Seine Gesichtszüge ließen einen verständig gebildeten heiteren Mann erkennen; er hatte nicht die unfreundliche Miene jener würdigen Personen, die aus Grundsatz nie lachen, und deren Leerheit sich mit einer ernsten Maske deckt. Gar nichts von dem. Das Gehenlassen, die liebenswürdige Ungezwungenheit dieses Unbekannten gaben klar zu erkennen, daß er Menschen und Dinge von ihrer guten Seite zu nehmen verstand. Aber ohne daß er sprach, merkte man, daß er gerne sprach, und überaus zerstreut war, wie Leute, die nicht sehen, was sie anschauen; und nicht auf das merken, was sie hören. Seine Kopfbedeckung bestand in einer Reisekappe, seine Fußbekleidung in starken, gelben Halbstiefeln und ledernen Gamaschen; er trug kastanienbraune, sammtne Hosen, und von gleichem Stoff eine Jacke, deren zahlreiche Taschen mit Gedenkbüchern, Auszügen, Verzeichnissen, Brieftaschen und tausend so hinderlichen wie unnützen Dingen vollgestopft waren, zu geschweigen ein Fernrohr, das er an einem Bandgehänge über den Schultern trug.
Die Beweglichkeit dieses Unbekannten stach merkwürdig gegen die ruhige Behaglichkeit des Majors ab; er machte sich um Mac Nabbs herum zu schaffen, sah ihn an, fragte ihn mit den Augen, ohne daß es diesen kümmerte, zu wissen, woher er kam, wohin er ging, weshalb er sich an Bord des Duncan befand.
Als dieser räthselhafte Mann seine Bemühungen am Phlegma des Majors scheitern sah, nahm er sein Fernrohr, das, wenn man es völlig auseinanderzog, vier Fuß lang war, und richtete es, unbeweglich, mit gespreizten Beinen, gleich einem Wegweiser an der Landstraße, auf die Linie des Horizonts, wo Himmel und Wasser aneinander grenzen; nachdem er fünf Minuten Untersuchungen angestellt, senkte er seinen Tubus mit dem einen Ende auf den Boden, und stützte sich darauf, als sei es ein Bambusstock; aber alsbald schoben sich die Abtheilungen über einander zusammen, und der neue Passagier, dem plötzlich der Stützpunkt gebrach, wäre beinahe der Länge nach neben dem Hauptmast zu Boden gefallen.
An des Majors Stelle hätte ein Anderer wenigstens gelächelt.
Der Major verzog keine Miene. Der Unbekannte faßte es anders an.
»Stewart«, rief er mit einem Ton, woran der Ausländer zu erkennen war. Er wartete. Niemand erschien.
»Stewart«, rief er abermals, noch lauter.
In dem Augenblicke ging Herr Olbinett vorüber, indem er sich in die Küche begab, die unter dem Vordercastell lag. Er erstaunte höchlich, daß der große Mensch, den er gar nicht kannte, ihn so anrief.
»Wo kommt diese Person her? sprach er bei sich. Unmöglich ist es ein Freund des Lord Glenarvan.«
Doch begab er sich auf's Hinterverdeck und trat zu dem Fremden.
»Sie sind der Stewart des Schiffes?« fragte dieser.
– Ja, mein Herr, erwiderte Olbinett, aber ich habe nicht die Ehre ...
– Ich bin der Passagier aus der Cabine Nummer 6.
– Nummer 6? wiederholte der Stewart.
– Ja wohl. Und wie heißen Sie? ...
– Olbinett.
– Nun denn, mein Freund Olbinett, erwiderte der Fremde aus der Cabine Nr. 6, ich muß an's Frühstück denken, und zwar lebhaft. Seit sechsunddreißig Stunden hab' ich nicht gegessen, ja nicht einmal geschlafen, was einem Menschen nachzusehen ist, der in einem Zug von Paris nach Glasgow gereist ist. Um wieviel Uhr kann man frühstücken, wenn's beliebt?
– Um neun«, erwiderte Olbinett mechanisch.
Der Fremde wollte auf seine Uhr sehen, aber das kostete geraume Zeit, denn sie fand sich erst in seiner neunten Tasche.
»Gut, sagte er, 's ist noch nicht acht. Nun denn, Olbinett, ein Zwieback und ein Glas Sherry, um abzuwarten, denn ich bin erschöpft zum Hinsinken.«
Olbinett hörte, verstand ihn aber nicht; übrigens sprach der Fremde in einem fort, und sprang mit größter Gewandtheit von einem Gegenstand auf den andern über.
»Ei, wo ist denn der Kapitän? Noch nicht aufgestanden! Und sein Stellvertreter? Schläft er ebenfalls noch? Es ist zum Glück gutes Wetter, der Wind günstig, und das Schiff kann allein fahren ...«
Eben, bei diesen Worten, erschien John Mangles auf der Treppe des Hinterverdecks.
»Hier ist der Kapitän, sagte Olbinett.
– Ah! Freut mich unendlich! rief der Unbekannte, unendlich, Kapitän Burton, Ihre Bekanntschaft zu machen!«
Ward je ein Mensch betroffen, so war's gewiß John Mangles, nicht allein, daß man ihn Kapitän Burton nannte, sondern daß er diesen Fremden an seinem Bord sah.
