Wie sollte ich gerade in diesen unseligen Monaten ahnen, daß ich mich selbst bald werde grenzenlos in Erstaunen setzen? (Alles kam dann wie ohne mein Zutun.) Ich war mit dreiundzwanzig Jahren in meinem Elend eine noch nicht voll entwickelte Lemure. Vera aber, ein Kind, schien weit über ihre Jahre hinaus reif und gefestigt zu sein. Immer, wenn mich bei Tisch ihre Augen streiften, erstarrte ich unter dem arktischen Kältegrad ihrer Gleichgültigkeit. Dann hatte ich den Wunsch, mich in Nichts aufzulösen, damit Vera den unappetitlichsten und unsympathischsten Menschen der Welt nicht länger vor den schönen Augen haben müsse.
Neben Geburt und Tod erlebt der Mensch eine dritte katastrophale Stufe auf seinem Erdenweg. Ich möchte sie die ›soziale Entbindung‹ nennen, ohne mit dieser etwas zu geistreichen Formel ganz einverstanden zu sein. Ich meine den krampfgeschüttelten Übergang von der völligen Geltungslosigkeit des jungen Menschen zu seiner ersten Selbstbestätigung im Rahmen der bestehenden Gesellschaft. Wieviel gehen an dieser Entbindung zugrunde oder nehmen zumindest einen Schaden fürs Leben. Es ist schon eine runde Leistung, fünfzig Jahre alt zu werden, und noch dazu in Ehren und Würden. Mit dreiundzwanzig, ein verspäteter Fall, wünschte ich mir alltäglich den Tod, zumal wenn ich am Familientisch Doktor Wormsers saß. Mit wildem Herzklopfen erwartete ich jedesmal Veras schwebenden Eintritt. Erschien sie in der Tür, so war’s für mich eine fürchterliche Wonne, die mir die Kehle zudrückte. Sie küßte den Vater auf die Stirn, gab dem Bruder einen Klaps und reichte mir geistesabwesend die Hand. Dann und wann richtete sie sogar das Wort an mich. Es handelte sich dabei meist um Fragen, die einen der Gegenstände betrafen, die an diesem Tage in ihrer Schule zur Sprache gekommen waren. Ich versuchte dann mit gieriger Stimme auszupacken und mein Licht leuchten zu lassen. Es gelang mir niemals. Vera wußte nämlich immer so zu fragen, als benötige sie keineswegs den unfehlbaren Wissensborn, als welchen ich mich dünkte, so als sei ich der Geprüfte und sie die Prüfende. Nichts nahm sie auf Treu und Glauben hin. Darin war sie die echte Tochter des Doktors. Schnitt sie meinen eitlen Sermon – ihre Augen sahen über mich hinweg – mit einem unnachsichtigen ›Warum ist das so?‹ plötzlich ab, dann verwirrte mich ihr Wahrheitssinn bis zur Sprachlosigkeit. Ich selbst hatte niemals ›Warum?‹ gefragt, sondern an der endgültigen Richtigkeit alles Gelehrten nicht im geringsten gezweifelt. Nicht umsonst war ich der Sohn eines Schulmannes, der das ›Memorieren‹ des Lehrstofes für die beste Methode hielt. Manchmal stellte mir Vera auch Fallen. In meinem Eifer ging ich in diese Fallen. Dann lächelte Doktor Wormser müde vor Ironie oder ironisch vor Müdigkeit, wer konnte es bei ihm unterscheiden. Veras Intelligenz, ihr kritischer Sinn, ihre Unbestechlichkeit, wurde nur noch übertrofen von dem unnahbaren Reiz ihrer Erscheinung, der mir immer wieder den Atem verschlug. Hatte ich mir eine Niederlage zugezogen, dann liebte ich das Mädchen nur um so verzweifelter. Ich durchlebte ein paar Wochen der gräßlichsten Sentimentalität. Nachts weinte ich mein Kissen naß. Ich, der ich einige Jahre später die umworbenste Schönheit von Wien mein nennen sollte, ich glaubte während jener unseligen Wochen dieses strengen Schulmädchens Vera niemals würdig werden zu dürfen.
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