Gebt mir den Canova! Der Apollo – auch er ist eine Kopie – da kann kein Zweifel sein – blinder Narr, der ich bin, dass ich die viel gerühmte Offenbarung in dem Apollo nicht finden kann! Ich kann mir nicht helfen – bedauert mich! – ich kann mir nicht helfen, ich muss dem Antinous den Vorzug geben. War es nicht Sokrates, der sagte, der Bildhauer habe sein Bildwerk schon im rohen Marmorblock erblickt? Dann wären also Michelangelos Zeilen keineswegs Original:

Non ha l’ottimo artista alcun concetto

Che un marmo solo in se non circonscriva.«

Es ist oft bemerkt worden – oder sollte es doch sein, dass das Gebaren eines Edelmenschen sich von dem der anderen gar sehr unterscheidet, ohne dass man doch genau feststellen könnte, worin der Unterschied besteht. Konnte ich diese Beobachtung im weitesten Maße auf meines Freundes äußeres Benehmen anwenden, so auch, wie ich an diesem ereignisreichen Morgen spürte, auf seine geistigen Eigenschaften. Auch kann ich die besondere Geistesart, die ihn so wesentlich über alle anderen Menschen hinaushob, nur als eine Gewohnheit zu eingehender, immerwährender Betrachtung kennzeichnen, die sein alltägliches Tun durchdrang, seine tändelnden Stunden belebte und selbst die Minuten der Heiterkeit durchwob – gleich den Nattern, die sich aus den Augenhöhlen der grinsenden Masken am Kranzgesims der Tempel von Persepolis herauswinden.

Ich konnte aber nicht umhin, aus der halb leichtfertigen, halb feierlichen Art, mit der er eigentlich unwichtige Dinge umständlich abhandelte, eine zitternde Angst oder besser eine nervöse Inbrunst herauszufühlen – eine Erregtheit im Tun und Reden, die mir unerklärlich schien und mich mehrfach stark beunruhigte. Öfter hielt er auch mitten in einem Satz inne, dessen Anfang er anscheinend vergessen, und lauschte andächtig vor sich hin, als erwarte er einen ersehnten Besuch oder horche auf Klänge, die allein in seiner Einbildung ertönen mochten.

Während einer seiner derartigen Träumereien blätterte ich in Polizians, des Dichters und Gelehrten, köstlicher Tragödie »Orpheus« – der ersten echt italienischen Tragödie –, die neben mir auf einer Ottomane lag. Gegen Ende des dritten Aktes fand ich eine mit Bleistift unterstrichene Stelle; es war eine Stelle voll herzbewegender Gewalt – eine Stelle so voll tiefer Wollust, dass kein Mann sie lesen konnte ohne einen Schauer unerhörter Erregung, kein Weib ohne einen Seufzer. Die ganze Seite war mit frischen Tränen getränkt, und auf dem daneben eingehefteten Blatt standen in englischer Sprache und in einer Handschrift, die von der charakteristischen Schrift meines Freundes so sehr abwich, dass ich sie nur mit einiger Mühe als die seinige erkennen konnte, folgende Verse:

Du warst für mich all dieses, Lieb,

Was Seele füllt und Sein,

Warst Inselgrün im Meere, Lieb,

Springbrunn und Altarstein

Voll Frucht- und Blumenwunder, Lieb,

Und all das Blühn war mein!

O Traum, dem Sterben kam!

O Sternenhoffen, dessen Licht

Sturmwolke mir benahm!

Ein Rufen aus der Zukunft spricht:

»Voran! Voran!« – Doch Gram

Um das, was war, nimmt Zuversicht,

Macht müd und flügellahm.

Denn weh! des Lebens warmer Glanz

Erstrahlt für mich nicht mehr!

Die Woge raunt im Brandungstanz

Zum Strand: nie mehr – nie mehr

Wird wundgeschossne Schwinge ganz,

Dürr bleibt der Baum und leer,

Dem jäh ein Blitz zerschlug den Kranz.

Und Tag ist Traum, der zu dir wacht,

Und Nacht ist Traum und leitet

Hin, wo dein dunkles Auge lacht

Und wo dein Fuß hinschreitet,

Der in ätherischen Tänzen sacht –

Auf welchen Sternen gleitet?

O schwarzer Tag – o Wogenbrand,

Der dich von mir gerissen.

Von Liebe fort zu greisem Stand

Auf ein unheilig Kissen,

Von Weiden fort am Nebelstrand,

Die um dich weinen müssen!

Dass diese Zeilen in Englisch geschrieben waren – in einer Sprache, mit der ich den Verfasser nicht vertraut geglaubt hätte –, setzte mich nicht wenig in Erstaunen. Ich wusste, dass er sehr umfangreiche Kenntnisse besaß und auch besondere Freude darin fand, sie anderen zu verbergen, so dass die Tatsache an sich mich nicht weiter überraschte. Das Datum aber, muss ich bekennen, verblüffte mir gar sehr. Das Ortsdatum lautete ursprünglich London, war aber später überkritzelt worden – jedoch nicht so, dass ein sorgfältig suchendes Auge nicht den ursprünglichen Ortsnamen hätte hindurchlesen können. Ich sage, das verblüffte mich gar sehr, denn ich entsann mich gut, dass ich in einer früheren Unterhaltung meinen Freund einmal gefragt hatte, ob er irgendwann einmal in London der Marchesa di Mentoni begegnet sei, die vor ihrer Verheiratung mehrere Jahre in jener Stadt lebte, und seine Antwort hatte, wenn ich mich nicht irre, mir zu verstehen gegeben, dass er die Hauptstadt Großbritanniens niemals besucht habe. Ich möchte hier aber auch erwähnen, dass ich mehr als einmal hörte (ohne natürlich solchen unwahrscheinlichen Gerüchten Glauben zu schenken), der Mann, von dem ich spreche, sei nicht nur der Geburt, sondern auch der Erziehung nach ein Engländer.

