Du besitzest die geniale Grobheit, die nur sich selbst ausspricht; ich als harmloses Talent werde stets einen großen Verkehr haben und an den Einsiedler an der Ems lange Briefe schreiben. Du zwingst ein halb Dutzend Menschen, von Dir zu reden; ich bringe alle Welt dazu, mit mir zu schwatzen.

Sagt die Dame: ›Dieses ist ein entsetzliches Reisewetter, mein Herr.‹ – Murre ich zutunlich: ›Himmeldonnerundhagel, sitze ich hier nicht seit anderthalb Tagen fest?‹ – Sagt die Dame höflich und lächelnd: ›Das sieht man Euch an, Señor; sowie auch, daß es nicht das erstemal ist, daß Euch das Wetter und Schicksal in die richtige Lebensstimmung hineinschüttelten.‹

›Hm‹, antworte ich, ›wie verstehen Euer Gnaden das, und was weiß Dero glatte Stirn davon?‹

›Hm‹, versetzt die schwarzhaarige Señora, ›ich komme heute zwar im Zweispänner; aber ich bin eine gute Reiterin, reite jedoch nicht schneller als die andern.‹

›Und die Sorge hält deshalb Schritt, Madam; – ich erlaube mir, mich vorzustellen: mein Name und Titel ist Justizrat Scholten aus Hannover.‹

Da hatten wir's; – die Bekanntschaft war gemacht und – dauert noch fort! – Die Señora gibt mir ihren Namen, Rang und Titel bekannt, und ich rücke zu am Tische, was Du in Pilsum nicht getan haben würdest. Der Wirt bringt den Kaffee, und die Frau Salome sagt: ›Ein jeder Mensch hat, meiner Erfahrung nach, seine eigenen Hausmittel, um die schlimmen Stunden zu überwinden; darf ich nach den Ihrigen fragen, mein Herr Justizrat Scholten aus Hannover?‹

Giftig schnurre ich: ›Was halten Euer Gnaden von dem gemütlichen Troste: achtzig Jahre wirst du unbedingt alt und begräbst ohne allen Zweifel alles, was dich heute ärgert?‹

Würdest Du dieses nun gesagt haben, so hätte man dem Kellner gewinkt und sein Service auf einen entfernten Tisch haben stellen lassen; – an mich rückt man nur dichter heran und meint mit zärtlichem Behagen und einem Blick auf den Landregen vor den Fenstern: ›Mein bester Herr Justizrat, es ist mir höchst angenehm, Ihre werte Bekanntschaft gemacht zu haben! Haben wir nicht vielleicht denselben Weg fernerhin? Dieses würde mich ebensosehr freuen.‹

Peter Schwanewede, wir haben so ziemlich von dieser Begegnung an den nämlichen Weg gehabt, ich und die Frau Salome Veitor, und wenn einem in seinem Bekanntenkreise durchgängig nichts schwerer gemacht wird, als seiner Natur zu folgen, so machen wir, die Frau Salome und ich, uns das so leicht als möglich. Nun haben wir heute zum erstenmal in dieser Saison einander wiedergetroffen, und zwar am alten Brocken. Die Frau hat noch immer nicht wieder gefreit (sie war bereits Witwe, als ich sie kennenlernte, und ich machte sofort den Versuch, sie nach Pilsum zu dirigieren, und schilderte ihr die Gegend sowie die dort hausenden Menschen, Dich, Peter, eingeschlossen, äußerst verlockend) und langweilt sich aufs sträflichste. Sehr dankbar nimmt sie es auf, wenn ein vernünftiger Mann sich mit ihr einläßt, einen Sommernachmittag mit ihr vertrödelt und ihren Weibergrillen und Phantasien irgendeine feste Direktion gibt. Die Frau hat entsetzlich viel Langeweile und ist – bei den unsterblichen Göttern sei es gesagt! – über der Welt Eitelkeit so erhaben wie je ein tüchtiger und verständiger Mann, und da habe ich sie denn heute mit nach meinem Dorfe genommen und sie mit Querians Kinde bekannt gemacht.

Seit dieser Dritte in unserem Lebensbunde eine Närrin fand, die sich bereitwillig zeigte, in ehelicher Verbindung mit ihm diesem armen Geschöpfe den Fluch Adams aufzuladen, hast Du ihn nicht zu Gesicht bekommen, unsern Freund Querian, wohl aber ich ziemlich häufig, und ein Vergnügen ist das nicht. Nun ist das Kind, die Eilike, dreizehn Jahre alt und der Alte toller denn je. Du kennst zwar meine Ansicht, daß es bei den Mädchen absolut nicht darauf ankommt, ob sie etwas gelernt haben oder nicht, sondern ob sie einen Mann kriegen oder ledig bleiben. Wissen und Kunst und Schönheit tun da nichts zur Sache; wenn wo das Schicksal rücksichtslos und allmächtig sich zeigt, so ist das hier, und die Frauenzimmer ahnen das auch instinktiv und nehmen und geben sich mit zierlichster Brutalität selber als das Schicksal. Die Egoistinnen, die so viel ahnen, haben durchaus keine Ahnung davon, welch eine Sorge sie selbst einem alten Junggesellen wie ich durch ihr bloßes Vorhandensein machen können. Nun ist da die Eilike, das Kind eines andern Mannes – geht mich im Grunde nicht das geringste an und verursacht mir doch mehr schlaflose Nächte, als ich selbst mit meiner ziemlich kräftigen Körperkonstitution ertragen will. Ich sage Dir, eine verwahrlostere und hülflosere Kreatur als diese Eilike Querian gibt es auf Erden nicht, und Querian selber treibt es ärger denn je. Und seine Verrücktheit ist ansteckend! Wie wir vor dreißig Jahren schon uns mit Macht dagegen zu wehren hatten, daß wir nicht mit in seine Tollheitsstrudel hineingerissen wurden, so habe ich mich manchmal heute noch dagegen zu stemmen. Das Bergvolk aber am hiesigen Ort hält ihn für den Mann mit den Schlüsseln zu allen Gängen und Pforten der Unterwelt. Es ist mir nicht unerklärlich, woher er die Mittel, sein Leben und verrücktes Treiben so fortzuführen, nimmt; aber ein Elend und Verdruß ist es.

