Einen Augenblick schwiegen Alle. Jeder untersuchte mit den Augen das zerbrechliche Strandgut. Enthielt dasselbe das Geheimniß eines Unglücks oder eine unbedeutende Mittheilung von Seiten eines müßigen Seefahrers?

Indessen, man mußte doch wissen, woran man war, und Glenarvan schritt unverzüglich zur Untersuchung der Flasche; er ergriff übrigens alle in solchen Fallen üblichen Vorsichtsmaßregeln; man hätte ihn für einen Criminalbeamten halten können, der die besonderen Umstände eines verübten Verbrechens aufnimmt; und Glenarvan hatte Recht, denn das scheinbar unbedeutendste Anzeichen kann oft auf die Spur einer bedeutenden Entdeckung führen.

Ehe man das Innere der Flasche untersuchte, prüfte man das Aeußere derselben. Sie hatte einen engen Hals, an dessen starker Mündung sich noch das Ende eines verrosteten Eisendrathes befand; ihre starken Wände, welche den Druck einiger Atmosphären auszuhalten fähig waren, wiesen klar auf einen Ursprung aus der Champagne hin. Mit solchen Flaschen schlagen die Winzer zu Aï und Epernay Stuhlbeine entzwei, ohne daß sich nur eine Spur von Sprung zeigte. Diese hatte also unverletzt die Zufälligkeiten einer langen Reise aushalten können.

»Eine Flasche aus dem Hause Cliquot«, sagte einfach der Major.

Und da er sachverständig sein mußte, so wurde seine Behauptung ohne Widerspruch angenommen.

»Mein lieber Major, erwiderte Helena, es kommt wenig darauf an, was es für eine Flasche ist, wenn wir nur wissen, woher sie kommt.

– Das wird sich zeigen, liebe Helena, sagte Lord Edward, und bereits kann man versichern, daß sie weit her kommt. Sehen Sie die versteinerten Stoffe, womit sie bedeckt ist, diese Substanzen, die unter der Einwirkung des Meerwassers so zu sagen mineralisirt wurden! Dieser Gegenstand hatte bereits lange sich im Meere aufgehalten, bevor er von einem Haifisch in seinen Bauch aufgenommen wurde.

– Es ist unmöglich, Ihre Ansicht nicht zu theilen, entgegnete der Major, und unter'm Schutz seiner versteinerten Umhüllung ist das zerbrechliche Gefäß im Stande gewesen, eine weite Reise zu machen.

– Aber woher kommt sie? fragte Lady Glenarvan.

– Warte, liebe Helena, warte; man muß mit den Flaschen Geduld haben. Irre ich nicht sehr, so wird diese selbst auf alle unsere Fragen antworten.«

Und mit diesen Worten machte Glenarvan sich daran, die harten Stoffe, welche die Mündung deckten, abzukratzen; bald kam der Korkstöpsel zum Vorschein, aber vom Meerwasser stark beschädigt.

»Ein schlimmer Umstand, sagte Glenarvan, denn wenn ein Papier darinnen ist, wird es in üblem Zustand sein. – Das ist wohl zu besorgen, erwiderte der Major.

– Ich füge bei, fuhr Glenarvan fort, daß diese schlecht verwahrte Flasche bald untersinken mußte, und es war ein Glück, daß dieser Fisch sie verschlungen hat, um sie uns an Bord des Duncan zu bringen.

– Ohne Zweifel, versetzte John Mangles, doch wäre es besser gewesen, man hätte sie auf offener See unter einem bestimmten Grad Länge und Breite aufgefischt. Dann hätte man durch Berechnung der Luft- und Meer-Strömungen herausbringen können, welchen Weg sie gemacht hat; aber bei einem Ueberbringer, wie dieser, bei diesen Haifischen, die gegen Wind und Strom schwimmen, weiß man nicht, woran man ist.

– Wir werden es bald sehen«, erwiderte Glenarvan.

