Er fuhr fort:
»Ich habe überhaupt eine Veränderung an dir bemerkt, Peter. Während du
früher oftmals die ganze Woche, ja mehrere Wochen hintereinander in
der Schule gefehlt hast, so bist du in der letzten Zeit nicht einen
Tag ausgeblieben. Woher kann eine solche Umwandlung zum Guten in dich
gekommen sein?«
»Vom Öhi«, war die Antwort.
Mit immer größerem Erstaunen blickte der Lehrer vom Peter auf das
Heidi und von diesem wieder auf den Peter zurück.
»Wir wollen es noch einmal versuchen«, sagte er dann behutsam, und
noch einmal mußte der Peter an drei Linien seine Kenntnisse erproben.
Es war richtig, er hatte lesen gelernt.
Sobald die Schule zu Ende war, eilte der Lehrer zum Herrn Pfarrer
hinüber, um ihm mitzuteilen, was vorgefallen war und in welcher
erfreulichen Weise der Öhi und das Heidi in der Gemeinde wirkten.
Jeden Abend las jetzt der Peter daheim ein Lied vor. So weit gehorchte
er dem Heidi, weiter aber nicht, ein zweites unternahm er nie; die
Großmutter forderte ihn aber auch nie dazu auf.
Die Mutter Brigitte mußte sich noch täglich verwundern, daß der Peter
dieses Ziel erreicht hatte, und an manchen Abenden, wenn die Vorlesung
vorbei war und der Vorleser in seinem Bett lag, mußte sie wieder zur
Großmutter sagen:
»Man kann sich doch nicht genug freuen, daß der Peterli das Lesen so
schön erlernt hat. Jetzt kann man gar nicht wissen, was noch aus ihm
werden kann.«
Da antwortete einmal die Großmutter:
»Ja, es ist so gut für ihn, daß er etwas gelernt hat; aber ich will
doch herzlich froh sein, wenn der liebe Gott nun bald den Frühling
schickt, daß das Heidi auch wieder heraufkommen kann. Es ist doch, wie
wenn es ganz andere Lieder läse. Es fehlt so manchmal etwas in den
Versen, wenn sie der Peter liest, und ich muß es dann suchen, und dann
komme ich nicht mehr nach mit den Gedanken, und der Eindruck kommt mir
nicht ins Herz, wie wenn mir das Heidi die Worte liest.«
Das kam aber daher, weil der Peter sich beim Lesen ein wenig
einrichtete, daß er's nicht zu unbequem hatte. Wenn ein Wort kam, das
gar zu lang war oder sonst schlimm aussah, so ließ er es lieber ganz
aus, denn er dachte, um drei oder vier Worte in einem Verse werde es
der Großmutter wohl gleich sein, es kommen ja dann noch viele. So kam
es, daß es fast keine Hauptwörter mehr hatte in den Liedern, die der
Peter vorlas.
Die fernen Freunde regen sich
Der Mai war gekommen. Von allen Höhen strömten die vollen
Frühlingsbäche ins Tal herab. Ein warmer, lichter Sonnenschein lag
auf der Alp. Sie war wieder grün geworden; der letzte Schnee war
weggeschmolzen, und von den lockenden Sonnenstrahlen geweckt, guckten
schon die ersten Blümchen mit ihren hellen Augen aus dem frischen
Grase heraus. Droben rauschte der fröhliche Frühlingswind durch die
Tannen und schüttelte ihnen die alten, dunkeln Nadeln fort, daß die
jungen, hellgrünen herauskommen und die Bäume herrlich schmücken
konnten. Hoch oben schwang wieder der alte Raubvogel seine Flügel
in den blauen Lüften, und rings um die Almhütte lag der goldene
Sonnenschein warm am Boden und trocknete die letzten feuchten Stellen
auf, daß man wieder hinsetzen konnte, wo man nur wollte.
