Als Knabe von sechs Jahren war er hier im Walde gegangen, auf diesem Platze hatte er Blumen gesucht, ein Wagen kam dahergefahren und hielt still, eine Frau stieg ab und hob ein Kind herunter, und beide gingen auf dem grünen Plane hin und her, dem kleinen Franz vorüber. Das Kind, ein liebliches blondes Mädchen, kam zu ihm und bat um seine Blumen, er schenkte sie ihr alle, ohne selbst seine Lieblinge zurückzubehalten, indes ein alter Diener auf einem Waldhorne blies, und Töne hervorbrachte, die dem jungen Franz damals äußerst wunderbar in das Ohr erklangen. So verging eine geraume Zeit, indem er das volle Antlitz des Kindes betrachtete, das ihn wie ein voller Mond anschaute und anlächelte: dann fuhren die Fremden wieder fort, und er erwachte wie aus einem Entzücken zu sich und den gewöhnlichen Empfindungen, den gewöhnlichen Spielen, dem gewöhnlichen Leben von einem Tage zum andern hinüber. Dazwischen klangen immer die holden Waldhornstöne in seine Existenz hinein und vor ihm stand glühend und blühend das holde Angesicht des Kindes, dem er seine Blumen geschenkt hatte, nach denen er im Schlummer oft die Hände ausstreckte, weil ihn dünkte, das Mädchen neige sich über ihn, sie ihm zurückzugeben. Er wußte und begriff nicht, warum ihm dieser Augenblick seines Lebens so wichtig und glänzend war, aber alles Liebe und Holde entlehnte er von dieser Kindergestalt, alles Schöne was er sah, trug er in des Mädchens Bild hinüber: wenn er von Engeln hörte, glaubte er einen zu kennen und sich von ihm gekannt, er war es überzeugt, daß die Feldblumen einst ein Erkennungszeichen zwischen ihnen beiden sein würden.
Als er so deutlich wieder an alles dieses dachte, als ihm einfiel, daß er es in so langer Zeit gänzlich vergessen hatte, setzte er sich in das grüne Gras nieder und weinte; er drückte sein heißes Gesicht an den Boden und küßte mit Zärtlichkeit die Blumen. Er hörte in der Trunkenheit wieder die Melodie eines Waldhorns, und konnte sich vor Wehmut, vor Schmerzen der Erinnerung und süßen ungewissen Hoffnungen nicht fassen. »Bin ich wahnsinnig, oder was ist es mit diesem törichten Herzen?« rief er aus. »Welche unsichtbare Hand fährt so zärtlich und grausam zugleich über alle Saiten in meinem Innern hinweg, und scheucht alle Träume und Wundergestalten, Seufzer und Tränen und verklungene Lieder aus ihrem fernen Hinterhalte hervor? O mein Geist, ich fühle es, strebt nach etwas Überirdischem, das keinem Menschen gegönnt ist. Mit magnetischer Gewalt zieht der unsichtbare Himmel mein Herz an sich und bewegt alle Ahndungen durcheinander, die längst ausgeweinten Freuden, die unmöglichen Wonnen, die Hoffnungen, die keine Erfüllungen zulassen. Und ich kann es keinem Menschen, keinem Bruder einmal klagen, wie mein Gemüt zugerichtet ist, denn keiner würde meine Worte verstehen. Daher aber gebricht mir die Kraft, die den übrigen Menschen verliehen ist, und die uns zum Leben notwendig bleibt, ich matte mich ab in mir selber und keiner hat dessen Gewinn, mein Mut verzehrt sich, ich wünsche was ich selbst nicht kenne. Wie Jakob seh ich im Traum die Himmelsleiter mit ihren Engeln, aber ich kann nicht selbst hinaufsteigen, um oben in das glänzende Paradies zu schauen, denn der Schlaf hat meine Glieder bezwungen, und was ich sehe und höre, ahnde und hoffe und lieben möchte, ist nur Traumgestalt in mir.«
