Die Träume, die ich so
lange genährt, die meine Freude gewesen, wurden mir nun zu
Höllenqualen; der Wechsel war zu rasch, zu überwältigend.
Endlich kam der Morgen heran, trüb und feucht, und mit meinen
schmerzenden Augen konnte ich auf dem Kirchturm erkennen, daß es
eben sechs Uhr war. Der Türhüter öffnete das Tor des Hofes, der
diese Nacht meine Zuflucht gewesen, und ich eilte auf die Straße
hinaus. Mit raschen Schritten ging ich in der Stadt herum und war
in steter Furcht, daß mir an der nächsten Ecke das Ungeheuer
entgegenkommen könnte, dem ich zu entfliehen wünschte. Ich wagte
nicht heimzugehen, sondern irrte umher, trotzdem mich der Regen,
der von dem grauen, trostlosen Himmel unaufhörlich herniederfloß,
schon bis auf die Haut durchnäßt hatte.
Lange setzte ich meinen Spaziergang fort und meinte, durch die
rasche Bewegung des drückenden Gefühles ledig zu werden, das auf
meiner Seele lastete. Straße um Straße durchwanderte ich, ohne mir
klar zu werden, wo ich war und was ich wollte. Mein Herz klopfte in
entsetzlicher Furcht und ich eilte dahin, ohne mich umzusehen.
Plötzlich befand ich mich der Herberge gegenüber, vor der die
Post und die Reisewagen zu halten pflegten. Ich hielt in meinem
Laufe inne, ich weiß nicht warum. Aber ich stand so einige Zeit und
hatte die Augen starr auf einen Wagen gerichtet, der gerade vom
anderen Ende der Stadt herankam. Als er sich genähert hatte,
erkannte ich, daß es die Schweizer Post war. Sie hielt gerade vor
mir. Als die Tür geöffnet wurde bemerkte ich im Innern Henry
Clerval, der sofort heraussprang und auf mich zueilte. »Lieber,
lieber Frankenstein,« rief er, »wie froh bin ich, dich zu sehen!
Welch schöner Zufall, daß du jetzt gerade da bist, wo ich
ankomme.«
Ich empfand eine unbeschreibliche Freude über
die Ankunft Clervals und bei seinem Anblick mußte ich meines
Vaters, meiner Elisabeth und meiner Heimat gedenken. Ich ergriff
seine Hand und vergaß all mein Elend und Unglück; ich fühlte das
erste Mal seit Monaten wieder eine ruhige, ernste Freude. Ich war
deshalb imstande, meinen Freund in der herzlichsten Weise zu
begrüßen und ihn zu meiner Wohnung zu führen. Clerval erzählte mir
von unseren gemeinsamen Freunden und von seiner Freude, daß es ihm
nun auch vergönnt sei, nach Ingolstadt zu kommen. »Du kannst dir
leicht vorstellen,« sagte er, »welche Schwierigkeiten es kostete,
meinen Vater zu überzeugen, daß mit der Kenntnis der Buchführung
noch nicht alles Wissen erschöpft sei. Ich bin mir auch heute noch
nicht klar, ob er es wirklich eingesehen hat, denn seine ständige
Antwort auf meine immerwährenden flehendlichen Bitten war das, was
der holländische Schulmeister im »Vikar von Wakefield« sagt: »Ich
habe zehntausend Gulden im Jahr und das Essen schmeckt mir
ausgezeichnet, ohne daß ich Griechisch kann.« Aber schließlich
besiegte die Liebe zu mir doch seine Abneigung gegen die
Wissenschaft und er erlaubte mir dann, eine Entdeckungsreise ins
Land des Geistes zu wagen.«
»Es freut mich herzlich, dich wiederzusehen, aber nun sage mir
auch, wie geht es Vater, wie geht es meinen Brüdern und
Elisabeth?«
»Sie sind gesund und zufrieden, nur machen sie sich Sorge, weil
du so selten etwas von dir hast hören lassen. Übrigens habe ich
vor, dir deswegen noch die Leviten zu lesen. Aber, lieber
Frankenstein,« fuhr er fort, nachdem er kurz sein Gespräch
abgebrochen und mir gerade ins Gesicht gesehen hatte, »es ist mir
eben jetzt erst aufgefallen, wie elend du aussiehst. So schmal und
blaß, man könnte meinen, du hättest ein paar Nächte
durchschwärmt.«
»Du kannst recht haben! Ich bin seit einiger Zeit so angestrengt
tätig gewesen, daß ich nicht zur Ruhe kam. Aber ich hoffe
zuversichtlich, daß all das nun vorüber ist und ich endlich wieder
mein eigener Herr bin.«
Ich zitterte am ganzen Leibe und war nicht
imstande, an die Erlebnisse der vergangenen Nacht zu denken,
geschweige denn von ihnen zu erzählen. Ich schlug ein rasches Tempo
ein und bald hatten wir mein Haus erreicht. Ich überlegte und
schauderte bei dem Gedanken, daß die Kreatur, die ich in meinem
Zimmer zurückgelassen, immer noch dort sein könnte. Ich fürchtete
mich, das Ungeheuer wieder zu erblicken, noch mehr aber fürchtete
ich, Henry könnte es sehen. Ich bat ihn also, einige Augenblicke am
Fuße der Treppe zu warten, und tastete mich durch das dunkle
Treppenhaus hinauf zu meinem Zimmer. Erst als ich die Hand auf den
Türdrücker legte, kam ich wieder zu mir und kalt lief es mir über
den Rücken. Ich stieß die Tür mit raschem Rucke auf, wie es Kinder
tun, die in ein Zimmer gehen sollen und erwarten, dort ein Gespenst
stehen zu sehen. Aber keine Spur von dem Gefürchteten. Ich sprang
förmlich in die Wohnung hinein, doch Wohnzimmer und Schlafzimmer
waren leer; der unheimliche Geselle war fort. Ich konnte es gar
nicht fassen, daß mir ein solch ungeheures Glück beschieden sein
sollte.
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