Diese Demonstrationen hörten übrigens ebenso plötzlich wieder auf, wie sie begonnen hatten, sobald der Wein aufgeschlürft war und die rechenartig arbeitenden Finger jede Stelle, wo er besonders massenhaft gestanden, mit der Zeichnung eines Bratrostes versehen hatten. Der Holzhacker setzte die Säge, die er in dem Scheit hatte stecken lassen, wieder in Bewegung; die Frau kehrte zu ihrem auf der Türschwelle abgesetzten heißen Aschentopf zurück, mit dem sie sich selbst oder ihrem Kinde den Schmerz der durchfrorenen Finger und Zehen zu beschwichtigen versuchte; Männer mit nackten Armen, verfilzten Haaren und leichenfahlen Gesichtern, die aus Kellerwohnungen an das winterliche Licht emporgekommen waren, verschwanden wieder in ihren Höhlen, und über den Schauplatz verbreitete sich ein Düster, das ihm weit natürlicher war als der Sonnenschein.
Es war Rotwein gewesen, und die Stelle, wo er ausgeflossen, war eine enge Straße der Vorstadt Saint Antoine in Paris. Er hatte auch viele Hände, viele Gesichter, manchen nackten Fuß und manchen Holzschuh gefärbt. Die Hände der Holzhacker ließen rote Fingerabdrücke an den Scheiten zurück, und die Stirn des Weibes mit dem Kind war von dem alten Lumpen befleckt, den sie sich wieder um den Kopf gewunden. Die sich an den Faßdauben gelabt hatten, waren um den Mund herum getigert, und ein so beschmierter langer Spaßmacher, auf dessen Stirn eine schmutzige lange Zipfelmütze niederfiel, malte mit seinen in die trübe Weinhefe getauchten Fingern das Wort ›Blut‹ an eine Wand.
Es sollte eine Zeit kommen, in der auch solcher Wein in den Straßen ausgegossen wurde und sein Rot viele Pflastersteine färbte.
Als nun auf Saint Antoine die Wolke wieder lagerte, die ein flüchtiger Sonnenblick von seinem Antlitz verdrängt hatte, trat abermals tiefe Finsternis ein; Kälte, Schmutz, Krankheit und Not waren die Gefolgsleute des heiligen Antonius – lauter mächtige Edle, namentlich die Not. Abgezehrte Fabrikarbeiter standen schaudernd an den Ecken, gingen in den Häusern ein und aus, schauten aus jedem Fenster und ließen ihre armseligen Fähnlein im Wind flattern. Die Fabrik, in der sie sich so heruntergearbeitet, hatte nichts gemein mit jener fabelhaften Mühle, die alte Leute jung machte, sondern übte gerade die entgegengesetzte Wirkung; die Kinder hatten alte Gesichter und tiefe Stimmen, und auf jedem war mit stets erneuten tiefen Furchen das Zeichen des Hungers eingegraben. Dies erschien als der vorherrschende Zug. Der Hunger sprach aus den hohen Häusern heraus durch die armseligen Linnen, die an den ausgespannten Leinen hingen, und wurde mit Stroh und Lumpen, Holz und Papier in sie hineingeflickt. Hunger bedeutete jeder der kleinen Holzabschnitte, die unter der Säge des Holzhackers fielen; Hunger glotzte aus den rauchlosen Schornsteinen in die Tiefe und schoß aus der schmutzigen Straße auf, in deren Kehricht sich kein Abfall vom Essen befand. Hunger war die Inschrift der Bäcker, deutlich ausgedrückt in den kleinen Laiben und dem spärlichen Brotvorrat – die der Wurstläden, lesbar in den Erzeugnissen von Hundefleisch, die zum Verkauf ausgeboten wurden. Der Hunger ließ seine dürren Knochen rasseln unter den in der gedrehten Walze röstenden Kastanien und zeigte sein Skelett auf jedem Teller mit schlechten, in einigen Tropfen widerwärtigen Öls gebratenen Kartoffeln.
