Reed mich nicht mehr rufen lassen. Seit dieser Zeit war ich ins Kinderzimmer verbannt gewesen, und das Frühstückszimmer, der Speisesaal und der Salon waren für mich Regionen geworden, die ich nur noch mit Schrecken und Angst betreten konnte.

Ich stand jetzt in der leeren Halle, vor mir war die Tür des Frühstückszimmers. Zitternd und furchtsam hielt ich inne. Welch einen elenden kleinen Feigling hatte die Furcht vor ungerechter Bestrafung in jenen Tagen aus mir gemacht! Ich fürchtete mich, in das Kinderzimmer zurückzugehen; ich fürchtete mich, in das Wohnzimmer einzutreten. Zehn Minuten stand ich ängstlich zögernd da, aber das heftige Klingeln der Glocke im Frühstückszimmer entschied: Ich musste eintreten.

›Wer konnte nach mir verlangen?‹, fragte ich mich, als ich mit beiden Händen die Türklinke erfasste, welche mehrere Sekunden meinen Anstrengungen widerstand. ›Wen würde ich noch außer Tante Reed in dem Zimmer erblicken? Einen Mann oder eine Frau?‹ Die Klinke gab nach, die Tür sprang auf, ich trat ein, machte einen tiefen Knicks, blickte auf und sah – eine schwarze Säule! Denn auf den ersten Blick erschien mir die lange, schmale, schwarz gekleidete Gestalt als eine solche, die da kerzengerade vor dem Kamin stand: Das ernste Gesicht zuoberst sah aus wie eine geschnitzte Maske, die als Kapitell auf die Säule gestellt war.

Mrs. Reed hatte ihren gewohnten Platz neben dem Kamin eingenommen. Sie machte mir ein Zeichen, näher zu treten. Ich tat es und sie stellte mich dem steinernen Fremden mit den Worten vor: »Dies ist das kleine Mädchen, wegen dem ich mich an Sie wandte.«

Er, denn es war ein Mann, wandte den Kopf langsam nach der Seite, auf welcher ich stand, und nachdem er mich mit zwei neugierigen, unter einem Paar buschiger Augenbrauen funkelnden Augen geprüft hatte, sagte er feierlich mit einer tiefen Stimme: »Sie ist klein von Gestalt, wie alt ist sie?«

»Zehn Jahre.«

»Tatsächlich?«, lautete die zweifelnde Antwort. Darauf fuhr er noch einige Zeit fort, mich schweigend zu prüfen, bevor er mich anredete:

»Ihr Name, kleines Mädchen?«

»Jane Eyre, Sir.«

Als ich diese Worte aussprach, blickte ich auf. Er erschien mir wie ein großer Mann, aber ich war eben sehr klein; seine Züge waren breit und wirkten hart und steif wie seine ganze Gestalt.

»Nun, Jane Eyre, sind Sie ein gutes Kind?«

Unmöglich, diese Frage bejahend zu beantworten. Die kleine Welt, die mich umgab, war anderer Meinung, also schwieg ich. Mrs. Reed antwortete für mich mit einem ausdrucksvollen Schütteln des Kopfes, gleich darauf fügte sie hinzu: »Je weniger man über diesen Punkt spricht, Mr. Brocklehurst, desto besser.«

»Tut mir leid, das zu hören! Da muss ich mich aber dann wohl doch ein wenig mit ihr unterhalten.« Damit knickte die senkrechte Säule in der Mitte ein und ließ sich im Lehnstuhl gegenüber von Mrs. Reed nieder. »Kommen Sie hierher«, sagte er.

Ich ging über den Kaminteppich zu ihm hinüber, und er rückte mich gerade und aufrecht vor sich zurecht. Was hatte er doch für ein Gesicht, jetzt, wo ich mich ihm gegenüber auf gleicher Höhe befand! Welch eine ungeheure Nase und welch ein Mund! Welche großen, hervorstehenden Zähne!