»Da ist ein Gemälde«, sagte er, ohne gewahr zu werden, dass ich in der Tragödie blätterte, »da ist noch ein Gemälde, das Sie noch nicht gesehen haben.« Und den Vorhang beiseite schleudernd, enthüllte er das lebensgroße Porträt der Marchesa Aphrodite.

Menschenkunst konnte nicht mehr in der Schilderung übermenschlicher Schönheit tun! Dieselbe himmlische Gestalt, die in der vergangenen Nacht auf den Stufen des Dogenpalastes vor mir gestanden, stand noch einmal vor mir. Doch im Ausdruck des Gesichts, das über und über in Lächeln erstrahlte, lauerte schon (unbegreiflicher Widerspruch!) jener kleidsame Schatten der Melancholie, der von vollendeter Schönheit stets untrennbar ist. Ihr rechter Arm lag über der Brust, der linke hing herab auf eine eigentümlich geformte Urne. Der eine schmale Elfenfuß, der sichtbar war, berührte nackt den Boden; und kaum erkennbar in der leuchtenden Luft, die ihre Lieblichkeit umwob, breiteten sich ein paar hauchzarte Schwingen. Mein Blick schweifte von dem Gemälde hin zu meinem Freund, und unwillkürlich kamen mir die monumentalen Worte aus Chapmans »Bussy d’Ambois« auf die Lippen:

»Da droben steht er wie ein römisch Standbild –

Und wird dort stehn, bis Tod ihn marmorn macht.«

»Kommen Sie«, sagte er endlich und trat an einen kostbaren emaillierten Tisch aus massivem Silber, auf dem ein paar Trinkbecher von seltsamer Farbe neben zwei hohen etruskischen Vasen standen, die dieselbe eigenartige Form hatten wie jene im Vordergrund des Porträts – und, wie ich annahm, mit Johannisberger gefüllt waren. »Kommen Sie«, sagte er herb, »lassen Sie uns trinken! Es ist früh – doch lassen Sie uns trinken! – Es ist tatsächlich früh«, fuhr er versonnen fort, als ein Engel mit schwerem goldenen Hammer dröhnend die erste Stunde nach Sonnenaufgang kündete. »Es ist tatsächlich früh – doch was tut’s? Trinken wir! Bringen wir der großen feierlichen Sonne, die diese bunten Lampen und Räucherbecken so gerne überstrahlen möchte, ein Opfer dar!« Und als er mit mir angestoßen hatte, goss er rasch mehrere Becher Wein hinunter.

»Träumen«, fuhr er im leichtfertigen Ton oberflächlicher Unterhaltung fort, während er eine der herrlichen Vasen ins helle Licht der Flammenbecken hob, »träumen war die Beschäftigung meines Lebens. So habe ich mir, wie Sie sehen, diesen Traumpalast errichtet. Hier im Herzen Venedigs! – Hätte ich es besser machen können? Es ist wahr. Sie sehen da um sich her ein großes Stildurcheinander. Die Keuschheit Ioniens wird durch vorsintflutliche Sinnbilder beleidigt, und Ägyptens Sphinxe dehnen sich auf goldenen Teppichen. Dennoch können nur Einfältige eine solche Zusammenstellung unangebracht finden. Einheitlichkeit in Ort und vor allem in Zeit, das sind die Popanze, die die Menschen von der Ansammlung des Schönen zurückschrecken. Einst war auch ich ein Freund der ›Symmetrie‹, des ›Dekorativen‹; aber jene verrückte Einseitigkeit erstickte meine Seele. All dieses hier eignet sich besser für meine Zwecke. Gleich den Arabesken an diesen Räucherbecken windet sich meine Seele in Feuer, und die Trunkenheit der ganzen Szenerie macht mich reif für die wilderen Visionen jenes Landes der wahren Träume, in das ich jetzt enteile.« Hier hielt er plötzlich inne, neigte das Haupt auf die Brust und schien auf einen Ton zu lauschen, den ich nicht hören konnte. Dann stand er auf, reckte seine Gestalt und rief mit Blicken, die in Fernen schauten, die Worte des Bischofs von Chichester:

»Erwarte mich, ich werde zu dir finden

Auch in des Schattentales finstern Gründen.«

Im nächsten Augenblick warf er sich, anscheinend vom Wein überwältigt, der Länge nach auf eine Ottomane.

Jetzt hörte man von der Treppe her hastige Schritte und gleich darauf ein lautes Klopfen an der Tür. Ich eilte hinzu, weil ich einen Störenfried befürchtete, als ein Page aus Mentonis Haus ins Zimmer stürzte und mit schluchzender Stimme in die Worte ausbrach: »Meine Herrin! – Meine Herrin! – Vergiftet! – Vergiftet! O schöne – o schöne Aphrodite!«

Bestürzt flog ich zur Ottomane und versuchte den Schläfer zum Verstehen dieser Schreckensnachricht zu bringen. Aber seine Glieder waren steif – seine Lippen totenbleich – seine soeben noch strahlenden Augen im Tode erstarrt.