Unter allen Anwesenden aber herrschte die gleiche Befriedigung, und der alte Zernitz flüsterte: »Hör, Emrentz, der versteht's. Ich glaube jetzt, daß er vor Kaiser und Reich gespielt hat.«
Und das Spiel nahm seinen Fortgang.
Inzwischen, es hatte zu dunkeln begonnen, waren die Mindes in dem rechts neben der Flurtür gelegenen Unterzimmer versammelt und nahmen an einem Tische, der nur zur Hälfte gedeckt war, ihre Abendmahlzeit ein. Der alte Jacob Minde hatte den Platz an der einen Schmalseite des Tisches, während Trud und Gerdt, seine Schwieger und sein Sohn, an den Längsseiten einander gegenübersaßen, Trud steif und aufrecht, Gerdt bequem und nachlässig in Kleidung und Haltung. In allem der Gegenpart seines Weibes; auch seines Vaters, der trotz eines Zehrfiebers, an dem er litt, aus einem starken Gefühle dessen, was sich für ihn zieme, die Schwäche seines Körpers und seiner Jahre bezwang.
Es schien, daß Trud ihre schon vormittags gegen Emrentz gemachten Bemerkungen über das Puppenspiel eben wiederholt hatte, denn Jacob Minde, während er einzelne von den großen Himbeeren nahm, die, wie er es liebte, mit den Stielchen abgepflückt worden waren, sagte: »Du bist zu streng, Trud, und du bist es, weil du nur unser tangermündisch Tun und Lassen kennst. Und in Alt-Gardelegen ist es nicht anders. Aber draußen in der Welt, in den großen Ländern und Städten, da wagt sich die Kunst an alles Höchste und Heiligste, und sie haben fromme und berühmte Meister, die nie andres gedacht und gedichtet und gemalt und gemeißelt haben als die Glorie des Himmels und die Schrecknisse der Hölle.«
»Ich weiß davon, Vater«, sagte Trud ablehnend. »Ich habe solche Bilder in unsrer Gardelegner Kirche gesehn, aber ein Bild ist etwas andres als eine Puppe.«
»Bild oder Puppe«, lächelte der Alte. »Sie wollen dasselbe, und das macht sie gleich.«
»Und doch, Vater, mein ich, ist ein Unterschied, ob ein frommer und berühmter Meister, wie du sagst, eine Schilderei malt zur Ehre Gottes oder ob ein unchristlicher Mann, mit einem Türkenweib und einem Pickelhering, Gewinnes halber über Land zieht und mit seinem Spiel die Schenken füllt und die Kirchen leert.«
»Ah, kommt es daher?« lachte Gerdt und streckte sich noch bequemer in seinem Stuhl. »Daher also. Warst heut in der Pfarr, und da haben wir nun den Pfarrwind. Ja, das ist Gigas: er bangt um sich und seine Kanzel. Und nun gar das Jüngste Gericht! Das ist ja sein eigener Acker, den er am besten selber pflügt. So wenigstens glaubt er. Weiß es Gott, ich hab ihn nie sprechen hören, auch nicht bei Hochzeit und Kindelbier, ohne daß ein höllisch Feuer aus irgendeinem Ritz oder Ritzchen aufgeschlagen wär. Und nun kommt dieser Puppenspieler und tut's ihm zuvor und brennt uns ein wirklich Feuerwerk...«
Er konnte seinen Satz nicht enden, denn in eben diesem Augenblicke hörten sie, vom Marktplatze her, einen dumpfen Knall, der so heftig war, daß alles Gerät im Zimmer in ein Klirren und Zittern kam; und eh sie noch einander fragen konnten, was es sei, wiederholten sich die Schläge, dreimal, viermal, aber schwächer. Trud erhob sich, um auf die Straße zu sehn, und ein dicker Qualm, der sich in Höhe der gegenübergelegenen Häuser hinzog, ließ keinen Zweifel, daß bei den Puppenspielern ein Unglück geschehen sein müsse. Flüchtig Vorübereilende bestätigten es, und Trud, indem sie sich ins Zimmer zurückwandte, sagte triumphierend: »Ich wußt es: Gott läßt sich nicht spotten.« Auf Gerdts blassem und gedunsenem Gesicht aber wechselten Furcht und Verlegenheit, wodurch es nicht gewann, während der alte Minde sein Käppsel abnahm und mit halblauter Stimme die Barmherzigkeit Gottes und den Beistand aller Heiligen anrief. Denn er war noch aus den katholischen Zeiten her. In einem Anfluge von Teilnahme war Trud, die sonst gern ihre herbe Seite herauskehrte, an den Alten herangetreten und hatte ihre Hand auf die Rückenlehne seines Stuhls gelegt, als sie aber den Namen Gretens zum dritten Mal aus seinem Munde hörte, wandte sie sich wieder ab und schritt unruhig und übellaunig im Zimmer auf und nieder. Man sah, daß sie fremd in diesem Hause war und keine Gemeinschaft mit den Mindes hatte.
Sie war eben wieder ans Fenster getreten und sah nach dem Marktplatze hin, als sie plötzlich, inmitten einer Gruppe, Greten selbst erkannte, die, mit einem Stücke Zeug unter dem Kopf, auf einer Bahre herangetragen wurde. War sie tot? Es war oft ihr Wunsch gewesen; aber dieser Anblick erschütterte sie doch. »Gott, Grete!« rief sie und sank in einen Stuhl.
Die Träger hatten mittlerweile die Bahre niedergesetzt und trugen das schöne Kind, dessen Arme schlaff herabhingen, von der Straße her ins Zimmer. »Hier«, sagte Gerdt, als er die Leute verlegen und unschlüssig dastehen sah, und wies auf eine mit Kissen überdeckte Truhe. Und auf eben diese legten sie jetzt die scheinbar Leblose nieder. Mit ihnen war auch die alte Regine, die Pflegerin Gretens, jammernd und weinend eingetreten und beruhigte sich erst, als nach Besprengen mit frischem Wasser ihr Liebling die Augen wieder aufschlug.
»Wo bin ich?« fragte Grete. »Ach... nicht in der Hölle!«
»Gott, mein süß Gretel«, zitterte Regine hin und her. »Was sprichst du nur? Du bist ja ein gutes und liebes Kind. Und ein gutes und liebes Kind, das kommt in den Himmel. Aber das ist auch noch nicht, noch lange nicht.
1 comment