Der alte Decadon bezeichnete ihn einmal als einen leichtsinnigen Spieler und Spekulanten, ließ sich aber nicht näher darüber aus. Es war merkwürdig, daß er das sagte; denn er selbst hatte sein großes Vermögen durch Spekulationen erworben, die alle mehr oder weniger gewagt, ja leichtsinnig gewesen waren. Der ganze Haushalt hatte etwas Ungewöhnliches, und Leslie war dankbar, daß sie behaglich in einer eigenen Wohnung leben konnte. Decadon hatte unerwartet ihr an und für sich schon hohes Gehalt nach einer Woche verdoppelt.
Sie machte einige seltsame Erfahrungen. Decadon war etwas unachtsam und verlegte oder verlor häufig Gegenstände. Manchmal waren es kostbare Bücher, manchmal Wertpapiere oder Verträge. In solchen Fällen benachrichtigte er sofort die Polizei. Und stets fanden sich die Gegenstände wieder, bevor die Beamten erschienen.
Als Leslie das zum erstenmal miterlebte, erschrak sie sehr. Ein seltenes unheimlich wertvolles Manuskript war verschwunden. Während sie eifrig in allen Schubladen suchte, telefonierte Decadon schon mit Scotland Yard. Kurz darauf kam der noch sehr junge, hübsche Chefinspektor Terry Weston. Wie gewöhnlich, hatte sich das verlorene Manuskript inzwischen in dem großen Safe in Leslies Büro gefunden. »Mr. Decadon«, bemerkte Terry freundlich. »Diese Marotte von Ihnen kostet den Staat eine Menge Geld!«
»Wozu haben wir denn überhaupt eine Polizei?« fragte der alte Mann brummig.
»Jedenfalls nicht dazu, um vergeßlichen Leuten verlorene Dinge suchen zu helfen.«
Decadon räusperte sich ärgerlich und ging in sein Wohnzimmer, wo er den Rest des Tages in einer recht unfreundlichen Stimmung zubrachte. »Ihnen kommt das alles sicher komisch vor, Miss?« »Ja, Mister -«
»Chefinspektor Weston - Terry Weston. Ich wage nicht vorzuschlagen, daß Sie mich ›Terry‹ nennen.«
Sie lächelte, sein ungezwungen heiteres Wesen wirkte ansteckend. Niemals hätte sie sich einen Polizeibeamten so menschlich und freundlich vorgestellt.
Auch er interessierte sich von Anfang an lebhaft für sie und traf sie natürlich wieder. Sie nahm ihr Mittagessen gewöhnlich in einem kleinen Restaurant in der Bond Street ein. Eines Tages erschien er in diesem Lokal und nahm ihr gegenüber Platz. Die Begegnung war nicht zufällig, wenigstens nicht von seiner Seite aus. Im Gegenteil, er hatte alles sehr genau ausgekundschaftet.
Ein andermal sah er sie, als sie auf dem Heimweg war. Aber er war klug genug, sie niemals ins Theater einzuladen oder ihr zu zeigen, wie sehr er sich für sie interessierte. Er wußte, daß sie sich dann sofort zurückziehen würde.
»Warum arbeiten Sie eigentlich für den alten Griesgram?« fragte er einmal.
»Er ist doch kein Griesgram!« verteidigte sie Mr. Decadon, aber ihre Worte klangen nicht besonders überzeugt, zumal, da sie sich an diesem Tag mehr als einmal über ihren Chef geärgert hatte.
»Ist Edwin Tanner ein netter Kerl?«
Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. »Warum stellen Sie dieses Verhör an?«
»Ach, habe ich das getan? Das tut mir leid. Mein Beruf bringt das mit sich. Ich interessiere mich nicht besonders für Mr. Tanner.«
Leslie hatte im allgemeinen eigentlich wenig zu tun: Es waren nur ein paar Briefe zu schreiben, ein paar Bücher zu lesen und über den Inhalt zu berichten. Der alte Decadon war ein großer Bücherfreund und verbrachte die meiste Zeit in seiner Bibliothek.
Der zweite ungewöhnliche Vorfall, den Leslie in ihrer neuen Stellung erlebte, ereignete sich, nachdem sie ungefähr vier Monate für Decadon tätig war.
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