Sie fuhren jetzt über die Wegkreuzung kurz vor dem Dorfe Priestitz, gleich würden sie in Priestitz halten, und er konnte die Uhr stellen. Er war so beschäftigt damit, daß ihn erst eine scheltende, helle Stimme an eine andere Pflicht erinnern mußte.

»Na, du langer Laban!« schalt die helle Stimme unter einem kaputzenförmigen Hut hervor. »Siehste nich, det ick mir mit die Reisekörbe eenen Bruch heben tue?! Kiek nich und faß lieber an!«

Rasch griff Karl zu und zog den schweren Korb in den Wagen. »Entschuldigen Sie nur«, sagte er eilig. »Ich dachte –«

»Dachte sind keene Lichte! Hier, faß noch mal an – hau ruck! Siehste, den hätten wa … So, un nu nimmste Tilda’n hoch!« Und zu dem plärrenden Kind: »Weene nich, Tilda! Der Mann tut dir nischt – er is ja gar keen Mann, er is bloß dußlig, und dußlig is er, weil er nie aus seinem Kuhkaff rausjekommen is! Na, und nu jib mir ooch mal die Hand, du Kavalier – Hau ruck! Diese verfluchten Kleedagen!«

Als Karl Siebrecht diese energische Dame in den Wagen zog – sie hatte dabei die Röcke ungeniert hochgenommen und zwischen die Knie geklemmt –, sah er zum ersten Mal ihr Gesicht. Nach der Stimme hatte er gemeint, es müsse eine junge Frau sein, eine sehr junge vielleicht. Nun sah er mit Staunen, daß es ein Kind war, ein Mädchen von dreizehn oder vierzehn Jahren, schätzte er, in den viel zu weiten Kleidern einer alten Frau, aber mit dem ein bißchen frechen, vergnügten Gesicht einer Spitzmaus! Ganz hell – mit einer langen dünnen Nase, hellen flinken Augen und mit einem schmalen, sehr beweglichen Mund. »Na, wat grinste?« fragte das Mädchen gleich. »Ach, du dachtest, ick wär deine Jroßmutta! Nee, is nich! Wetten, du rätst nich, wie alt ick bin? Na, wie alt bin ick?« Und gleich weiter, ohne eine Antwort abzuwarten: »Warum halten wir denn noch immer in disset Kaff?! Wejen mir kanns weiterjehn! Wär ick nich gewesen und die Tilda, hätt’ er übahaupt nich halten brauchen! Er soll man machen, det wa weiterkommen, sonst vapassen wa in Prenzlau noch den Anschluß!«

»Sie müssen erst die Milchkannen einladen«, erklärte Karl. »Die sollen auch mit nach Berlin.«

»Ach, so is det! Du weest hier woll Bescheid? Biste von hier? Aber ick habe dir hier nie jesehen! Ick bin schon drei Tage hier, ick kenne jeden Schwanz in det Kaff!«

»Nein, ich bin eine Station weiter her. Aber ich weiß hier Bescheid, mein Vater hat hier mal den Bahnhof gebaut. Bei wem waren Sie – warst du denn hier?«

»Ach nee, den Bahnhof? So wat nennt ihr hier Bahnhof?! So wat nenn ick ne Sommerbluse – vorne offen und hinten ooch nich ville. Die kann dein Vater sich an den Hut stecken!«

Unwillkürlich sagte Karl Siebrecht: »Mein Vater ist am Montag gestorben.«

»Ach nee, det tut mir aba leid! Desterwegen biste so schwarz, ick habe jedacht, du bist beim Paster in de Lehre. Na ja, wa müssen alle mal abhauen, det is nicht anders! Bei uns is die Mutta verstorben – seitdem spiel ick die Ziehmutter zu det Jör. – Tilda, wenn du den Nuckel noch eenmal hinschmeißt, ballre ick dir eine! Siehste, wie die pariert?! Respekt muß sind – die jehorcht mir, als wär ick nich die Schwester, als wär ick die Mutta. Mutta haste noch?«

»Nein, meine Mutter ist schon lange tot.«

»Ach, du bist Vollwaise? Det kann janz jut sind, vastehste, wir haben Vata’n noch, aber manchmal denk ick, ohne Vata jings bessa. Er is Maurer, aber meistens macht er blau! Sonst een tüchtjer Maurer, allens, wat recht is, ooch jutmütig, bloß, det der Mann so wasserscheu is –. Na ja, wa haben alle unsre Fehler …«

Der Zug fuhr wieder eifrig bimmelnd durch die Felder. Die kleine energische Person hatte sich auf ihren Reisekorb gesetzt, hatte aus der Tasche ihres Unterrockes einen Apfel geholt und biß eifrig davon ab. Darüber vergaß sie ihre Schwester nicht, die auch abbeißen durfte, während die flinken Augen der Großen bald zum Fenster hinaus, bald zum Jungen hinüber gingen. Nun musterte sie wieder sein Gepäck. Karl Siebrecht hatte den Eindruck, daß diesem Mädchen auch nicht das geringste entging: er hatte noch nie ein so waches, lebendiges Menschenkind gesehen. Und ein so redseliges! »Die Äpfel sind jut«, sagte sie jetzt. »Willste ooch eenen? Ick habe den halben Korb voll! Nee, nich? Na, laß man, nötigen tu ick dir nich, wer Hunger hat, frißt von alleene! Da staunste woll, wat ick in deinem Kaff jemacht habe? Det haste wohl jemerkt, det ick nich vom Lande bin? Nee, ick bin mit Spreewasser jetauft, det heeßt, et wird woll Pankewasser jewesen sein, ick bin mehr aus dem Wedding, bei de Pankstraße her! Weeßte, wo det is?«

»Ja, daß du aus Berlin bist, habe ich auch schon gemerkt!« lachte Karl Siebrecht vergnügt. Er wußte nicht, wie es ihm erging, aber diese kleine Person ließ ihn all seinen Kummer und sein Abschiedsweh vergessen. Sie war eine so unglaubliche Mischung von Kind und Erwachsenem! Lebensklug – und doch kindlich!

Jetzt lachte sie auch. »Ach, du meinst, von wejen meine Sprache? Na, laß man, wa können nich alle uff dieselbe Tonart piepen! Det wäre zu langweilig! Übrijens, Friederike Busch is mein Name!«

»Karl Siebrecht«, stellte sich der Junge vor.

»Sehr anjenehm, Karl!« Und sie gab ihm ihre kleine, graue, schon sehr verarbeitete Kinderhand. »Karl heeßt auch mein Vetter, in dem Kaff da, von dem ick komme, in Priestitz. Aber er is man doof uff beede Backen, mit dem kann ick keen Wort reden, mit dir kann ick jut reden, Karl –!«

»Ich mit dir auch!«

»Na, siehste! Und warum ick in Priestitz war? Da is doch Muttas Schwesta, Tante Bertha! Solange Mutta noch lebte, und ooch det Jahr nach ihrem Wegscheiden hat se uns imma von’s Schlachtefest Pakete jeschickt. Aber letztet Jahr: Neese! Da ha’ ick disset Jahr zu Vata’n jesagt: det gibt et ja nu nich, wenn so wat erst inreißt, denn kucken wa det janze Leben in den Mond! Ick fahre hin! Na, der Olla hat ja jenuschelt, aba da mach ick ma nischt draus.