Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Charlotte Brontë

 

Jane Eyre

 

Die Waise von Lowood

 

Eine Autobiographie

 

Aus dem Englischen von Marie von Borch

 

 

 

Vollständig neu bearbeitet von Martin Engelmann

Aufbau-Verlag

Impressum

Die englische Originalausgabe erschien 1847 bei Smith, Elder & Co., London, unter dem Titel
Jane Eyre. An Autobiography.
Edited by Currer Bell.

 

Die erste deutsche Ausgabe in der Übersetzung von Marie von Borch erschien 1888 bei Philipp Reclam jun., Leipzig, unter dem Titel

Jane Eyre, die Waise von Lowood.
Eine Autobiograhie von Currer Bell.

 

ISBN E-Pub 978-3-8412-0067-9
ISBN PDF 978-3-8412-2067-7
ISBN Printausgabe 978-3-7466-6122-3

 

Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, 2010
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2009
© Aufbau Media GmbH, Berlin, 2008
(für die revidierte Übersetzung)

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

 

Einbandgestaltung morgen, unter Verwendung eines Fotos von Kai Dieterich/bobsairport

 

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Einundzwanzigstes Kapitel

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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

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Einunddreißigstes Kapitel

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Dreiunddreißigstes Kapitel

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Zur Übersetzung

 

 

Charlotte Brontë

Erstes Kapitel

 

Es war ganz unmöglich, an diesem Tag einen Spaziergang zu machen. Am Morgen waren wir zwar noch eine ganze Stunde in den blätterlosen, jungen Anpflanzungen umhergewandert, aber seit dem Mittagessen – Mrs. Reed speiste stets zu früher Stunde, wenn keine Gäste zugegen waren – hatte der kalte Winterwind so düstere, schwere Wolken und einen so durchdringenden Regen mit sich gebracht, dass von weiterer Bewegung im Freien nicht mehr die Rede sein konnte.

Ich war von Herzen froh darüber, denn lange Spaziergänge waren mir stets zuwider, besonders an frostigen Nachmittagen. Ich fand es furchtbar, in der rauen Dämmerstunde nach Hause zu kommen, mit fast erfrorenen Händen und Füßen und mit einem vom Schimpfen der Kinderfrau Bessie schweren Herzen, gedemütigt durch das Bewusstsein meiner körperlichen Minderwertigkeit gegenüber Eliza, John und Georgiana Reed.

Eliza, John und Georgiana hatten sich gerade im Salon um ihre Mama versammelt. Diese ruhte auf einem Sofa in der Nähe des Kamins, umgeben von ihren Lieblingen, die zufälligerweise in diesem Moment weder zankten noch schrien, und sah vollkommen glücklich aus. Mich hatte sie davon befreit, mich dieser Gruppe anzuschließen: Sie bedauere es zutiefst, sei aber gezwungen, mich fernzuhalten, solange sie nicht selbst oder durch Bessies Worte überzeugt sei, dass ich ernsthaft versuche, mir anziehendere und freundlichere Manieren, einen kindlicheren, geselligeren Charakter und ein leichteres, offenherzigeres, natürlicheres Benehmen anzueignen. Bis dahin müsse Sie mich aber leider von allen Vorrechten ausschließen, die nur für zufriedene, glückliche kleine Kinder gedacht seien.

»Was sagt denn Bessie, dass ich getan habe?«, fragte ich.

»Jane, ich liebe weder Spitzfindigkeiten noch Fragen; außerdem ist es geradezu widerlich, wenn ein Kind ältere Leute in dieser Weise zur Rede stellt. Sofort setzt du dich irgendwohin und schweigst, bis du höflicher reden kannst!«

An das Wohnzimmer grenzte ein kleines Frühstückszimmer, in das ich hineinschlüpfte. Hier stand ein großer Bücherschrank. Ich ergriff einen dicken Band, wobei ich sorgsam darauf achtete, dass er auch bebildert war. Dann kletterte ich auf den Sitz in der Fenstervertiefung, zog die Füße hoch und kreuzte die Beine wie ein Türke. Schließlich zog ich die roten Wollvorhänge fest zusammen und war auf diese Weise doppelt versteckt.

Scharlachrote Stofffalten verdeckten mir die Aussicht nach rechts; links befanden sich die großen, klaren Fensterscheiben, die mich vor dem düsteren Novembertag schützten, mich aber nicht von ihm trennten. In kurzen Momenten, wenn ich die Seiten meines Buches umblätterte, fiel mein Blick auf den Winternachmittag. In der Ferne lagen Wolken über einem blassen, leeren Nebel, davor in endlosem Regen die freie Rasenfläche mit ihren entlaubten, sturmgepeitschten Sträuchern.