Durch die Dorfschule ist das Kind des Narren zwar gelaufen; aber selbst der Schulmeister, mein guter Freund und Nachbar, ist sich nicht klar, ob es ihm gelungen ist, ihm das Lesen und Schreiben beizubringen. Dazu hungert das Geschöpf und schläft auf Stroh, und der Alte läßt es nackt Modell stehen. Seine Wege gehen nicht durch die Haustür, sondern durch das Fenster, über das Schindeldach an einem Baumast hinunter; und so ist es auch heute gekommen, und so hat es meine Freundin, die Frau Salome, kennengelernt. Nun frage ich Dich, Peter Schwanewede (und das ist der bittere innerste Kern dieses vielschmackigen Briefes!), soll und darf ich unsern Freund und Jugendgenossen Karl Ernst Querian ins Irrenhaus stecken lassen oder nicht? – – Reif dazu scheint er mir zu sein, und es ist nur die Frage, ob gerade wir beide dazu berufen sind, ein endgültiges Urteil über diese seine Reife abzugeben. Du weißt nur zu gut, Peter, wie wir drei von jeher ein jeglicher über den andern dachten. Du weißt, wie häufig unser Freund uns seine Meinung über uns in dieser Richtung nicht vorenthalten hat. Du weißt, wie oft er selber uns für ganz verrückte Narren erklärte, und – Schwanewede – ich, der ich doch ein Geschäftsmann bin, in des Lebens Praktiken und Kniffen ziemlich Bescheid weiß und mir selten ein X für ein U machen lasse oder, was noch mehr für meinen gesunden Verstand spricht, es mir selber mache ich fasse die heikle Frage, je älter ich werde, mit desto spitzeren Fingern an. Peter von Pilsum, ich habe noch nie in meinem Leben vor einer größeren Verantwortlichkeit gezögert!

Meine kluge, klare hebräische Freundin, die unsern vortrefflichen Querian bis jetzt noch nicht persönlich kennengelernt hat, sondern nur seine Erziehungsresultate an seinem Kinde, hat mir den Vorschlag getan, ihn nach Rom zu spedieren, und es ist nur schade, daß sie diesen Vorschlag uns und ihm nicht vor dreißig Jahren machte.

Sie will das Kind zu sich nehmen und ihm eine menschenwürdige Existenz schaffen. Beim Blute der Götter, ich habe sie eben auf den Weg nach Hause gebracht und ihr gesagt, daß ich mich auf nichts einlassen könne, ehe ich nicht an Dich geschrieben und Deine Ansicht gehört habe. Sehr freundlich wäre es von Dir, steht aber wohl nicht zu erwarten, daß Du auf vierzehn Tage den Bengel, den Böhme und den Swedenborg zuklappst, die Eisenbahn zu erreichen suchest, hierherkommst und Dich auf einen Tag mit unserem in Frage stehenden Freunde und Patienten zusammensperrst?!

Es ist meine Pflicht gegen Querian, Dir auch dieses in Überlegung und unter die Füße zu geben.

Zu einem Entschluß müssen wir kommen!

Dein Freund Scholten.«

 

Dem Justizrat war über diesem Schreiben mehrmals die Pfeife ausgegangen. Jetzt stand er auf, ging zum Fenster und blickte eine ziemliche Weile auf den mondbeschienenen Kirchhof hin.

»So gehen die Gespenster um«, murmelte er. »Und dann spricht man noch Von klaren Köpfen und tut sich was zugute auf seine fünf gesunden Sinne!«

 

Neuntes Kapitel

 

Mit einer schlängleingleichen Behendigkeit war die Eilike in ihr Dachfenster geglitten; man vernahm kaum ein Geräusch ihrer Bewegungen, und selbst dann kaum, als sie Von dem Fenster auf den Fußboden ihrer Kammer sprang. Der Mondschein glitt ihr fast nicht geräuschloser nach.

Das Mädchen hatte sonst den Schlaf der Tiere, die, wenn sie satt und nicht auf der Jagd sind, auch sonst nicht gehindert werden, sich zusammenrollen und die Augen zudrücken. Damit war's in dieser Nacht nichts.

Auf ihrer Bettstatt sitzend, löste Eilike mechanisch ihre Haare, um sie dann fester und zierlicher von neuem zu flechten, und sah sehr ernst und nachdenklich in den immer mehr den Raum mit seinem Lichte füllenden Mond. Aus ihrem Schlummer in der Stube des Paten und Justizrats Scholten erwachend, hatte Eilike Querian die Frau Salome gegenüber am Tisch Vor sich gesehen, und das Bild der schönen jüdischen Baronin war's, was sie munter hielt auf ihrem Strohsack.

Wir haben erzählt, wie das junge Mädchen damals jach sich aufrecht setzte, die blonden Haare zurückstrich und die schöne Dame anstarrte; – damals hatte sich inmitten ihrer verwahrlosten Seele auch etwas mit einem heftigen Sprunge aufgerichtet, und das stand noch aufrecht und starrte nun aus sehnsüchtig funkelnden Augen in eine neue Welt.