Ein kurzes, verrücktes Glück, von Gnaden des Zufalls und seiner Lüge. Er hat nicht anders gehandelt als ein antiker Gott, der sich in wandelbarer Gestalt zu einem Menschenkinde herabbeugt. Darin liegt doch ein Adel, eine Schönheit. Vera schien es überwunden zu haben, dessen war er ja schon so sicher. Denn was immer geschehen sein mochte mit ihr, sie hatte sich in den drei Jahren seit seinem Verschwinden nicht gemeldet, mit keiner Zeile, mit keinem Wort, mit keiner persönlichen Botschaft. Aufs beste überstanden war alles und eingeordnet. Wie hoch hatte er sie ihr angerechnet, diese verständige Einordnung ins Unvermeidbare. Und jetzt, dieser Brief! Nur durch eine Glücksfügung ist er Amelie nicht in die Hände gefallen. Und nicht nur der Brief. Sie selbst ist da, verfolgt ihn, taucht auf hier an diesem Bergsee, wo sich alle Welt zusammenfn det, jetzt im abscheulich familiären Monat Juli. Ingrimmig denkt Leonidas: Vera ist eben doch nur eine ›intellektuelle Israelitin‹. So hoch diese Menschen sich auch entwickeln können, an irgend etwas hapert’s am Ende doch. Zumeist am Takt, an dieser feinen Kunst, dem Nebenmenschen keine seelischen Scherereien zu bereiten. Warum z. B. hatte sich sein Freund und Kommilitone, der ihm jenen erfolgreichen Frack vererbte, um acht Uhr abends, zu einer geselligen Stunde also und noch dazu im Nebenzimmer erschießen müssen? Hätte er das nicht ebensogut woanders tun können oder zu einer Zeit, wo sich Leonidas nicht in der Nähe befand? Aber nein! Jede Handlung, auch die verzweifeltste, muß unterstrichen und in bittere Anführungszeichen gesetzt werden. Immer ein Zuviel oder ein Zuwenig! Ein Beweis für jenen so bezeichnenden Mangel an Takt. Unsagbar taktlos ist es von Vera, im Juli nach Sankt Gilgen zu kommen, wo Leonidas mit Amelie zwei Wochen seines schwerverdienten Urlaubs verbringen will, wie sie gewiß in Erfahrung gebracht hat. Gesetzt den Fall, er begegnet ihr jetzt auf dem Dampferchen, was soll er tun? Er weiß natürlich, was er tun wird: Vera nicht erkennen, nicht grüßen, durch sie achtlos heiter hindurchblicken und mit Amelie und der kleinen Gesellschaft ohne Wimperzucken lachende Konversation machen. Doch wie teuer wird ihm diese empö rend brillante Haltung zu stehen kommen! Sie kostet Nervenkraft und Selbstbewußtsein für eine ganze Woche seines allzu kurzen Urlaubs. Der Appetit ist hin. Die nächsten Tage sind vergällt. Und er muß sofort einen einleuchtenden Grund Amelie gegenüber ersinnen, um spätestens morgen Mittag den Aufenthalt in diesem so reizenden Sankt Gilgen abbrechen zu können. Wohin sie sich aber begeben werden, ob nach Tirol, an den Lido oder ans nördliche Meer, überall wird ihn die Möglichkeit verfolgen, die er nicht auszudenken wagt. Das rasche Gefalle dieser Überlegungen hat ihn den Brief in seiner Hand vergessen lassen, jetzt aber erfaßt ihn eine jähe Neugier. Er möchte wissen, woran er ist. Vielleicht sind jene dämmrigen Ahnungen und Befürchtungen nur Ausgeburten seiner so leicht reizbaren Hypochondrie. Vielleicht wird er erleichtert aufatmen, wenn er den Brief gelesen hat. Die dicke Sommerhummel, seine Mitgefangene, hat endlich den Fensterspalt gefunden und verdröhnt in der Freiheit draußen. Es ist auf einmal schrecklich still in der kläglichen Enge.
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