Ich kehrte zu meinem Buch zurück, es war Bewicks »Britische Vogelkunde«. Im Allgemeinen kümmerte ich mich wenig um den gedruckten Text, und doch waren da einige einleitende Seiten, welche ich nicht gänzlich übergehen konnte. Sie handelten von den Verstecken der Seevögel, von jenen einsamen Felsen und Klippen, die nur ihnen gehören, und von der Küste Norwegens, die von ihrer äußersten südlichen Spitze, dem Lindesnes, bis hinauf zum Nordkap mit Inseln übersät ist:

»Wo der nördliche Ozean, in wildem Wirbel

Um die nackten, öden Inseln tobt

Des fernen Thule; und das atlantische Meer

Sich stürmisch zwischen die Hebriden wälzt.«

 

Auch konnte ich nicht unbeachtet lassen, was dort stand über die düsteren Küsten Lapplands und Sibiriens, über die Küsten von Spitzbergen, Nowaja Semlja, Island und Grönland, den endlosen Bereich der arktischen Zone und jene einsamen Regionen leeren Raumes – jenes »Reservoir von Eis und Schnee, wo fest gefrorene Eisfelder, durch Jahrhunderte des Winters auf alpine Höhen geschichtet, den Nordpol umgeben und zu einem Ort der strengsten, äußersten Kälte vereinigt sind«. Von diesen todesweißen Regionen machte ich mir meine eigenen Vorstellungen: schattenhaft, wie alle nur halb verstandenen Gedanken im Kopf eines Kindes, aber einen seltsam tiefen Eindruck hinterlassend. Die Worte dieser einleitenden Seiten verbanden sich mit den darauffolgenden Vignetten und gaben ihnen eine tiefere Bedeutung: jenem Felsen, der aus einem Meer von Wellen und Wogenschaum emporragte; dem zertrümmerten Boot, das an traurig-wüster Küste gestrandet war; dem kalten, geisterhaften Mond, der durch düstere Wolkenmassen auf ein sinkendes Wrack herabblickt.

Ich weiß nicht mehr, mit welchen Empfindungen ich auf den stillen, einsamen Friedhof mit seinem beschrifteten Grabstein sah, auf jenes Tor, die beiden Bäume, den niedrigen Horizont, der durch eine zerfallene Mauer begrenzt war, auf die schmale Mondsichel, die die Stunde der Abendflut bezeichnete.

Die beiden Schiffe, welche auf regungsloser, windstiller See lagen, hielt ich für Meeresungeheuer.

Über den Unhold, welcher sich sein Diebesbündel auf den Rücken schnürte, eilte ich flüchtig hinweg; er war ein Gegenstand des Schreckens für mich.

Ein gleiches Entsetzen flößte mir das schwarze, gehörnte Etwas ein, das hoch auf einem Felsen saß und eine Menschenmenge in weiter Ferne beobachtete, die um einen Galgen stand.

Jedes Bild erzählte eine Geschichte. Oft war diese für meinen noch nicht entwickelten Verstand geheimnisvoll und meinem unbestimmten Empfinden unverständlich, stets aber flößte sie mir das tiefste Interesse ein: dasselbe Interesse, mit welchem ich den Erzählungen Bessies lauschte, wenn sie zuweilen an Winterabenden in guter Laune war. Dann pflegte sie ihr Bügelbrett an das Kaminfeuer des Kinderzimmers zu bringen und erlaubte uns, unsere Stühle heranzurücken. Und während sie Mrs. Reeds Spitzenmanschetten bügelte und die Rüschen ihrer Nachthauben kräuselte, erfreute sie uns mit Erzählungen von Liebesgram und Abenteuern aus alten Märchen und noch älteren Balladen, oder – wie ich erst viel später entdeckte – aus den Romanen »Pamela« und »Henry, Graf von Moreland«.

Mit dem »Bewick« auf meinen Knien war ich damals glücklich, glücklich wenigstens auf meine Art. Ich fürchtete nichts als eine Unterbrechung, eine Störung – und diese kam nur zu bald. Die Tür zum Frühstückszimmer wurde geöffnet.

»Oho, Madam Trübsal!«, ertönte John Reeds Stimme. Dann hielt er inne, augenscheinlich war er erstaunt, das Zimmer leer zu finden.

»Wo zum Teufel ist sie denn?«, fuhr er fort.