Zugleich nahm er den Stöpsel höchst vorsichtig heraus, und ein starker Salzgeruch verbreitete sich auf dem Hinterverdeck.

»Nun? fragte Lady Helena mit echt weiblicher Ungeduld.

– Ja! sagte Glenarvan, ich irrte nicht! Da sind Papiere!

– Urkunden! Urkunden! rief Lady Helena.

– Nur, erwiderte Glenarvan, scheinen sie vom Wasser angefressen, und man kann sie nicht herausbringen, weil sie an den Wänden der Flasche fest hängen.

– So schlagen wir sie entzwei, sagte Mac Nabbs.

– Ich mochte sie lieber unversehrt lassen, entgegnete Glenarvan.

– Ich auch, versetzte der Major.

– Allerdings, sagte Lady Helena, aber der Inhalt ist werthvoller als die Umhüllung, und man muß lieber diese jenem opfern.

– Wenn Ew. Herrlichkeit nur den Hals abschlagen, sagte John Mangles, wird man die Urkunde ohne Beschädigung herausnehmen können.

– Laß sehen! lieber Edward«, rief Lady Glenarvan.

Man konnte nicht leicht anders verfahren, und Lord Glenarvan entschloß sich, den Hals der kostbaren Flasche zu zerschlagen. Man mußte einen Hammer gebrauchen, weil die Umhüllung hart wie Granit war. Bald fielen die Stücke auf den Tisch, und man gewahrte einige Stücke Papier, die aneinander hingen. Glenarvan nahm sie vorsichtig heraus, löste sie von einander und breitete sie vor den Augen aus, während Lady Helena, der Major und der Kapitän sich um ihn drängten.

Zweites Capitel.

Die drei Documente.

An den vom Meerwasser halb zerstörten Stückchen Papier konnte man nur einige Worte gewahren, unentzifferbare Reste fast völlig verwischter Zeilen.

Lord Glenarvan untersuchte sie einige Minuten lang achtsam, kehrte sie um und herum, hielt sie gegen das Licht; betrachtete die geringsten Schriftspuren, welche vom Meere verschont waren, dann richtete er den Blick auf seine Freunde, die ihn mit gespannten Augen ansahen.

»Es sind hier, sagte er, drei verschiedene Documente, vermuthlich drei Copien desselben Stückes in dreifacher Uebersetzung, englisch, französisch und deutsch. Die wenigen Worte, welche noch verhanden sind, lassen mir darüber keinen Zweifel.

– Aber diese Worte enthalten doch wohl einen Sinn? fragte Lady Glenarvan.

– Es läßt sich nichts Bestimmtes darüber sagen, liebe Helena; die auf den Documenten stehenden Worte sind sehr verstümmelt.

– Vielleicht ergänzen sie sich gegenseitig? sagte der Major.

– So muß es wohl sein, erwiderte John Mangles; unmöglich hat das Seewasser diese Zeilen gerade an denselben Stellen angefressen, und wenn man die Reste der Worte neben einander hält, wird man am Ende einen verständlichen Sinn herausbekommen.

– Das wollen wir gleich thun, sagte Lord Glenarvan, aber gehen wir mit Methode zu Werke. Hier zuerst das englische Exemplar.«

Auf diesem Stück sah man die Worte folgendermaßen auf den Zeilen vertheilt:


          62               Bri           gow
     sink                                stra
                 aland
      skipp         Gr
                         that monit     of long
    and                                ssistance
               lost

»Das will nicht viel bedeuten, sagte der Major mit verdrießlicher Miene.

– Mag sein, erwiderte der Kapitän, aber 's ist gut englisch.

– Kein Zweifel daran, sagte Lord Glenarvan, die Wörter sink, aland, that, and, lost, sind vollständig[Fußnote: Die Wörter sink, aland, that, and, lost bedeuten scheitern, am Land, dies, und, verloren. kipper werden in England die Kapitäne der Handelsfahrzeuge genannt. Moniti(on) deutet sich Kunde, Urkunde, und (a)ssistance heißt Beistand.]; skipp weist offenbar auf skipper, und es ist die Rede von einem Herrn Gr..., welcher wahrscheinlich der Kapitän eines gestrandeten Schiffes war.

