Der Magister und der Prediger trugen die bewußtlose Jungfrau zuerst in das Pfarrhaus, wo sie den heißen Tag über lag und niemand kannte. Erst als der Abend nahete, erwachte sie und seufzte tief und sah fragend sich um. Langsam kam die Erinnerung, und als sie kam, schloß Else schaudernd und erzitternd die holden Augen zum zweitenmal.
In der sanften Kuhle des Abends trugen der Meister Konrad und der Pfarrer Friedemann Leutenbacher die verwundete Maid auf ihren Wunsch in den Wald zurück, und alles Jammers waren sie voll.
Niemand folgte ihnen als das alte Weiblein, welches schon am frühen Morgen am Wege saß und so warnend sang. So rot war der Schein der Abendsonne, daß man nicht sah, wie bleich, wie bleich die Stirn der Jungfrau war; – als die Träger der leichten Last die ersten Bäume des großen Waldes erreichten, ging der Mond auf, und das Reh stand und wartete auf die Herrin. – – –
»Er hat mich in Finsternis gelegt, wie die Toten in der Welt!« wiederholte Ehrn Friedemann Leutenbacher zu Wallrode im Elend, trat an seinen Tisch und zeichnete drei Kreuze unter die Predigt für das Weihnachtsfest des Jahres sechzehnhundertachtundvierzig. Martina hatte jetzt das Lämpchen auf den Tisch gestellt, ohne deshalb anzufragen, sie hatte auch einen Laib Brot und ein Messer neben die Predigt gelegt; – die weiße Katze saß aufrecht im Stuhl des Pfarrers und sah mit grünlich leuchtenden Augen in das Licht und auf das Brot. In diesem Augenblick pochte jemand an das Fenster, und Ehrn Friedemann fuhr zusammen, als habe ihn die Hand des Todes berührt. Einen kurzen Moment zögerte er, dann aber öffnete er das Fenster, welches der Wind ihm fast aus der Hand riß. Heulend drang der Sturm in das Gemach und trieb den Schnee bis auf den Tisch. Die Lampe erlosch, die Blätter der Predigt wurden durcheinandergeworfen und in die Ecken gewirbelt; mit einem entsetzten Satz verkroch sich die Katze unter dem Ofen.
»Wer ist da? Was will man zu solcher Stund?« rief der Pastor; zwei dürre Hände klammerten sich an das Fensterkreuz, und eine alte, keuchende Stimme kreischte:
»Gebet mir ein Stück Brot für meine Nachricht: Else von der Tanne muß sterben in dieser Nacht.« Der Pfarrer von Wallrode sprach kein Wort, er fiel schwer nieder auf beide Knie und faßte ebenfalls das Fensterkreuz mit beiden Händen. Die Stimme draußen fuhr fort:
»Die schöne Else muß sterben, ich aber kann's nicht; gebet mir ein Stücklein Brot. Der Wolf ist mir ausgewichen auf meinem Weg, der fallende Ast hat mich nicht treffen dürfen, der Schnee hat mich nicht verschüttet im wilden Walde. Ich bin so alt, so alt – und die schöne junge Else muß sterben. Gebet mir ein Stück Brot!«
Der Prediger hatte sich wieder erhoben, er tastete mechanisch und reichte dem gespenstischen Wesen da draußen, welches die schöne junge Else um den Tod beneidete, den schwarzen Laib und das Messer.
»Im Namen Gottes und aller seiner guten Geister Dank!« kreischte die Stimme, und dann kam ein neuer Sturmesstoß und jagte solche neue gewaltige Lasten des Schnees heran, daß die Lichter der Hütten dem Pfarrhaus gegenüber gänzlich verschwanden. Nun war es fast, als habe der Sturm das alte Weib wieder entführt, wie er es brachte.
Vergeblich rief der Prediger den Namen desselben, der Schall seiner Stimme ging in dem Brausen und Zischen verloren. Niemand antwortete, eine Minute lang war's dem Pfarrer, als ob es gar keine Menschenstimme, nicht die Stimme jenes alten Weibes, das am Johannistag am Wege saß, gewesen sei, welche ihm das Wort, daß Else von der Tanne sterbe, ins Fenster gekreischt habe. Ein böser Geist, welcher auf den Sturmwolken fuhr, hatte es ihm ins Ohr geschrien; eine Menschenstimme konnte solch kalt, grimmig Erschrecken nicht einjagen, konnte solche furchtbare Vernichtung nicht bringen.