»Es gibt keinen schrecklicheren Anblick auf der Welt, als den eines unartigen Kindes«, begann er, »besonders eines unartigen kleinen Mädchens! Wissen Sie denn, wohin die Gottlosen kommen, wenn sie gestorben sind?«

»Sie kommen in die Hölle«, lautete meine schnelle und orthodoxe Antwort.

»Und was ist die Hölle? Können Sie mir das ebenfalls sagen?«

»Eine Grube voll Feuer.«

»Und möchten Sie wohl in diese Grube hineinfallen und dort für ewig brennen?«

»Nein, Sir.«

»Was müssen Sie denn tun, um das zu vermeiden?«

Einen Augenblick überlegte ich meine Antwort, aber als sie kam, war gewiss viel gegen sie einzuwenden: »Ich muss gesund bleiben und nicht sterben.«

»Wie können Sie denn gesund bleiben? Täglich sterben Kinder, die jünger sind als Sie. Erst vor zwei oder drei Tagen habe ich ein kleines Kind von fünf Jahren begraben – ein gutes Kind, dessen Seele jetzt im Himmel ist. Es steht zu befürchten, dass man dasselbe nicht von Ihnen sagen könnte, wenn Sie aus diesem Leben abberufen würden.«

Da ich nicht in der Lage war, seine Zweifel zu zerstreuen, schlug ich nur die Augen nieder und ließ sie auf seinen ungeheuerlichen Füßen ruhen, die sich in den Kaminteppich eingegraben hatten. Dann seufzte ich tief auf. Ich wünschte mich weit, weit fort.

»Ich hoffe, dass dieser Seufzer aus der Tiefe Ihres Herzens kommt und dass Sie bedauern, die Quelle so vieler Unannehmlichkeiten für Ihre ausgezeichnete Wohltäterin gewesen zu sein.«

›Wohltäterin, Wohltäterin!‹, wiederholte ich innerlich. ›Jedermann nennt Mrs. Reed eine Wohltäterin! Wenn sie das wirklich war, so ist eine Wohltäterin eine sehr unangenehme Sache.‹

»Sprechen Sie abends und morgens Ihr Gebet?«, fuhr er mit dem Verhör fort.

»Ja, Sir.«

»Lesen Sie Ihre Bibel?«

»Zuweilen.«

»Mit Freude? Lieben Sie Ihre Bibel?«

»Ich liebe die Offenbarung, das Buch Daniel, die Genesis und Samuel – und ein wenig vom Buch der Prediger und einen Teil der Könige und der Chronik. Und Hiob und Ruth.«

»Und die Psalmen? Ich hoffe, Sie lieben diese auch?«

»Nein, Sir.«

»Nein? Oh, entsetzlich! Ich habe einen kleinen Knaben, viel jünger als Sie, der sechs Psalmen auswendig weiß. Und wenn Sie ihn fragen, ob er lieber eine Pfeffernuss essen oder einen Vers aus den Psalmen auswendig lernen möchte, so sagt er: ›Oh, den Vers aus den Psalmen! Die Engel singen Psalmen‹, sagt er, ›und ich möchte schon hier auf Erden ein kleiner Engel sein.‹ Und dann bekommt er zum Lohn für seine kindliche Frömmigkeit zwei Pfeffernüsse.«

»Psalmen interessieren mich nicht«, bemerkte ich.

»Das beweist, dass Sie ein bösartiges Herz haben. Sie müssen Gott bitten, dass er Ihnen ein besseres gibt, ein neues, ein reines; dass er Ihnen Ihr Herz von Stein nimmt und Ihnen ein Herz von Fleisch gibt.«

Ich war gerade im Begriff, ihn nach der Art und Weise zu fragen, in der die Operation, mir ein neues Herz einzusetzen, vor sich gehen solle, als Mrs. Reed mich unterbrach, indem sie mir gebot, mich zu setzen. Dann übernahm sie selbst das Gespräch:

»Mr. Brocklehurst, ich glaube, dass ich in dem Brief, welchen ich Ihnen vor ungefähr drei Wochen schrieb, schon angedeutet habe, dass dieses kleine Mädchen nicht ganz den Charakter und die Eigenschaften hat, welche mir wünschenswert erscheinen.