Wenn auch der Streit um die Stadtwiesen gestillt war, so wurden die der benachbarten Rittergüter nach wie vor alljährlich heimgesucht, die Polen trieben ihre Herden herauf, zogen sich, wenn die Gutsherren zum Schutze ihres Eigentums herauskamen, hinter den Bach zurück, schmähten und höhnten. Und die Klagen sowie die Schreiben der Beamten liefen nach wie vor nutzlos hin und her. Die Bitten der Geschädigten, daß man ihr Recht besser schützen möge, blieben lange erfolglos, auch der Gebrauch von Waffen zur Abwehr wurde ihnen verweigert. Als der deutsche Förster eines Rittergutes einst einen Grasdieb durch einen Schuß verwundet hatte, erhielt er Festungsstrafe, und der loyale Gutsherr, welcher Weib und Kind des Verurteilten erhalten mußte, damit sie nicht verhungerten, soll zuletzt in seiner Not der Regierung erklärt haben, daß er keine Steuern mehr zahlen werde, wenn der Staat ihm sein Eigentum nicht zu verteidigen vermöge. So zog sich die Fehde hin bis über das Jahr 1840, und ich vermag nicht anzugeben, wann sie geendigt hat.
4. Die Schule.
Als ich sechs Jahre alt war, fing ich an ein wenig in die Schule zu gehen. Mein Oheim, Pastor Neugebaur, hatte sich gegen die Eltern erboten, den Unterricht selbst zu übernehmen. Ihm war das Lehren von je eine Freude gewesen, schon als armer Knabe hatte er sich durch Stunden, die er gab, fortgeholfen, und es ist wohl möglich, daß er darin völligere Befriedigung fand, als im Predigen. Ich blieb bis zum Abgang auf das Gymnasium in seiner Lehre, zugleich mit seiner jüngsten Tochter und in der letzten Zeit mit meinem Bruder. Der Oheim war ein kleiner, untersetzter Herr mit einem mächtigen, ovalen Kopf und großen Ohren, auf denen ein schwarzes Sammetkäppchen saß. Er geriet leicht in Eifer und war von den Mitgliedern seiner Gemeinde, welche dem geistlichen Oberhirten Ursache zur Unzufriedenheit gegeben hatten, besonders von dem weiblichen Teil, sehr gefürchtet. Er sprach ausgezeichnet polnisch, was für den Geistlichen in Kreuzburg unentbehrlich war, denn damals wurde noch jeden Sonntag Vormittag deutsch und polnisch gepredigt. Mit einem Diakonus sorgte er für die geistlichen Bedürfnisse seiner großen Gemeinde, es gehörten auch einige Dorfschaften aus dem Kreise Rosenberg zu seinem Sprengel, fremdartige polnische Leute in auffallender Tracht, welche mehrere Meilen zur Kirche herkamen, vielleicht die Nachkommen eines Hussitenhausens, der sich in alter Zeit an der Grenze festgesetzt hatte. Der größte Teil der Stadtbewohner war evangelisch, die kleine katholische Kirche in der Vorstadt, ein alter Holzbau, stand unter einem Kuratus, sie wurde zu meiner Zeit schöner in Ziegeln errichtet. Obschon Friede unter den Konfessionen war, bewachte doch jeder der geistlichen Hirten scharf seine Herde und blickte argwöhnisch auf Eroberungsversuche der andern Kirche. Wir Kinder lernten während der Schulstunden auch einiges von dem Verkehr des Predigers mit der Gemeinde und den Geschäften seines Amtes kennen, wir vernahmen die Verhandlungen mit dem Glöckner, den Lehrern und den Sündern, wir suchten in alten Kirchenbüchern die Geburten und Todesfälle für die auszustellenden Zeugnisse, und zählten jeden Montag die Pfennige des Klingelbeutels; es war immer wenig genug darin, die falschen Geldstücke fehlten nicht, und vollends die Knöpfe, welche Arme aus Scham statt des Geldes hinein gesenkt hatten, machten das Pastorat unwillig. Für seine Zöglinge aber war der Oheim der sorgfältigste und gütigste Lehrer, und ich denke, auch ein guter Lehrer, obgleich seine Methode wahrscheinlich jetzt Widerspruch finden würde. Lesen lernte ich schon als sehr kleines Männchen, dazu hatte die Mutter geholfen und der bereits erwähnte Göckelhahn, welcher dem letzten Blatt des ABC-Buchs rot und schwarz aufgedruckt war und zu meiner Zeit noch mit ins Bett genommen wurde. Wenn der Kleine gut gelernt hatte, fand er am andern Morgen im Buche das Gröschel, welches der Hahn ausgekräht hatte. Wieder ist mir aus der Dämmerzeit meiner frühen Kinderjahre ein Augenblick deutlich geblieben, ich fühle noch die schöne gehobene Freude, die ich hatte, als ich für mich allein die erste kleine Geschichte las und den Sinn verstand.