Else, die schöne, junge Else stirbt! Else stirbt! Else stirbt! – Der Pfarrer von Wallrode im Elend faßte mit beiden Händen die Stirn – war es doch Wahrheit? War die Stunde da, die kommen mußte? War die Stunde gekommen, die seit dem Tage Johannis des Täufers langsam, drohend, unabwendbar heranschlich?
»Sie stirbt – Else von der Tanne stirbt!« stöhnte der Pfarrherr. Er tastete nach der Tür und wankte hinaus.
Auf dem Flur stand Martina mit ihrer Lampe.
»Um Jesu willen, Ehrwürden, was ist Euch geschehen? Was wollt Ihr tun? Ehrwürden, wollt Ihr fort? Bei diesem Wetter?«
Ehrn Friedemann schien die treue Dienerin gar nicht zu erblicken; er ging an ihr vorüber, er stand vor dem Haus im Sturm und tiefen Schnee; mit dem Mantel verhüllte er das Gesicht und schritt durch das Dorf, dem Wind und Flockengewirbel entgegen, dem Walde zu. Das Gebell der Hofhunde verhallte hinter ihm; er war allein mit seinen wilden Gedanken in der wilden Nacht.
Von dem freien Felde zwischen dem Dorf und dem Forste hatte der Wind den Schnee so rein weggefegt, daß der kahle, schwarze Boden nackt in dem seltsamen Dämmer dalag, und entsetzlich war dieser Wind auf diesem Gange. Er trieb den Atem in die Brust zurück, als wolle er sie zersprengen, wütend griff er in die Haare, die Mantelfalten des Wanderers, um ihn zu Boden zu werfen, in rasenden Sprüngen und Sätzen schnaubte er gegen das Dorf Wallrode hinab und jagte das weiße Gestäube vor sich hin.
Als der Pfarrherr den Rand des Waldes erreichte, hätte er sich selber zu Boden werfen mögen, um die keuchende Brust ausatmen zu lassen. Wie Schlachtendonner rollte es durch das Gebirge – Geächz und Stöhnen, Gekrach und Geknirsch, wie von den Grenzen der Erde her!
Wo das hübsche Reh die blutende Else mit fröhlichen Sprüngen und Schmeichelgebärden empfing, lag der Schnee mannshoch; im Walde konnte der Sturm nicht also sein Spiel mit ihm treiben; – in manchen Gründen war die Luft so still wie hinter einer hohen Mauer, und nur das Gebrüll zu Häupten und das Ächzen und Wiegen der Stämme war hier ein Zeichen, wie's von Wipfel zu Wipfel, von einer Höhe zur andern in die Ebene hinausfuhr.
Die Kinder und die Irren hält Gottes Hand fest auf ihren Wegen – seinen Weg durch den verschneiten Wald konnte der Pfarrer von Wallrode nur durch ein Wunder finden. In seinem zerrütteten Gehirn war jetzt seltsamerweise nur alles liebliche Frühlings- und Sommerglück der letzten elf Jahre lebendig. Wo er brusttief in dem aufgehäuften Schnee versank, da hatte die kleine Else aus den Stengeln der gelben Butterblumen Ketten geschlungen und das uralte Kinderlied vom guten Bischof Buko von Halberstadt den Pastor von Wallrode gelehrt. Wo die große Eiche, die tausend Jahre lang allen Ungewittern trotzte, niedergebrochen war, hatte Else von der Tanne in jungfräulicher Schöne ruhig und still gestanden und dem fernen, fernen Rollen und Donnern in der Ebene gelauscht, wo die Schweden unter ihrem Generalleutnant Königsmark sich mit den Kaiserlichen jagten. Vor dem Eingange, der schwarzen Höhle, in welcher sich die Gemeinde, um der Wut des Feindes im Jahre sechzehnhundertneununddreißig zu entgehen, verborgen hatte, stand ein Wolf; aber er griff den irrenden Wanderer sowenig an, wie er die irre Justine angegriffen hatte; mit winselndem Geheul wich er in das Innere der Grube zurück.