– Fügen wir noch bei, sagte John Mangles, daß die Wörterreste monit und ssistance sich leicht ergänzen lassen.

– Ja wohl! Das ist schon etwas, erwiderte Lady Helena.

– Leider, versetzte der Major, fehlen uns vollständige Zeilen. Wie läßt sich der Name des verlorenen Schiffes, die Stelle des Schiffbruches ausfindig machen?

– Wir werden es schon herausbekommen, sagte Lord Edward.

– Ohne Zweifel, versetzte der Major, der unveränderlich sich jeder Ansicht anschloß, aber in welcher Weise?

– Wenn man ein Document durch das andere ergänzt.

– So laßt es uns versuchen!« rief Lady Helena.

Das zweite Stuck Papier, welches noch schadhafter als das vorige war, zeigte nur einzelne Wörter und Wortreste in folgender Stellung:


       7. Juni                           Glas
                              zwei           atrosen
                                            graus
                                            bringt ihnen

»Dies ist in deutscher Sprache, sagte John Mangles, als er einen Blick auf das Papier geworfen.

– Und Sie kennen diese Sprache, John? fragte Glenarvan.

– Vollkommen, Ew. Herrlichkeit.

– Nun, so sagen Sie uns, was diese Wörter bedeuten.«

Der Kapitän untersuchte das Stück genau, und sprach sich also aus:

»Erstlich bekommen wir ein Datum des Ereignisses, den 7. Juni, und verbinden wir dies mit den Ziffern 62 des englischen Exemplars, so bekommen wir vollständig: 7. Juni 1862.

– Vortrefflich, rief Lady Helena; fahren Sie fort, John.

– Auf derselben Zeile, fuhr der junge Kapitän fort, finde ich das Wortstücklein Glas, welches in Verbindung mit gow auf dem ersten Document Glasgow ergiebt. Offenbar fuhr das Schiff aus Glasgow ab.

– Das mein' ich auch, erwiderte der Major.

– Die zweite Zeile des Documents fehlt gänzlich; aber auf der dritten stoße ich auf die wichtigen Worte zwei und ( M)atrosen.

– Also, sagte Lady Helena, handelte sich es um einen Kapitän und zwei Matrosen?

– Vermuthlich, erwiderte Lord Glenarvan.

– Ich gestehe Ew. Herrlichkeit, fuhr der Kapitän fort, daß das folgende Wortstückchen graus mich in Verlegenheit bringt. So kann ich es nicht übersetzen. Vielleicht setzt uns das dritte Document dazu in Stand. Die zwei letzten Worte Bringt ihnen bekommen durch das auf derselben Zeile stehende englische Wort (A)ssistance, d. h. Beistand, ihre Ergänzung.

– Ja wohl! sagte Glenarvan, aber wo befinden sich die Unglücklichen, um ihnen Beistand zu bringen? Ueber den Ort haben wir bis jetzt nicht eine einzige Angabe, der Schauplatz des Unglücks ist völlig unbekannt.

– So wollen wir hoffen, daß das französische Document uns näheren Aufschluß giebt, sagte Lady Helena.

– Sehen wir es an, erwiderte Glenarvan, wir können uns alle leicht darauf zurecht finden.«

Das genaue Facsimile desselben ist:


         troi      ats         tannia
                    gonie                austral

     conti           pr          cruel    indi
              jeté                         ongit
      et 37° 11'      at

»Da findet sich ja eine Zahlangabe, rief Lady Helena. Sehen Sie, meine Herren, sehen Sie! ...

– Verfahren wir ordnungsmäßig, sagte Lord Glenarvan, und fangen mit dem Anfang an.