Der Andere fuhr lebhaft fort:
»Erlauben Sie mir, Ihre Hand zu drücken, und wenn ich's nicht gestern Abend that, geschah's, weil man im Moment der Abfahrt Niemand stören darf. Aber heute, Kapitän, bin ich herzlich froh, mit Ihnen bekannt zu werden.«
John Mangles machte große Augen, indem er bald Olbinett, bald den neuen Ankömmling ansah.
»Nun, fuhr jener fort, bin ich Ihnen vorgestellt, lieber Kapitän, und wir sind gute Freunde. Plaudern wir, und sagen Sie mir, ob Sie mit dem Scotia zufrieden sind?
– Was meinen Sie mit dem Scotia? sagte endlich John Mangles.
– Ei, der Scotia, auf welchem wir fahren, ein gutes Schiff, dessen physische Vorzüge man mir ebenso gerühmt hat, als die moralischen seines Commandanten, des wackeren Kapitän Burton. Sind Sie vielleicht mit dem großen Afrika-Reisenden dieses Namens verwandt? Ein kühner Mann. Meinen Gruß also!
– Mein Herr, fuhr John Mangles fort, ich bin nicht nur nicht ein Verwandter des Reisenden Burton, sondern auch nicht der Kapitän Burton.
– Ei! sagte der Unbekannte, so hab' ich mich also an dessen Stellvertreter, Herrn Burdneß, gewendet?
– Herr Burdneß?« erwiderte John Mangles, indem er zu ahnen anfing, wie sich die Sache verhielt. Nur stellte er sich die Frage, ob er es mit einem Narren oder einem Tölpel zu thun habe, und er war im Begriff, sich darüber kategorisch auszusprechen, als Lord Glenarvan, seine Gemahlin und Miß Grant auf das Verdeck zurückkamen.
Der Fremde rief, als er sie gewahrte:
»Ei! Passagiere! Passagiere! Vortrefflich. Ich hoffe, Herr Burdneß, Sie werden mich vorstellen.«
Und ohne John Mangles Vermittlung abzuwarten, trat er ganz ungenirt vor und sprach:
»Madame zu Miß Grant, Miß zu Lady Helena, mein Herr zu Lord Glenarvan . . .
– Lord Glenarvan, sagte John Mangles.
– Mylord, fuhr der Unbekannte fort, ich bitte um Verzeihung, daß ich mich selbst vorstellte; aber auf der See muß man es wohl mit der Etikette nicht so genau nehmen; ich hoffe, wir werden schnell bekannt werden, und in Gesellschaft dieser Damen wird die Fahrt auf dem Scotia uns so kurz, wie angenehm vorkommen.«
Lady Helena und Miß Grant konnten kein Wort zur Antwort finden. Sie verstanden kein Wort von dem, was der Eindringling sprach.
»Mein Herr, sagte darauf Lord Glenarvan, mit wem hab' ich die Ehre zu sprechen?
– Mit Jakob Eliacin Franz Maria Paganel, Secretär der geographischen Gesellschaft zu Paris, correspondirendem Mitglied der Gesellschaften zu Berlin, Bombay, Darmstadt, Leipzig, London, Petersburg, Wien, New-York, Ehrenmitglied des königlichen geographischen und ethnographischen Instituts für Ostindien; nachdem ich zwanzig Jahre lang Geographie im Zimmer studiert habe, wollte ich sie im Leben treiben, bin ich auf dem Weg nach Indien, um daselbst die Arbeiten der großen Reisenden mit einander zu verknüpfen.«
Siebentes Capitel.
Woher kommt und wohin geht Jakob Paganel.
Der Secretär der geographischen Gesellschaft mußte wohl eine liebenswürdige Person sein, denn dies Alles wurde mit viel Grazie gesprochen. Lord Glenarvan wußte übrigens genau, mit wem er es zu thun hatte; der Name und die Verdienste J. Paganel's waren ihm wohl bekannt; durch seine geographischen Arbeiten, seine in den Zeitschriften der Gesellschaft veröffentlichten Berichte über die neuesten Entdeckungen, seine Correspondenz mit der ganzen Welt, war er einer der ausgezeichnetsten Gelehrten Frankreichs. Darum reichte auch Glenarvan seinem unerwarteten Gast herzlich die Hand.
»Und jetzt, da wir einander vorgestellt sind, fügte er hinzu, gestatten Sie mir, Herr Paganel, eine Frage an Sie zu richten.
– Zwanzig Fragen, Mylord, erwiderte Jakob Paganel; es wird mir stets ein Vergnügen sein, mich mit Ihnen zu unterhalten.
– Vorgestern Abend sind Sie an Bord dieses Schiffes gekommen?«
– Ja, Mylord, vorgestern Abend um acht Uhr. Ich bin in einem Cab von der Caledonischen Eisenbahn hergeeilt, und flugs aus dem Cab in den Scotia, wo ich mir zu Paris die Cabine Nr. 6 bestellt hatte. Es war dunkle Nacht, und ich sah Niemand an Bord.
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