Das Heidi war wieder auf der Alp. Es sprang dahin und dorthin und
wußte gar nicht, wo es am schönsten war. Jetzt mußte es dem Winde
lauschen, wie er tief und geheimnisvoll oben von den Felsen
heruntersauste, immer näher und immer mächtiger, und jetzt schoß er in
die Tannen und rüttelte und schüttelte sie, und es war, als jauchze er
vor Vergnügen, und das Heidi mußte auch aufjauchzen und wurde dabei
hin und her geblasen wie ein Blättlein. Dann lief es wieder auf das
sonnige Plätzchen vor der Hütte und setzte sich auf den Boden und
guckte in das kurze Gras hinein, zu entdecken, wie viele kleine
Blumenkelche sich öffnen wollten oder schon offen waren. Da hüpften
und krochen und tanzten auch so viele lustige Mücken und Käferchen in
der Sonne herum und freuten sich, und das Heidi freute sich mit ihnen
und sog den Frühlingsduft, der aus dem frisch erschlossenen Boden
emporstieg, in langen Zügen ein und meinte, so schön sei es noch nie
auf der Alp gewesen. Den tausend kleinen Tierlein mußte es so wohl
sein wie ihm, denn es war gerade, als summten und sängen sie in heller
Freude alle durcheinander:
»Auf der Alp! Auf der Alp! Auf der Alp!«
Vom Schopf hinter der Hütte hervor ertönte es hie und da wie ein
eifriges Klopfen und Sägen, und das Heidi lauschte auch einmal
dorthin, denn das waren die alten, heimatlichen Töne, die es so gut
kannte, die von Anfang an zum Leben auf der Alp gehört hatten. Jetzt
mußte es aufspringen und auch einmal dorthin rennen, denn es mußte
doch wissen, was beim Großvater vorging. Vor der Schopftür stand schon
fix und fertig ein schöner neuer Stuhl, und am zweiten arbeitete der
Großvater mit geschickter Hand.
»Oh, ich weiß schon, was das gibt«, rief das Heidi in Freuden aus.
»Das ist nötig, wenn sie von Frankfurt kommen. Der ist für die
Großmama und der, den du jetzt machst, für die Klara, und dann… dann
muß noch einer sein«, fuhr das Heidi zögernd fort, »oder glaubst du
nicht, Großvater, daß Fräulein Rottenmeier auch mitkommt?«
»Das kann ich nun nicht sagen«, meinte der Großvater, »aber es ist
sicherer, einen Stuhl bereit zu haben, daß wir sie zum Sitzen einladen
können, wenn sie kommt.«
Das Heidi schaute nachdenklich auf die hölzernen Stühlchen ohne
Lehne hin und machte still seine Betrachtungen darüber, wie Fräulein
Rottenmeier und ein solches Stühlchen zusammenpassen würden. Nach
einer Weile sagte es, bedenklich den Kopf schüttelnd:
»Großvater, ich glaube nicht, daß sie darauf sitzt.«
»Dann laden wir sie auf das Kanapee mit dem schönen grünen
Rasenüberzug ein«, entgegnete ruhig der Großvater.
Als das Heidi noch nachsann, wo das schöne Kanapee mit dem grünen
Rasenüberzug sei, erscholl plötzlich von oben her ein Pfeifen und
Rufen und Rutenschwingen durch die Luft, daß das Heidi sofort
wußte, woran es war. Es schoß hinaus und war augenblicklich von den
herabspringenden Geißen umringt. Denen mußte es wohl sein, wie es
dem Heidi war, wieder auf der Alp zu sein, denn sie machten so hohe
Sprünge und meckerten so lebenslustig wie noch nie, und das Heidi
wurde dahin und dorthin gedrängt, denn jede wollte ihm zunächst kommen
und ihre Freude bei ihm auslassen. Aber der Peter stieß sie alle
weg, eine rechts und die andere links, denn er hatte dem Heidi eine
Botschaft zu überbringen. Als er zu ihm vorgedrungen war, hielt er ihm
einen Brief entgegen.
»Da!« sagte er, die weitere Erklärung der Sache dem Heidi selbst
überlassend. Es war sehr erstaunt.
»Hast du denn auf der Weide einen Brief für mich bekommen?« fragte es
voller Verwunderung.
»Nein«, war die Antwort.
»Ja, wo hast du ihn denn genommen, Peter?«
»Aus dem Brotsack.«
Das war richtig. Gestern abend hatte der Postbeamte im Dörfli ihm den
Brief an das Heidi mitgegeben. Den hatte der Peter in den leeren Sack
gelegt.
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