Eilike!«

Er hatte bei dem letzten Worte seinem schlafenden Gaste die Hand auf die Schulter gelegt, und die Kleine erwachte. Sie fuhr aber nicht rasch und erschreckt in die Höhe, sondern sie richtete sich langsam und träge empor und strich gähnend mit beiden Händen die Haare zurück. Da ihr die Frau Salome gerade gegenüber saß, sah sie auch auf die schöne Baronin. Sie stierte sie an aus hellen, blauen Augen, und es war etwas in dem Blicke, was die Frau Salome zu dem stummen Ausrufe bewog:

»Mein Gott, das arme Geschöpf ist blödsinnig!«

 

Sechstes Kapitel

 

»Dieses wohl nicht; freilich aber ein wenig in Hinsicht auf geistige wie körperliche Erziehung vernachlässigt«, sagte der Justizrat, als ob er mit seinen leiblichen Ohren gehört habe, was die Baronin in der Tiefe ihrer Seele gerufen hatte. »Blödsinnig ist sie nicht, sie sieht nur dann und wann so aus.«

»Daß der Umgang mit Ihnen ein wenig mehr als bloße Behutsamkeit erfordert, weiß ich, es ist nicht mehr nötig, daß Sie mir dieses immer von neuem deutlich machen, Scholten. Guten Abend, mein Kind; wirst du mir erzählen, was dir eben träumte?«

Die Kleine machte nur die größten und verwundertsten Augen; wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt starrte sie die schöne Dame an, antwortete aber nicht.

»Guten Abend, Eilike«, sagte der Justizrat. »Gut geschlafen? Eigentlich sollte man dir einen guten Morgen wünschen.«

Jetzt ging ein Lachen über die Züge des Mädchens, während es sich mit den Knöcheln beider Hände die Augen rieb und von neuem herzhaft gähnte.

»Wie Viele hast du heute schon verschlungen?« brummte Scholten, und jetzt zeigte es sich, daß das Ding doch auch zu reden wußte.

»Oh, noch niemand, Herr Pate. Wir haben auch gar nicht zu Mittag gekocht. Der Vater hatte keine Zeit, und ich habe ihm geholfen. Jetzt schläft er, und ich bin hier und habe auch geschlafen. Es ist wohl der heiße Tag gewesen, und unterwegs hatte mir der liebe Gott noch einen Botengang linksab geschickt. Das hat mich wohl noch schwindliger gemacht; da bin ich hier in der Kühle eingeschlafen, ohne daß ich weiß, wie es zugegangen ist. O nehmen Sie es nur nicht übel!«

»Im Brotschranke war ein halbes gebratenes Huhn – delikat! – und ein Topf mit Pflaumen in Zucker?!« sagte oder fragte der Justizrat, wie verstohlen mit dieser Bemerkung sich seitwärts anschleichend.

»O ich weiß, Herr Pate! Ich stand auf den Zehen; aber sie hat mich am Zopf umgedreht, und da habe ich hier auf der Bank gewartet und bin eingeschlafen.«

Die Augen der Kleinen leuchteten bei dem neuen Blick auf den Wandschrank; aber die Augen des Justizrats Scholten leuchteten gleichfalls bei einem Blick in denselben. Mit einem Sprunge war er vor der Stubentür, und sofort erhub sich in der Tiefe des Hauses – wahrscheinlich in der Küche – ein Lärm, der die stillen Schläfer an der Kirche unter den Kreuzen und grünen Hügeln hätte aufwecken können. Der gemütliche alte juristische Sommergast der Witwe Bebenroth schien toll geworden zu sein. Er schrie, er brüllte – Pfannen und Töpfe rasselten –, dazwischen zeterte und heulte die Witwe; die Frau Baronin Salome von Veitor aber schob der Eilike den irdenen Teller mit dem Brot zu und sagte:

»Du wirst für jetzt wohl damit fürliebnehmen müssen, mein armes Kind.«

»Oh!« rief Eilike Querian, griff mit beiden Händen gierig zu, riß ganze Stücke mit den blendend weißen, scharfen Zähnen ab und erstickte fast im Kauen und Schlingen.

Der Anblick war solcher Art, daß die Frau Salome, die Hände faltend, murmelte:

»Wer konnte darauf achten? Ich hab's nicht gesehen; aber ich hoffe, er hat seinen Spazierknittel mit in die Küche genommen und macht Gebrauch davon. Ich hoffe zu Gott, daß er das Weib durchprügelt!«

Keuchend, mit dem hellen Wutschweiß auf der Stirn, trat Scholten wieder ein.

»Das Kind habe alles gefressen, behauptet der Unhold und will darauf einen selbstverständlich falschen Eid schwören«, sagte er grinsend. »Eilike –«

Das Kind hatte sich bereits erhoben. Es stand in einer seltsam pathetischen Stellung. Die linke Hand hatte es auf die Brust gelegt, die rechte erhob es, reckte die Schwurfinger auf und sagte mit wunderlich feierlichem Tone:

»Der barmherzige Herr und Schöpfer vom Himmel und der Erde ist mein Zeuge. Ich habe es nicht getan.«

Die Frau Salome sah von dem jungen Mädchen auf den Justizrat:

»Scholten, ich bitte Sie?! Was ist das, Scholten?«

»Eilike Querian. Querians Tochter, wie ich Ihnen sagte. Mein Patchen aus der Marktkirche zu Hannover, wie ich Ihnen bemerkte. Ich habe die Person nach dem Wirtshause geschickt. Nicht wahr, Eilike, wir sind mit jeglichem Tafelabhub zufrieden?«

Das Kind lachte. Es kaute weiter, schien den Herrn Paten wenig zu verstehen und schien vor allen Dingen mit allem zufrieden zu sein, was ihm zwischen die gesunden glänzenden Zähne kam. – Die Witwe Bebenroth kam mit einem leeren Korbe zurück, trat patzig in die Stube, schlug die Arme unter und sagte grimmig, verdrossen und voll höhnischen Triumphes:

»Nichts! Alles ratzenkahl – der letzte Knochen für die Hunde. Sapperment, ist das ein Umstand!«

»Sapperment«, brummte der Justizrat. »Weib, ich hätte Lust, dir einen Kriminalprozeß auf den Hals zu hängen!«

Da setzte die Witwe ihren Korb nieder und verzog den Mund zu einem neuen Geheul:

»Oh, Herr Rat, ich habe noch einen Schinken im Rauch. Mein letzter Seliger ist dieses sein letztes Frühjahr durch mit langer Zunge drumherum gegangen, und ich habe ihn leider Gottes mehr als einmal von der Leiter heruntergezogen und ihm das Messer aus den Händen gerissen.