Nicht einer lachte. Fast alle waren in grauen, gelb und rosa gesprenkelten Cheviot gekleidet.

Er warf einen entzückten Blick auf seinen Anzug, der in Farbe und Schnitt wenig von dem der andern abstach, und es war ihm eine Befriedigung, in ihrer Mitte durchaus nicht aufzufallen.

Da schreckte er plötzlich auf.

»Und die Stunde der Abfahrt?« ...

Er zog rasch seine Uhr, sie zeigte jetzt sieben Uhr fünfzig Minuten.

»Ich habe also noch eine halbe Stunde Zeit, hier zu bleiben,« murmelte er und überdachte nochmals den Plan, den er gemacht hatte.

In seinem zurückgezognen Leben hatten ihn nur zwei Länder angezogen: Holland und England.

Er hatte den ersten seiner Wünsche befriedigt; eines schönen Tages, als er es nicht mehr aushalten konnte, hatte er Paris verlassen und die Städte der Niederlande eine nach der andern besichtigt.

Im ganzen genommen hatte er nur Enttäuschungen auf dieser Reise erlebt. Hatte er sich doch ein Holland nach den Werken von Teniers und Steen, von Rembrandt und Ostade vorgestellt; er hoffte Kirmesse, beständige Schmausereien auf dem Lande und die von den alten Meistern so gepriesne patriarchalische Gutmütigkeit und joviale Liederlichkeit zu finden.

Zwar hatten ihn Haarlem und Amsterdam bezaubert mit dem noch ungehobelten Benehmen des Volkes auf dem Lande. Aber von der ungezügelten Fröhlichkeit und der harmlosen Völlerei hatte er keine Spur bemerkt. Kurz, er mußte zugeben, daß ihn die holländische Schule des Louvre genasführt hatte. Sie war ihm nur ein Sprungbrett zu seinen Träumen gewesen.

Von alledem war nichts zu sehn; Holland war ein Land wie alle andern.

Er sah von neuem nach der Uhr: es fehlten noch zehn Minuten bis zur Abfahrt des Zuges. Es war die höchste Zeit, die Rechnung zu begleichen und hinüberzugehn.

Er verspürte plötzlich eine außerordentliche Schwere im Magen wie im ganzen Körper.

»Mut!« murmelte er, stürzte noch schnell ein Glas Brandy hinunter und verlangte seine Rechnung.

Ein Individuum in schwarzem Frack und einer Serviette unter dem Arm, mit spitzem, kahlem Schädel, steifem grauen Backenbart trat heran, einen Bleistift hinter dem Ohr, stellte ein Bein vor das andre, zog ein Notizbuch aus seiner Tasche und, ohne sein Papier anzusehn, die Augen auf die Gaskrone gerichtet, schrieb er alles auf und berechnete die Zeche.

»Hier,« sagte er, riß das Blatt aus seinem Buche und überreichte es dem Herzog, der ihn neugierig ansah.

»Welch seltsamer John Bull,« dachte er.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür der Kneipe, Leute kamen herein, die einen Geruch wie von durchnäßten Pudeln mitbrachten. Eine süße und wohlige Erschlaffung bemächtigte sich des Herzogs Jean; er fühlte sich unfähig, seine Beine zu bewegen, ja selbst die Hand auszustrecken, um sich eine Zigarre anzuzünden.

»Vorwärts, es ist die höchste Zeit!« sagte er sich, ohne sich zu rühren.

Wozu war es nötig, in größter Eile fortzustürzen, wenn man so bequem und so prächtig auf einem Stuhl reisen konnte?

War er nicht eigentlich schon in London, dessen Geruch, dessen Atmosphäre, dessen Einwohner, dessen Futter, dessen Geräte ihn umgaben?

Was konnte er denn erhoffen, wenn nicht neue Enttäuschungen, wie in Holland?

Er hatte gerade noch so viel Zeit, um nach dem Bahnhof gegenüber zu laufen, doch ein gewaltiger Widerwille gegen die Reise erfaßte ihn, und ein unabweisliches Bedürfnis, ruhig zu sitzen, drängte sich ihm mit Gewalt auf.