Als der Prediger in den Bezirk der hohen Tanne gelangte, hörte das Sausen und Brausen in den Lüften und Wipfeln plötzlich auf, und als Friedemann Leutenbacher das Licht der Hütte des Meisters Konrad durch die Stämme schimmern sah, endete auch der Schneefall, und es wurde nach all dem Aufruhr zwischen Himmel und Erde ganz still. Aber in dieser unerwarteten gespenstischen Pause fühlte der nächtliche Wanderer erst im vollsten Maße die übermenschlichen Anstrengungen und Mühen des zurückgelegten Pfades. Die Pulse klopften, die Knie und Hände erzitterten, mit einem tiefen Seufzer griff Friedemann Leutenbacher nach einem überhängenden Baumzweig, um sich aufrecht zu erhalten. Heiß und keuchend war sein Atem, seine Augen, von der Gewalt des Windes ausgetrocknet, brannten, rings um ihn her belebte sich die Schneedämmerung und die Finsternis des Forstes mit tausendfachen wirbelnden Gestalten seiner fiebernden Phantasie – er hätte in seiner Angst laut aufschreien mögen und vermochte doch keinen Laut hervorzubringen! Es war ihm, als kämpfe er noch immer gegen den Sturm und die Gefahren des Weges an, um das ruhige Licht in der Hütte zu erreichen; und es war ihm, als weiche dieses Licht immer weiter, weiter, weiter zurück; und es war ihm, als werde er ihm in alle Ewigkeit so zum Tode erschöpft und in solch namenloser Angst folgen müssen.
Dieser Zustand währte wohl eine Viertelstunde lang; dann endete er, wie der Sturm geendet hatte.
»Else von der Tanne stirbt! Else von der Tanne ist tot!« sagte der Prediger von Wallrode im Elend mit tonloser Stimme und schritt durch den Raum, der ihn Von der Hütte des Meisters Konrad trennte.
Nur fußtief lag der Schnee hier zwischen den Stämmen, aber gegen die Hütte selbst war er in desto gewaltigeren Massen getrieben worden. Der Pfarrherr von Wallrode vermochte es kaum, sich einen Weg zu dem niedern, engen Fenster zu bahnen; endlich gelang es ihm doch, und er stand und blickte stier und starr in das Gemach, allein die Scheiben waren so sehr vom Frosthauch beschlagen, daß er nur unbestimmte Schatten sah; er mußte die mühevolle Arbeit von neuem beginnen, um zu der Tür der Hütte zu gelangen.
Er pochte, doch zuerst regte sich nichts darinnen; er pochte zum zweiten Male, und dann hörte er den schweren Tritt des Magisters.
»Wer ist da? Hierinnen ist der Tod – das Leben ist entwichen aus diesem Haus.«
»Öffne, Vater«, sagte der Prediger von Wallrode.
Der Meister Konradus schob den Riegel zurück, und Friedemann Leutenbacher trat in die Hütte; stumm wandte sich der Meister, und Friedemann stand vor der Leiche Elses von der Tanne.
– – – – –
Sie lag auf ihrem Lager wie eine Schlafende; der Vater hatte ihr bereits die Arme über der Brust ins Kreuz gelegt; sie schien zu lächeln, und die Ruhe des bleichen Gesichtes war mehr als jegliches Mienenspiel irdischen Behagens, irdischen Glückes.
Das zahme Reh stand neben dem Bett und hatte seinen schlanken Hals, sein Köpfchen auf die Decke gelegt, die weiße Waldtaube, welche vor zwei Jahren aus dem Neste gefallen und von Else aufgezogen war, saß zu Häupten des Lagers auf dem Bettpfosten und sah auf die bleiche Herrin.
»Um fünf Uhr, als der Sturm anhub, ist sie gestorben«, sagte der Vater. »Ich dachte nicht, daß es so bald sein würde; sie ist aber ohne Schmerzen fortgegangen, hat den großen Sturm nicht mehr erlebt; – – sie ist tot.«
»Sie ist tot!« wiederholte Friedemann Leutenbacher, der Pfarrherr zu Wallrode im Elend, und kniete neben dem Lager nieder.
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