Nacht verschwand.
Herr Hennicke hatte recht behalten; der blonde Reiter ist nicht wieder auf den Hof gekommen, so emsig auch Frau Benedikte nach ihm ausgesehen. Mit ersterem selber aber mußte Seltsames geschehen sein; denn als, wie hergebracht, die Hausmagd mit der Morgensuppe an sein Bette kam, lag dort ein eisgrauer Mann mit eingesunkenem Antlitz; als sie aber mit Geschrei von dannen stürzen wollte, war es die Stimme ihres Herrn, welche die Närrin erst zurückrief und sie dann samt ihrer Suppe zu allen Teufeln schickte.
Er hat aber wochenlang in der dumpfen Kammer fortgesessen, bis eines Morgens drüben aus dem Dorf zu Eekenhof das Turmgeläute hell herüberwehte, das man des dazwischenliegenden Waldes wegen nur selten hat vernehmen können. Da hat er aufgehorcht und den eben eintretenden Vogt gefragt, wer denn begraben würde. Als dieser ihm berichtet, es sei die alte Förstersfrau vom Eekenhof, hat er sich arg erbost, daß man ihm nichts davon vermeldet, dann aber plötzlich nur den Namen »Heilwig« ausgestoßen und befohlen, ihm sein Pferd zu satteln. Er ist jedoch nicht fortgeritten; der Hofjunge hat stundenlang das aufgezäumte Tier im Hofe umhergeführt, bis es endlich wieder abgesattelt werden mußte. Und ebenso erging es am anderen und am dritten Morgen.
Danach aber eines Tages sah der Kätner Forthmann, welcher eine blanke Kuh am Seile führte, eine greise Reitergestalt über die Zugbrücke nach dem Eekenhof hinaufjagen und dort am Hause von dem Pferde steigen.
Der Kätner schüttelte den Kopf; er konnte sich nicht denken, was der Mann dort suche, denn es wohnte niemand mehr darin; seine Grete war zu dreien Malen mit der Morgenmilch ans Haus gekommen; aber immer hatte sie vergebens an die ringsum verschlossenen Türen gepocht.
Auch jetzt ist nichts Lebendiges zu spüren gewesen; selbst die schwarzen Krähen mußten auf Atzung fortgeflogen sein.
Der Reiter aber hatte mit einem schweren Doppelschlüssel die Haupttüre aufgeschlossen. Vom Flur aus hat er die Räume des Unterbaus durchwandert; aber es ist nichts darin gewesen als nur das stumme Gerät, das einst den beiden Frauen zu ihrem einsamen Leben diente.
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