Der Tummelplatz war in jeder Beziehung für ihn passend. Eine enge, krumme Straße voll Unflat und Gestank, die in die andern engen, krummen Straßen einmündete, alle bevölkert von Lumpen und Nachtmützen, alle riechend nach Lumpen und Nachtmützen und in allen sichtbaren Dingen mit einem düsteren, brütenden Aussehen. In den gehetzten Mienen der Menschen war da und dort noch so eine Art Willenskraft zu lesen, sich gegen ein solches Schicksal aufzubäumen. Wie gedrückt sie auch dahinschlichen, fehlte es ihnen doch nicht an Augen voll Feuer, an zusammengepreßten Lippen, blaß von dem, was sie unterdrückten, und an Stirnen, deren Runzeln an den Henkerstrick erinnerten, von dessen leidender oder handelnder Anwendung sie träumten. Die Geschäftsschilder, deren es fast so viele gab wie Läden, zeigten lauter greuliche Illustrationen des Mangels. Die Schlächter hatten nur die magersten Fleischstücke, die Bäcker die kleinsten Laibe groben Brotes abbilden lassen. Die abgemalten Gäste auf den Schildern der Weinkneipen krächzten in hohläugiger Vertraulichkeit über dem spärlich zugemessenen dünnen Wein oder Bier. Nichts war in einem ordentlichen Zustande dargestellt als das Arbeitsgerät und die Waffen; allerdings, die Messer und Äxte waren scharf, die Schmiedehämmer schwer und die Vorräte des Büchsenmachers mörderisch. Es gab keine Fußsteige, das lahm machende Pflaster mit seinen vielen kleinen Schlamm- und Wasserpfützen begann unmittelbar vor der Tür. Dafür lief die Gosse durch die Mitte der Straße – das heißt, wenn sie überhaupt lief, und das geschah nur nach schweren Regengüssen, dann lief sie aber in ihrem Übermut bis in die Häuser hinein. In weiten Abständen sah man quer über die Straße je eine einzige schwerfällige Laterne an einem Seil, das über eine Rolle lief, aufgehängt, und wenn sie dann nachts von dem Lampenwärter niedergelassen, angezündet und wieder aufgezogen wurden, pendelte über den Köpfen eine weit auseinandergezerrte Reihe von düster brennenden Dochten so unsicher, als wären sie auf dem Meere. Und so konnte mans auch nennen; sie zitterten auf einem Meere, und Schiff und Mannschaft waren in Sturmgefahr.
Denn es sollte eine Zeit eintreten, in der die hageren Vogelscheuchen jenes Stadtteils in ihrem Müßiggang und Hunger dem Lampenwärter so lange zugesehen hatten, daß ihnen der Gedanke kam, seine Methode zu verbessern und an jenen Seilen und Rollen Menschen in die Höhe zu ziehen, damit sie grell hineinleuchten möchten in die Dunkelheit ihres Schicksals. Doch die Zeit war noch nicht da, und jeder Wind, der über Frankreich hinblies, schüttelte vergeblich die Lumpen der Vogelscheuchen; die Vögel mit ihrem schönen Gesang und Gefieder ließen sich nicht warnen.
Der Weinschank war ein Eckhaus von besserem Aussehen als die meisten anderen, und der Besitzer stand in gelber Weste und grünen Beinkleidern vor der Tür und sah dem Kampf um den ausgelaufenen Wein zu. »Geht mich nichts an«, sagte er schließlich mit einem Achselzucken. »Die Lieferung geschah auf Gefahr des Verkäufers; er mag für eine andere sorgen.«
Seine Augen fielen zufällig auf den langen Spaßmacher, der mit seinem Witz die Wand bekleckste, und er rief ihm über die Straße hinüber zu:
»He, Gaspard, was macht Ihr da?«
Der Bursche zeigte auf seinen Witz mit großer Wichtigtuerei, wie das solche Kerle an sich haben. Aber das nützte ihm nichts, er machte keinen Eindruck, wie es solchen Spaßmachern häufig ergeht.
»Was soll das? Seid Ihr denn fürs Tollhaus reif?« sagte der Weinwirt, über die Straße hinübergehend und den Spaß mit einer Handvoll Gassenschmutz austilgend, den er aufnahm und darüber hinschmierte. »Warum schreibt Ihr das auf offener Straße? Gibt es denn keinen anderen Platz, um solche Worte hinzuschreiben?«
Während dieser Vorhaltung ließ er, vielleicht zufällig, vielleicht auch nicht, seine rein gebliebene Hand in die Richtung auf des Spaßmachers Herz fallen. Dieser klopfte mit seiner eigenen darauf, tat einen schnellen Sprung in die Höhe und nahm dann die Haltung eines phantastischen Tanzes an, schleuderte sich seinen beschmutzten Schuh vom Fuß in die Hand und streckte ihn aus. Dieser Spaß machte einen äußerst sinnfälligen und geradezu herausfordernden Eindruck.
»Zieht ihn nur wieder an, zieht ihn an« sagte der andere.
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