Nachdenklich ließ er einige Minuten verstreichen, schnitt sich auf diese Weise den Rückweg ab und sagte sich: »Jetzt würde ich mich in die Billettausgabe stürzen, mich mit meinem Gepäck herumstoßen müssen; wie verdrießlich!« –

Dann wiederholte er sich von neuem: »Im ganzen genommen habe ich gesehn und empfunden, was ich sehn und empfinden wollte. Ich bin mit englischem Leben seit meiner Abreise von Fontenay übersättigt und müßte wahnsinnig sein, wenn ich durch Umherirren meine Eindrücke zerstören sollte.«

»Sieh da,« fuhr er in seinem Monolog fort und sah auf die Uhr, »die Zeit ist da, heimzukehren!«

Jetzt stand er wirklich auf, ging hinaus und befahl seinem Kutscher, ihn nach dem Bahnhof von Sceaux zurückzufahren, und er kam wieder in Fontenay an mit seinen Koffern, Paketen, Reisedecken, Regenschirmen und Spazierstöcken und empfand die körperliche Abgehetzheit, die moralische Ermüdung eines Menschen, der nach einer langen, gefahrvollen Reise endlich wieder zu Hause anlangt.

 

Zwölftes Kapitel.

 

Während der Tage, die seiner Rückkehr folgten, betrachtete Herzog Jean mit Wohlgefallen seine Bücher, und bei dem Gedanken, daß er sich lange Zeit von ihnen hatte trennen können, empfand er eine ebenso wirkliche Befriedigung, wie er sie genossen hatte, wenn er sie nach einer ernstlichen Reise wiedergefunden hätte. Unter dem Impuls dieses Gefühls schienen ihm die Gegenstände neu, denn er nahm an ihnen Schönheiten wahr, die er vergessen, seitdem er sie erworben hatte.

Alles: Bücher, Nippsachen, Möbel, nahm in seinen Augen einen neuen Reiz an. Sein Bett schien ihm weicher im Vergleich zu dem Lager, das er in London eingenommen hatte; der diskrete, schweigsame Dienst des alten Ehepaares entzückte ihn, da er sich von dem Gedanken an die lärmende Redseligkeit der Hotelkellner ermüdet fühlte.

Er schöpfte frische Lebenskraft aus dem Bad der Gewohnheit.

Aber seine Bücher beschäftigten ihn hauptsächlich. Er prüfte sie, ordnete sie von neuem auf den Gestellen, sah genau nach, ob seit seiner Ankunft in Fontenay die Hitze und Feuchtigkeit ihre Einbände nicht beschädigt und ihr kostbares Papier nicht zerfressen hätte.

Er fing an, seine ganze lateinische Bibliothek umzuordnen, dann stellte er die Werke von Archelaus, Albert dem Großen, Lullus, Arnold de Villanova, die die Kabbala und geheimen Wissenschaften behandelten, in neuer Ordnung auf. Dann sah er seine modernen Bücher nacheinander durch und stellte mit Vergnügen fest, daß alle trocken und unversehrt geblieben waren.

Diese Sammlung hatte ihn bedeutende Summen gekostet. Denn er hatte sich die von ihm bevorzugten Verfasser in besondern Luxusausgaben angeschafft. In seiner Pariser Zeit hatte er für sich allein bestimmte Bücher herstellen lassen. Er ließ von England und Amerika neue Buchstaben für die Anfertigung von Werken dieses Jahrhunderts kommen; oder wendete sich an ein Geschäft in Lille, das einen ganzen Satz gotischer Typen besaß.

Er hatte es ebenso mit seinem Papier gemacht, denn er war eines Tages der silbernen Chinas, der perlmutternen und goldnen Japans überdrüssig geworden, wie auch der weißen Wathmans, der dunkelbraunen holländischen, der Turkeys und Seychal-Mills in Gemsfarben. Ebenso befriedigte ihn nicht mehr das mit Maschinen angefertigte Papier. Deshalb hatte er besonders gestreiftes Papier in den alten Fabriken von Vire bestellt, wo man sich noch der Stampfe bediente, die man früher anwendete, um Hanf zu verarbeiten.

