Ich dachte daran, einfach davonzulaufen, oder, wenn dies nicht möglich wäre, niemals wieder Speise und Trank zu mir zu nehmen und mich auf diese Weise zu Tode zu hungern.
Wie bestürzt war meine Seele an diesem traurigen Nachmittag, wie erregt war mein Gemüt, wie furchtbar empört mein Herz! Aber in welcher Finsternis, welcher Verblendung, welcher unglaublichen Unwissenheit wurde dieser Seelenkampf ausgekämpft! Ich hatte keine Antwort auf die sich mir unaufhörlich aufdrängende Frage, weshalb ich so viel leiden musste. Jetzt, aus dem Abstand von – nein, ich will nicht sagen, von wie vielen Jahren –, jetzt sehe ich alles klarer.
Ich war ein Misston in Gateshead Hall. Ich war ein Nichts an diesem Ort, ich hatte keine Gemeinschaft mit Mrs. Reed oder ihren Kindern oder ihren bezahlten Vasallen. Sie liebten mich nicht, und in der Tat, ich liebte sie ebenso wenig. Es war auch nicht ihre Pflicht, mit Liebe auf ein Geschöpf zu blicken, welches mit keiner ihrer Seelen übereinstimmen konnte; ein andersartiges Geschöpf, welches ihr direktes Gegenteil in Temperament, in Fähigkeiten und Neigungen war; ein nutzloses Geschöpf, welches ihrem Interesse nicht dienen, zu ihrem Vergnügen nichts beitragen konnte; ein giftiges Geschöpf, welches die tiefste Verachtung für ihre Urteile und die Keime der Empörung über die ihm widerfahrende Behandlung in sich nährte. Ich weiß wohl, dass, wenn ich ein unbekümmertes, geistreiches, schönes und wildes Kind gewesen wäre, Mrs. Reed meine – wenn auch ebenso abhängige und freundlose – Gegenwart leichter ertragen haben würde. Ihre Kinder hätten für mich ein freundlicheres Gefühl der Gemeinsamkeit gehegt; die Dienstboten wären weniger geneigt gewesen, mich zum Sündenbock des Kinderzimmers zu machen.
Das Tageslicht begann aus dem Roten Zimmer zu schwinden. Es war nach vier Uhr, und auf den bewölkten Nachmittag folgte eine trübe Dämmerung. Ich hörte, wie der Regen unaufhörlich gegen das Fenster der Treppe schlug, wie der Wind in den Laubgängen hinter dem Herrenhaus heulte; nach und nach wurde ich so kalt wie ein Stein, und mein Mut begann zu sinken. Die gewöhnliche Stimmung des Gedemütigtseins, Zweifel an mir selbst und eine hilflose Traurigkeit bemächtigten sich meiner und legten sich auf die Asche meiner erkaltenden Wut. Alle sagten, dass ich boshaft sei – vielleicht stimmte es ja? Hatte ich nicht soeben den Gedanken gehegt, mich zu Tode zu hungern? Das war doch gewiss eine Sünde, denn war ich auf den Tod vorbereitet? War das Gewölbe unter der Kanzel in der Kirche von Gateshead ein so einladendes Ziel? In diesem Gewölbe lag Mr. Reed begraben, wie man mir gesagt hatte. Durch diesen Gedanken an ihn erinnert, versuchte ich, ihn mir dort vorzustellen und verweilte mit wachsendem Grauen dabei. Ich konnte mich nicht an ihn erinnern, aber ich wusste, dass er mein Onkel gewesen war, der einzige Bruder meiner Mutter, dass er mich in sein Haus aufgenommen hatte, als ich ein armes, elternloses Kind gewesen war, und dass er noch in seinen letzten Augenblicken Mrs. Reed das Versprechen abgenommen hatte, mich wie ihr eigenes Kind zu erziehen und zu versorgen. Mrs. Reed war höchstwahrscheinlich der Überzeugung, dass sie dieses Versprechen gehalten habe, und soweit ihre Natur ihr dies erlaubte, hatte sie es wohl auch tatsächlich getan. Wie sollte sie denn auch für einen Eindringling Liebe hegen, der nicht zu ihrer Familie gehörte und nach dem Tode ihres Gatten durch keine Bande mehr an sie gekettet war? Es musste ihr natürlich ärgerlich sein, sich durch ein unter solchen Umständen gegebenes Versprechen genötigt zu sehen, einem fremden Kinde, das sie nicht lieben konnte, die Eltern zu ersetzen; es ertragen zu müssen, dass eine ganz andersartige Fremde sich unaufhörlich in ihren Familienkreis drängte.
Eine sonderbare Idee bemächtigte sich meiner: Ich zweifelte nicht, ja hatte es niemals bezweifelt, dass Mr. Reed, wenn er noch am Leben wäre, mich mit Güte behandelt haben würde. Und jetzt, als ich so dasaß und auf die dunklen Wände und das weiße Bett blickte, zuweilen auch wie gebannt ein Auge auf den trübe blinkenden Spiegel warf, da begann ich mich an das zu erinnern, was ich von Toten gehört hatte, die im Grabe keine Ruhe finden konnten, weil man ihre letzten Wünsche unerfüllt gelassen hatte. Wie sie jetzt auf die Erde zurückkehrten, um die Meineidigen zu strafen und die Bedrückten zu rächen. Ich stellte mir vor, wie Mr. Reeds Geist, gequält durch das Unrecht, welches man dem Kinde seiner Schwester zufügte, seine Ruhestätte verließ – entweder das Gewölbe der Kirche oder das unbekannte Land der Abgeschiedenen – und in diesem Zimmer vor mir erscheinen würde. Ich trocknete meine Tränen und unterdrückte mein Schluchzen; denn ich fürchtete, dass diese lauten Äußerungen meines Grams eine übernatürliche Stimme zu meinem Trost erwecken oder aus dem mich umgebenden Dunkel ein Antlitz mit einem Heiligenschein hervorleuchten lassen könnten, das sich mit wundersamem Mitleid über mich beugte. Diese vielleicht ganz trostreiche Vorstellung würde entsetzlich sein, wenn sie Wirklichkeit annehmen würde. Mit aller Gewalt versuchte ich, diese Gedanken zu unterdrücken – ich bemühte mich, ruhig und gefasst zu sein. Indem ich mir das Haar von Stirn und Augen strich, hob ich den Kopf und versuchte, in dem dunklen Zimmer umherzublicken. In diesem Augenblick sah ich plötzlich den Widerschein eines Lichtes an der Wand.
1 comment