Musketiere zogen nach Saint Giles, um auf Schleichwaren zu fahnden, und wurden von einem Pöbelhaufen, den sie ihrerseits in gleicher Weise bearbeiteten, mit Schüssen empfangen. Das waren lauter Dinge, die man für nichts Außerordentliches ansah. Dabei hatte der Henker alle Hände voll zu tun, indem er das eine Mal die unterschiedlichen Verbrecher in langen Reihen aufknüpfte, ein ander Mal sein Amt samstags an einem einzelnen Hauseinbrecher übte, der am Dienstag ergriffen worden war, heute in Newgate dutzendweise Leuten ein Brandmal in die Hand eindrückte, morgen vor dem Tor von Westminsterhall Flugschriften den Flammen übergab und dann wieder einen grausamen Mörder und einen armen Strauchdieb, der einem Bauernbuben ein Sechspencestück abgejagt hatte, vom Leben zum Tod brachte.
Alles dies und noch tausend ähnliche Dinge geschahen, begannen und endigten in dem lieben alten Jahr eintausendsiebenhundertfünfundsiebzig. Und auf dem Schauplatz dieser Ereignisse traten, während der Holzhauer und der Bauer unbeachtet fortarbeiteten, jene beiden mächtigen Mundwerke und jenes Paar glatter und hübscher Frauengesichter geräuschvoll genug auf und behaupteten ihre göttlichen Rechte mit gewaltiger Hand. So führte das Jahr eintausendsiebenhundertfünfundsiebzig ihre Majestäten sowohl wie die Myriaden kleiner Wesen, darunter auch die Personen unserer Geschichte, dahin auf den vor ihnen liegenden Pfaden.
Zweites Kapitel
Der Postwagen
Es war die Straße nach Dover, die an einem Freitag im November abends spät vor der ersten der Personen lag, mit denen unsere Erzählung zu schaffen hat, und auf derselben Straße rumpelte auch die Postkutsche von Dover Shooters Hill hinan. Die Person stapfte gleich den übrigen Fahrgästen neben dem Wagen im Straßenschmutz bergan – nicht weil den Umständen nach ein Spaziergang besonderes Vergnügen gewährte, sondern weil die Steigung so stark, das Pferdegeschirr so lästig, der Schlamm so tief und die Kutsche so schwer war, daß die Rosse schon dreimal hatten halten müssen und außerdem einmal sogar die meuterische Absicht verraten hatten, mit Sack und Pack wieder nach Blackheath umzukehren. Aber Zügel und Peitsche und Postknecht und Kondukteur kannten den Kriegsartikel, der ein solches Unternehmen verbot, mochte es auch noch so sehr zugunsten der Annahme sprechen, daß manche Tiere Vernunft im Leibe haben. So hatte das Gespann nachgeben müssen und war zu seiner Pflicht zurückgekehrt.
Mit gesenkten Köpfen und zitternden Schweifen arbeiteten sich die Pferde durch den tiefen Schmutz, indem sie zwischenhinein stolperten und strauchelten, als wollte bei ihnen alles aus den Gelenken gehen. Sooft der Kutscher sie mit einem behutsamen ›Brrr!‹ haltmachen ließ, schüttelte das hintere Handpferd ungestüm den Kopf und damit zugleich das Geschirr, als wollte es mit besonderem Nachdruck andeuten, daß die Kutsche da nicht hinaufzubringen sei. Und wenn das Pferd in solcher Weise rasselte, fuhr der Fahrgast, wie ängstliche Reisende zu tun pflegen, zusammen und zeigte sich sehr beunruhigt.
Auf allen Taleinschnitten lag ein brauender Nebel, der sich in seiner Trübseligkeit bergan wälzte wie ein böser Geist, der Ruhe sucht, ohne sie finden zu können. Er war feucht und ungemein kalt und bewegte sich in langsam aufeinanderfolgenden kleinen Wellenzügen, denen einer fauligen See nicht unähnlich, durch die Luft. Sein Gewölk ließ das Licht der Kutschenlaternen nur auf ein paar Schritte unterscheiden, und der Dampf der sich abmühenden Pferde ging darin auf, so daß man meinen konnte, die abgehetzten Tiere seien die Quelle des ganzen Nebelmeers.
Außer dem gedachten Reisenden schritten noch zwei andere neben der Kutsche her. Alle drei waren bis über die Ohren verhüllt und trugen Stulpenstiefel. Keiner davon hätte nach dem Augenschein sich ein Urteil über das Aussehen des andern bilden können, und die Gedanken eines jeden waren gegen die der Mitreisenden ebenso verhüllt wie ihre Gestalt. In jenen Tagen hütete man sich wohl vor allzu schneller Vertraulichkeit, da jeder, dem man auf der Straße begegnete, ein Räuber oder der Verbündete von Räubern sein konnte. Mit Charakteren solcher Art traf man besonders leicht zusammen, denn jedes Posthaus, jede Schenke konnte jemand aufweisen, der im Sold des ›Kapitäns‹ stand, mochte es nun der Wirt selbst oder irgendein unscheinbarer Stallbediensteter sein. So dachte auch der Kondukteur der Doverpost an jenem Freitag abend des Novembers siebzehnhundertfünfundsiebzig, während er, Shooters Hill hinanholpernd, auf seinem Platze hinten auf dem Wagen stand, die Füße aneinanderklopfte und weder Auge noch Hand von der Waffenkiste vor sich wandte, in der außer Säbeln und geladenen Pistolen auch eine schußbereite Muskete lag.