Um ein wenig Abwechslung in seine Sammlungen zu bringen, hatte er sich verschiedentlich Ripspapier aus London schicken lassen; auch bereitete ihm ein Lübecker Fabrikant ein Preßbalkenpapier, bläulich, kräftig, etwas spröde, in dessen Stoff die Fasern durch Goldblättchen, wie sie in dem Danziger Goldwasser flimmern, ersetzt waren.

Dadurch hatte er sich Bücher einzig in ihrer Art verschafft. Sie waren in ungebräuchlichem Format, die er von Künstlern in antiker Seide, geprägtem Ochsen- und Coyleder artistisch einbinden ließ. Auch besaß er kostbare Einbände aus moirierter Seide und Taffet, und einige sogar mit oxydiertem Silberbeschlag und hellem Email ausgelegt.

So hatte er sich von dem bekannten alten Geschäft Le Clere die Werke von Baudelaire in großem Format wie Meßbücher mit großen steilen Buchstaben auf sehr feinem japanischen Filzpapier drucken lassen.

Der Herzog hatte dieses unvergleichliche Werk aus seinem Bücherschrank herausgezogen; er befühlte es andächtig und las gewisse Stellen wieder durch, die ihm in diesem einfachen, aber unschätzbaren Rahmen ergreifender als gewöhnlich erschienen.

Seine Bewunderung für diesen Schriftsteller war grenzenlos. Seiner Meinung nach hatte man sich bis jetzt in der Literatur darauf beschränkt, das Äußre der Seele zu erforschen. Baudelaire war weiter gegangen; er war bis zum Grund der unerschöpflichen Mine hinabgestiegen, hatte sich weit in die verlaßnen und unbekannten Gänge hineingewagt, war in den Distrikten der Seele angelangt, wo sich die widernatürliche Vegetation der Gedanken verzweigt.

Zu einer Zeit, wo die Literatur fast ausschließlich den Lebensschmerz dem Unglück einer verkannten Liebe oder den Eifersüchteleien des Ehebruchs zuschrieb, hatte Baudelaire diese kindischen Krankheiten überwunden und die unheilbareren, tiefern Schäden untersucht, die durch Übersättigung und Enttäuschung die Gegenwart martern, die Vergangenheit anwidern und die Zukunft erschrecken und beunruhigen.

Und je mehr der Herzog wieder Baudelaire durchlas, desto mehr erkannte er einen unendlichen Zauber in diesem Schriftsteller, der in einer Zeit, wo Verse nur dazu dienten, die äußern Erscheinungen von Wesen und Sachen wiederzugeben, es dahin gebracht hatte, das Unaussprechliche auszudrücken, dank einer kräftigen und vollen Sprache, die mehr als jede andre diese wunderbare Macht besaß, mit einer seltnen Gesundheit von Ausdrücken krankhafte Zustände der flüchtigsten und zitterndsten Art, der erschöpften Geister und traurigen Seelen festzustellen.

Außer Baudelaire waren die französischen Bücher in seiner Bibliothek ziemlich beschränkt. Er war gänzlich unempfänglich für die Werke, vor denen es zum guten Ton gehört, in Entzücken zu geraten.

»Der herzhafte Humor von Rabelais« und »die gesunde Komik Molières« brachten ihn nicht zum Lachen und seine Antipathie gegen diese Possen ging sogar so weit, daß er sich nicht scheute, sie mit Jahrmarktstand zu vergleichen.

Von den alten Dichtern las er nur Villon, dessen melancholische Balladen ihn rührten; hier und da einige Sachen von Aubigné, die durch die unglaubliche Heftigkeit ihrer Ausfälle und durch ihre Flüche sein Blut in Wallung brachten.