Fast zugleich mit deutschem Lesen und Schreiben lernte ich die ersten lateinischen Vokabeln, ich erinnere mich gar nicht mehr, wann der lateinische Unterricht angefangen hat, aber mensa und amo habe ich wahrscheinlich aufgesagt, bevor ich sieben Jahre alt war; bald wurde lateinisch übersetzt. Auf den kleinen Bröder folgte Eutropius, und in das junge Gehirn zogen die Gestalten der römischen Geschichte ein, in welcher der Oheim gut bewandert war. Als nun die Zeit kam, wo ich daheim Campes Robinson mit Begeisterung las, ergab sich, daß in der Bibliothek des Oheims eine lateinische Übersetzung des Robinson vorhanden war, und sofort arbeitete ich mich in der Stunde durch das behagliche Latein des starken Buches vom Anfang bis zum Ende; dann kam Nepos an die Reihe und mancher andere, zuletzt neben Vergil noch Cicero de officiis. Diese Hinterlassenschaft des Altertums war sehr langweilig, aber sie wurde unbarmherzig durchgelesen. Auch etwas Griechisch lernte ich, doch machten die unregelmäßigen Verba Beschwerde.
Der Oheim gab wenig auf die deutschen Stilübungen. Ob ich jemals einen deutschen Aufsatz verfertigt habe, ist mir zweifelhaft. Doch muß dieser Umstand meiner Schreibelust nicht hinderlich gewesen sein, denn ich begann mit etwa zehn Jahren meinen ersten Roman, eine Robinsonade, worin ein Vater mit seinen Kindern auf eine wüste Insel verschlagen wurde. Dort entdeckten die Kinder viel Seltenes und Abenteuerliches, dabei entwickelte sich als Lieblingsgestalt des Dichters der eine Sohn Jack, er fand immer das Beste, wurde mit allem fertig und war stets guter Laune, und ich neige mich zu der Ansicht, daß er Stammvater der unartigen Knaben war, welche unter den Namen Kunz, Bolz, Fink später um meinen Schreibtisch tanzten.
Für die Naturwissenschaften blieb der Unterricht ungenügend. Nur Bücher mit Bildern, welche die Tante zuweilen aus ihrem Bücherschatz lieh, gaben Anschauungen, darunter die elf Bände des Schlesischen Naturfreundes. In den alten Sprachen aber war ich später gut daran, ich hatte von dem behenden Lesen den Vorteil, daß mir auch die Spätlateiner und die Mönche des Mittelalters, mit denen ich mich manches Jahr unterhalten mußte, leichter verständlich wurden.
Der Haushalt des Pastors war wunderlich, und auch wir Kinder merkten das. Der Oheim herrschte vorn im Hause bei seiner Pfeife, den Kirchenbüchern und Predigten, die Tante hinten auf der Gartenseite, es waren zwei getrennte Welten, die Töchter besorgten den Haushalt.
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