Insbesondre hatte sie sich in die zärtliche Freundschaft irgendeines guten Kameraden hineingelebt, der für sie rote Früchte auf überturmhohen Bäumen pflückte und barfuß durch den Sand gelaufen kam, ihr ein Vogelnest zu bringen.
Als sie dreizehn Jahre alt war, brachte ihr Vater sie zur Stadt, um sie in das Kloster zu geben. Sie stiegen in einem Gasthofe im Viertel Saint-Gervais ab, wo sie beim Abendessen Teller vorgesetzt bekamen, auf denen Szenen aus dem Leben des Fräuleins von Lavallière gemalt waren. Alle diese legendenhaften Bilder, hier und da von Messerkritzeln beschädigt, verherrlichten Frömmigkeit, Gefühlsüberschwang und höfischen Prunk.
In der ersten Zeit ihres Klosteraufenthalts langweilte sie sich nicht im geringsten. Sie fühlte sich vielmehr in der Gesellschaft der gütigen Schwestern ganz behaglich, und es war ihr ein Vergnügen, wenn man sie mit in die Kapelle nahm, wohin man vom Refektorium durch einen langen Kreuzgang gelangte. In den Freistunden spielte sie nur höchst selten, im Katechismus war sie alsbald sehr bewandert, und auf schwierige Fragen war sie es, die dem Herrn Pfarrer immer zu antworten wußte. So lebte sie, ohne in die Welt hinauszukommen, in der lauen Atmosphäre der Schulstuben und unter den blassen Frauen mit ihren Rosenkränzen und Messingkreuzchen, und langsam versank sie in den mystischen Traumzustand, der sich um die Weihrauchdüfte, die Kühle der Weihwasserbecken und den Kerzenschimmer webt. Statt der Messe zuzuhören, betrachtete sie die frommen himmelblau umränderten Vignetten ihres Gebetbuches und verliebte sich in das kranke Lamm Gottes, in das von Pfeilen durchbohrte Herz Jesu und in den armen Christus selber, der, sein Kreuz schleppend, zusammenbricht. Um sich zu kasteien, versuchte sie, einen ganzen Tag lang ohne Nahrung auszuhalten. Sie zerbrach sich den Kopf, um irgendein Gelübde zu ersinnen, das sie auf sich nehmen wollte.
Wenn sie zur Beichte ging, erfand sie allerlei kleine Sünden, nur damit sie länger im Halbdunkel knien durfte, die Hände gefaltet, das Gesicht ans Gitter gepreßt, unter dem flüsternden Priester. Die Gleichnisse vom Bräutigam, vom Gemahl, vom himmlischen Geliebten und von der ewigen Hochzeit, die in den Predigten immer wiederkehrten, erweckten im Grunde ihrer Seele geheimnisvolle süße Schauer.
Abends, vor dem Ave-Maria, ward im Arbeitssaal aus einem frommen Buche vorgelesen. An den Wochentagen las man aus der Biblischen Geschichte oder aus den „Stunden der Andacht“ des Abbé Frayssinous und Sonntags zur Erbauung aus Chateaubriands „Geist des Christentums“. Wie andachtsvoll lauschte sie bei den ersten Malen den klangreichen Klagen romantischer Schwermut, die wie ein Echo aus Welt und Ewigkeit erschallten! Wäre Emmas Kindheit im Hinterstübchen eines Kramladens in einem Geschäftsviertel dahingeflossen, dann wäre das junge Mädchen vermutlich der Naturschwärmerei verfallen, die zumeist in literarischer Anregung ihre Quelle hat. So aber kannte sie das Land zu gut: das Blöken der Herden, die Milch- und Landwirtschaft. An friedsame Vorgänge gewöhnt, gewann sie eine Vorliebe für das dem Entgegengesetzte: das Abenteuerliche. So liebte sie das Meer einzig um der wilden Stürme willen und das Grün, nur wenn es zwischen Ruinen sein Dasein fristete. Es war ihr ein Bedürfnis, aus den Dingen einen egoistischen Genuß zu schöpfen, und sie warf alles als unnütz beiseite, was nicht unmittelbar zum Labsal ihres Herzens diente. Ihre Eigenart war eher sentimental als ästhetisch; sie spürte lieber seelischen Erregungen als Landschaften nach.