Von den Prosaisten beschäftigten ihn Voltaire und Rousseau sehr wenig, noch weniger Diderot, dessen so sehr gerühmte »Salons« ihm ganz besonders mit moralischen Abgeschmacktheiten und einfältigen Bestrebungen angefüllt schienen; aus Haß gegen all diesen Plunder vertiefte er sich fast ausschließlich in die Lektüre der christlichen Beredsamkeit, wie Bourdaloue und Bossuet, deren kräftige und bilderreiche Sprache ihm imponierte. Aber vorzugsweise erquickte er sich an den ernsten und markigen Sätzen, die Nicole und besonders Pascal aufbauten, dessen strenger Pessimismus und schmerzliche Zerknirschung ihm zu Herzen gingen.

Diese wenigen Bücher ausgenommen, fing die französische Literatur in seiner Bibliothek erst mit dem neunzehnten Jahrhundert an.

Sie teilte sich in zwei Gruppen: die eine bestand aus der gewöhnlichen, profanen, die andre aus der Kirchenliteratur.

Aus der Menge seichter Schwätzer, die die Kirchenliteratur auf ihrem Gewissen hatte, ragte besonders Lacordaire hervor, einer der wenigen wirklichen Schriftsteller, den die Kirche seit Jahren hervorgebracht hatte.

Höchstens waren noch einige Seiten seines Schülers, des Abtes Peyreyve, lesbar. Dieser hatte eine rührende Biographie seines Lehrers hinterlassen, einige liebenswürdige Briefe geschrieben, Artikel in klangvoller Rednersprache verfaßt und Lobreden gehalten, in denen aber ein schwülstiger Ton zu sehr vorherrschte.

In Wahrheit aber hatte der Abt Peyreyve weder die Erregung noch die flammende Begeisterung eines Lacordaire.

Der im allgemeinen abgedroschne bischöfliche, von den Prälaten gehandhabte Stil war wieder etwas männlicher geworden. Das zeigte sich besonders bei dem Grafen de Falloux.

Unter dem Schein der Mäßigung schwitzte dieser Akademiker geradezu Galle. Seine im Parlament 1848 gehaltnen Reden waren dagegen weitschweifig und matt, aber seine in dem »Correspondent« veröffentlichten und seitdem in Sammlungen vereinigten Artikel waren beißend und scharf und von einer übertriebnen Höflichkeit in ihrer Form.

Er war ein gefährlicher Polemiker wegen seiner Hinterhalte, ein schlauer Logiker, der seitwärts ging und unvermutet traf.

Etwas geschraubter, gezwungner, ernster war Ozanam, der geliebte Schutzredner der Kirche, der Glaubensrichter der christlichen Sprache.

Obgleich Herzog Jean schwer zu überraschen war, war er dennoch erstaunt über die Dreistigkeit dieses Schriftstellers, der von den unerklärlichen Absichten Gottes redete, als ob er die Beweise der unwahrscheinlichen Behauptungen, die er vorbrachte, hätte beibringen können.

Ein Buch, das sein Interesse in hohem Grade zu erwecken vermocht hatte, war: »Der Mensch« von Ernest Hello.

Dieser war die absolute Antithese seiner religiösen Mitbrüder. Fast isoliert in der gottesfürchtigen Gruppe, die seine Art abschreckte, hatte Ernest Hello schließlich den großen Verbindungsweg, der von der Erde zum Himmel führt, verlassen. Ohne Zweifel angewidert von der langweiligen Einförmigkeit der Straße und von dem Gewühl dieser Schriftpilger, die im Gänsemarsch seit Jahrhunderten hintereinander dieselbe Chaussee gingen, indem einer in des andern Fußstapfen trat und an denselben Orten anhielt, um dieselben Gemeinplätze über die Religion, die Kirchenväter, über ihre gleichen Überzeugungen und ihre gleichen Meister auszutauschen, war er durch die Seitenpfade gegangen und war in der düstern Waldlichtung von Paschalis gemündet, wo er lange gehalten hatte, um Atem zu schöpfen.