Die Doverpost befand sich wie gewöhnlich in der angenehmen Lage, daß der Kondukteur die Reisenden und jeder Reisende seine Mitpassagiere und den Kondukteur, kurz, einer den andern beargwöhnte und der Postillion sich auf niemand als auf seine Pferde verlassen mochte, obschon er auch, soweit das liebe Vieh in Frage kam, es mit gutem Gewissen auf beide Testamente hätte beschwören können, daß es nicht für eine solche Reise paßte.
»Hü!« rief der Postillion. »So recht. Jetzt nur noch einen Ruck, und ihr seid droben. Hol euch der Teufel dafür, denn ich habe Not genug gehabt, euch hinaufzubringen. – Joe!«
»Ja?« entgegnete der Kondukteur.
»Wieviel Uhr mag es sein, Joe?«
»Gut zehn Minuten nach elf.«
»Oh, Mord und Tod«, rief der Postknecht ärgerlich, »und noch nicht einmal auf dem Shooter! Zu – hü! Vorwärts mit euch!«
Das temperamentvolle Pferd, das in einem Akt der entschlossensten Weigerung von der Peitsche getroffen worden war, fing wieder kräftig an zu klettern, und die drei andern Rosse folgten seinem Beispiel. Noch einmal arbeitete sich die Doverpost vorwärts, und die Stulpenstiefel der Reisenden klatschten nebenher. Sie hatten mit dem Wagen haltgemacht und ihm treulich Gesellschaft geleistet. Wäre einem von den dreien der vermessene Gedanke gekommen, den andern den Vorschlag zu machen, sie wollten im Dunkel und Nebel ein wenig vorausgehen, so hätte er sich damit sicher der Gefahr ausgesetzt, auf der Stelle als Straßenräuber niedergeschossen zu werden.
Der letzte Anlauf brachte den Postwagen auf die Höhe des Berges. Die Pferde hielten wieder an, um zu verschnaufen, und der Kondukteur stieg ab, um für die kommende Talfahrt den Radschuh einzulegen und den Fahrgästen den Kutschenschlag zu öffnen.
»Pst, Joe!« sagte der Postillion in warnendem Ton, indem er von seinem Bock niederschaute.
»Was habt Ihr, Tom?«
Beide lauschten.
»Ich höre ein Pferd uns nachtraben, Joe.«
»Und ich sage, es galoppiert, Tom«, versetzte der Kondukteur, indem er seinen Schlag losließ und hurtig auf seinen Platz hinaufkletterte. »Meine Herren, in des Königs Namen, geschwind eingestiegen!«
Der für unsere Geschichte vorgemerkte Reisende stand eben auf dem Kutschentritt und wollte hinein; die beiden andern hielten dicht hinter ihm und waren im Begriff, ihm zu folgen. Er blieb halb in, halb außer der Kutsche auf seinem Tritt, das andere Paar drunten auf der Straße; sie alle blickten lauschenden Ohrs von dem Postillion auf den Kondukteur und von dem Kondukteur auf den Postillion. Beide gaben ihnen die Blicke wieder zurück, und selbst das temperamentvolle Pferd spitzte die Ohren und schaute rückwärts, ohne Widerspruch zu erheben.
Die Stille, die auf das Aufhören des Rädergerassels und Rossegestampfs folgte, machte das Schweigen der Nacht nur um so eindrucksvoller. Das Schnauben der Pferde teilte der Kutsche eine zitternde Bewegung mit, als wäre sie selbst auch sehr aufgeregt. Die Herzen der Passagiere klopften vielleicht hörbar laut; jedenfalls erzählte die stille Pause sehr verständlich von Leuten, die außer Atem waren, aber gleichwohl keine Luft einzuziehen wagten und unter beschleunigtem Herzschlag dessen harrten, was da kommen sollte.
Man hörte, daß ein Pferd in wütendem Galopp den Berg hinaufjagte.
»Hallo!« rief der Kondukteur, so laut er konnte, in die Nacht hinaus.
»Ihr dort – Halt! – oder ich gebe Feuer!«
Der Hufschlag hielt plötzlich inne, und mit Not kämpfte sich die Stimme eines Mannes durch den Nebel:
»Ist das die Doverpost?«
»Was kümmert's Euch, wer wir sind?« entgegnete der Kondukteur.
»Wer seid Ihr?«
»Ich frage, ob dies die Doverpost ist.«
»Wozu braucht Ihr das zu wissen?«
»Ich will zu einem ihrer Passagiere.«
»Wie heißt der Passagier?«
»Mr.
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