Im Kloster gab es nun eine alte Jungfer, die sich alle vier Wochen auf acht Tage einstellte, um die Wäsche auszubessern. Da sie einer alten Adelsfamilie entstammte, die in der Revolution zugrunde gegangen war, wurde sie von der Geistlichkeit begönnert. Sie aß mit im Refektorium, an der Tafel der frommen Schwestern, und pflegte mit ihnen nach Tisch ein Plauderstündchen zu machen, bevor sie wieder an ihre Arbeit ging. Oft geschah es auch, daß sich die Pensionärinnen aus der Arbeitsstube stahlen und die Alte aufsuchten. Sie wußte galante Chansons aus dem ancien régime auswendig und sang ihnen welche halbleise vor, ohne dabei ihre Flickarbeit zu vernachlässigen. Sie erzählte Geschichten, wußte stets Neuigkeiten, übernahm allerhand Besorgungen in der Stadt und lieh den größeren Mädchen Romane, von denen sie immer ein paar in den Taschen ihrer Schürze bei sich hatte. In den Ruhepausen ihrer Tätigkeit verschlang das gute Fräulein selber schnell ein paar Kapitel. Darin wimmelte es von Liebschaften, Liebhabern, Liebhaberinnen, von verfolgten Damen, die in einsamen Pavillonen ohnmächtig, und von Postillionen, die an allen Ecken und Enden gemordet wurden, von edlen Rossen, die man auf Seite für Seite zuschanden ritt, von düsteren Wäldern, Herzenskämpfen, Schwüren, Schluchzen, Tränen und Küssen, von Gondelfahrten im Mondenschein, Nachtigallen in den Büschen, von hohen Herren, die wie Löwen tapfer und sanft wie Bergschafe waren, dabei tugendsam bis ins Wunderbare, immer köstlich gekleidet und ganz unbeschreiblich tränenselig. Ein halbes Jahr lang beschmutzte sich die fünfzehnjährige Emma ihre Finger mit dem Staube dieser alten Scharteken. Dann geriet ihr Walter Scott in die Hände, und nun berauschte sie sich an geschichtlichen Begebenheiten im Banne von Burgzinnen, Rittersälen und Minnesängern. Am liebsten hätte sie in einem alten Herrensitze gelebt, gehüllt in schlanke Gewänder wie jene Edeldamen, die, den Ellenbogen auf den Fensterstein gestützt und das Kinn in der Hand, unter Kleeblattbogen ihre Tage verträumten und in die Fernen der Landschaft hinausschauten, ob nicht ein Rittersmann mit weißer Helmzier dahergestürmt käme auf einem schwarzen Roß. Damals trieb sie einen wahren Kult mit Maria Stuart; ihre Verehrung von berühmten oder unglücklichen Frauen ging bis zur Schwärmerei. Die Jungfrau von Orleans, Heloise, Agnes Sorel, die schöne Ferronnière und Clemence Isaure leuchteten wie strahlende Meteore in dem grenzenlosen Dunkel ihrer Geschichtsunkenntnisse. Fast ganz im Lichtlosen und ohne Beziehungen zueinander schwebten ferner in ihrer Vorstellung: der heilige Ludwig mit seiner Eiche, der sterbende Ritter Bayard, ein paar grausame Taten Ludwigs des Elften, irgendeine Szene aus der Bartholomäusnacht, der Helmbusch Heinrichs des Vierten, dazu unauslöschlich die Erinnerung an die gemalten Teller mit den Verherrlichungen Ludwigs des Vierzehnten.
In den Romanzen, die Emma in den Musikstunden sang, war immer die Rede von Englein mit goldenen Flügeln, von Madonnen, Lagunen und Gondolieren.
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