Jetzt schlug die Glocke im Dorfe. Er stand auf und trocknete sich die Augen, indem er weiterging, und nun schon die Hütten und die kleine Kirche durch das grüne Laub schimmern sah. Er ging an einem Garten vorbei, über dessen Zaun ein Zweig voll schöner roter Kirschen hing. Er konnte es nicht unterlassen, einige abzubrechen und sie zu kosten, weil die Frucht dieses Baumes ihn in der Kindheit oft erfreut hatte; es waren dieselben Zweige, die sich ihm auch jetzt freundlich entgegenstreckten, aber die Frucht schmeckte ihm nicht wie damals. »In der Kindheit«, sagte er zu sich selber, »wird der Mensch von den blanken, glänzenden, und vielfarbigen Früchten und ihrem süßen lieblichen Geschmacke angelockt, das Leben liebzugewinnen, wie es die Schulmeister in den Schulen machen, die im Anbeginn mit Süßigkeiten dem Kinde Lust zum Lernen beibringen wollen; nachher verliert sich im Menschen dieses frohe Vorgefühl des Lebens, der Lehrer wird streng, die Arbeit fängt an, und die Lockung selbst verliert ihren Wohlgeschmack.«
Franz ging über den Kirchhof und las die Kreuze im Vorbeigehn schnell, aber an keinem stand der Name seines Vaters oder seiner Mutter geschrieben, und er fühlte sich zuversichtlicher. Die Mauer des Turms kam ihm nicht so hoch vor, alles war ihm beengter, das Haus seiner Eltern kannte er kaum wieder. Er zitterte, als er die Tür anfaßte, und doch war es ihm schon wieder wie gewöhnlich, diese Tür zu öffnen. In der Stube saß die Mutter mit verbundenem Kopf und weinte; als sie ihn erkannte, weinte sie noch heftiger; der Vater lag im Bette und war krank. Er umarmte sie beide mit gepreßtem Herzen, er erzählte ihnen, sie ihm, sie sprachen durcheinander und fragten sich, und wußten doch nicht recht, was sie reden sollten. Der Vater war matt und bleich. Franz hatte ihn sich ganz anders vorgestellt, und darum war er nun so gerührt, und konnte sich gar nicht wieder zufriedengeben. Der alte Mann sprach viel vom Sterben, von der Hoffnung der Seligkeit, er fragte den jungen Franz, ob er auch Gott noch so treu anhange, wie er ihm immer gelehrt habe. Franz drückte ihm die Hand und sagte: »Haben wir in diesem irdischen Leben etwas anders zu suchen, als die Ewigkeit? Ihr liegt nun da an der Grenze, Ihr werdet nun bald in Eurer Andacht nicht mehr gestört werden, und ich will mir gewiß auch alle Mühe geben, mich von den Eitelkeiten zu entfernen.«
»Liebster Sohn«, sagte der Vater, »ich sehe mein Lehren ist an dir nicht verlorengegangen. Wir müssen arbeiten, sinnen und denken, weil wir einmal in dieses Leben, in dieses Joch eingespannt sind, aber darum müssen wir doch nie das Höhere aus den Augen verlieren. Sei redlich in deinem Gewerbe, damit es dich ernährt, aber laß nicht deine Nahrung, deine Bekleidung den letzten Gedanken deines Lebens sein; trachte auch nicht nach dem irdischen Ruhme, denn alles ist doch nur eitel, alles bleibt hinter uns, wenn der Tod uns fordert. Male, wenn es sein kann, die heiligen Geschichten recht oft, um auch in weltlichen Gemütern die Andacht zu erwecken.«
Franz aß wenig zu Mittage, der Alte schien sich gegen Abend zu erholen. Die Mutter war nun schon daran gewöhnt, daß Franz wieder da sei; sie machte sich seinetwegen viel zu tun, und vernachlässigte den Vater beinah. Franz war unzufrieden mit sich, er hätte dem Kranken gern alle glühende Liebe eines guten Sohnes gezeigt, auf seine letzten Stunden gern alles gehäuft, was ihn durch ein langes Leben hätte begleiten sollen, aber er fühlte sich so verworren und sein Herz so matt, daß er über sich selber erschrak. Er dachte an tausend Gegenstände die ihn zerstreuten, vorzüglich an Gemälde von Kranken, von trauernden Söhnen und wehklagenden Müttern, und darüber machte er sich dann die bittersten Vorwürfe.
Als sich die Sonne zum Untergange neigte, ging die Mutter hinaus, einige Gemüse aus ihrem kleinen Garten, der in einiger Entfernung lag, zur Abendmahlzeit zu holen.
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