"Es klettert die
Abhänge hinauf mit dem Geißenpeter und seinen Geißen. Warum der
heut so spät hinauffährt mit seinen Tieren? Es ist aber gerad
recht, er kann nun zu dem Kinde sehen, und du kannst mir umso
besser erzählen."
"Mit dem Nach-ihm-Sehen muss sich der Peter nicht anstrengen",
bemerkte die Dete; "es ist nicht dumm für seine fünf Jahre, es tut
seine Augen auf und sieht, was vorgeht, das hab ich schon bemerkt
an ihm, und es wird ihm einmal zugut kommen, denn der Alte hat gar
nichts mehr als seine zwei Geißen und die Almhütte."
"Hat er denn einmal mehr gehabt?", fragte die Barbel.
"Der? Ja, das denk ich, dass er einmal mehr gehabt hat",
entgegnete eifrig die Dete; "eins der schönsten Bauerngüter im
Domleschg hat er gehabt. Er war der ältere Sohn und hatte nur noch
einen Bruder, der war still und ordentlich. Aber der Ältere wollte
nichts tun, als den Herrn spielen und im Lande herumfahren und mit
bösem Volk zu tun haben, das niemand kannte. Den ganzen Hof hat er
verspielt und verzecht, und wie es herauskam, da sind sein Vater
und seine Mutter hintereinander gestorben vor lauter Gram, und der
Bruder, der nun auch am Bettelstab war, ist vor Verdruss in die
Welt hinaus, es weiß kein Mensch wohin, und der Öhi selber, als er
nichts mehr hatte als einen bösen Namen, ist auch verschwunden.
Erst wusste niemand wohin, dann vernahm man, er sei unter das
Militär gegangen nach Neapel, und dann hörte man nichts mehr von
ihm zwölf oder fünfzehn Jahre lang. Dann auf einmal erschien er
wieder im Domleschg mit einem halb erwachsenen Buben und wollte
diesen in der Verwandtschaft unterzubringen suchen. Aber es
schlossen sich alle Türen vor ihm, und keiner wollte mehr etwas von
ihm wissen. Das erbitterte ihn sehr; er sagte, ins Domleschg setze
er keinen Fuß mehr, und dann kam er hierher ins Dörfli und lebte da
mit dem Buben. Die Frau muss eine Bündnerin gewesen sein, die er
dort unten getroffen und dann bald wieder verloren hatte. Er
musste noch etwas Geld haben, denn er ließ den Buben, den Tobias,
ein Handwerk erlernen, Zimmermann, und der war ein ordentlicher
Mensch und wohlgelitten bei allen Leuten im Dörfli. Aber dem Alten
traute keiner, man sagte auch, er sei von Neapel desertiert, es
wäre ihm sonst schlimm gegangen, denn er habe einen erschlagen,
natürlich nicht im Krieg, verstehst du, sondern beim Raufhandel.
Wir anerkannten aber die Verwandtschaft, da meiner Mutter
Großmutter mit seiner Großmutter Geschwisterkind gewesen war. So
nannten wir ihn Öhi, und da wir fast mit allen Leuten im Dörfli
wieder verwandt sind vom Vater her, so nannten ihn diese alle auch
Öhi, und seit er dann auf die Alm hinaufgezogen war, hieß er eben
nur noch der 'Alm-Öhi'."
"Aber wie ist es dann mit dem Tobias gegangen?", fragte gespannt
die Barbel.
"Wart nur, das kommt schon, ich kann nicht alles auf einmal sagen",
erklärte Dete. "Also der Tobias war in der Lehre draußen in Mels,
und sowie er fertig war, kam er heim ins Dörfli und nahm meine
Schwester zur Frau, die Adelheid, denn sie hatten sich schon immer
gern gehabt, und auch wie sie nun verheiratet waren, konnten sie's
sehr gut zusammen. Aber es ging nicht lange. Schon zwei Jahre
nachher, wie er an einem Hausbau mithalf, fiel ein Balken auf ihn
herunter und schlug ihn tot. Und wie man den Mann so entstellt
nach Hause brachte, da fiel die Adelheid vor Schrecken und Leid in
ein heftiges Fieber und konnte sich nicht mehr erholen, sie war
sonst nicht sehr kräftig und hatte manchmal so eigene Zustände
gehabt, dass man nicht recht wusste, schlief sie oder war sie wach.
Nur ein paar Wochen, nachdem der Tobias tot war, begrub man auch
die Adelheid. Da sprachen alle Leute weit und breit von dem
traurigen Schicksal der beiden, und leise und laut sagten sie, das
sei die Strafe, die der Öhi verdient habe für sein gottloses Leben,
und ihm selbst wurde es gesagt und auch der Herr Pfarrer redete ihm
ins Gewissen, er sollte doch jetzt Buße tun, aber er wurde nur
immer grimmiger und verstockter und redete mit niemandem mehr, es
ging ihm auch jeder aus dem Wege. Auf einmal hieß es, der Öhi sei
auf die Alm hinaufgezogen und komme gar nicht mehr herunter, und
seither ist er dort und lebt mit Gott und Menschen im Unfrieden.
Das kleine Kind der Adelheid nahmen wir zu uns, die Mutter und ich;
es war ein Jahr alt. Wie nun im letzten Sommer die Mutter starb
und ich im Bad drunten etwas verdienen wollte, nahm ich es mit und
gab es der alten Ursel oben im Pfäfferserdorf in die Kost. Ich
konnte auch im Winter im Bad bleiben, es gab allerhand Arbeit, weil
ich zu nähen und flicken verstehe, und früh im Frühling kam die
Herrschaft aus Frankfurt wieder, die ich voriges Jahr bedient hatte
und die mich mitnehmen will; übermorgen reisen wir ab, und der
Dienst ist gut, das kann ich dir sagen."
"Und dem Alten da droben willst du nun das Kind übergeben? Es
nimmt mich nur wunder, was du denkst, Dete", sagte die Barbel
vorwurfsvoll.
"Was meinst du denn?", gab Dete zurück. "Ich habe das Meinige an
dem Kinde getan, und was sollte ich denn mit ihm machen? Ich denke,
ich kann eines, das erst fünf Jahre alt wird, nicht mit nach
Frankfurt nehmen. Aber wohin gehst du eigentlich, Barbel, wir sind
ja schon halbwegs auf der Alm?"
"Ich bin auch gleich da, wo ich hinmuss", entgegnete die Barbel;
"ich habe mit der Geißenpeterin zu reden, sie spinnt mir im Winter.
So leb wohl, Dete, mit Glück!"
Dete reichte der Begleiterin die Hand und blieb stehen, während
diese der kleinen, dunkelbraunen Almhütte zuging, die einige
Schritte seitwärts vom Pfad in einer Mulde stand, wo sie vor dem
Bergwind ziemlich geschützt war. Die Hütte stand auf der halben
Höhe der Alm, vom Dörfli aus gerechnet, und dass sie in einer
kleinen Vertiefung des Berges stand, war gut, denn sie sah so
baufällig und verfallen aus, dass es auch so noch ein gefährliches
Darinwohnen sein musste, wenn der Föhnwind so mächtig über die
Berge strich, dass alles an der Hütte klapperte, Türen und Fenster,
und alle die morschen Balken zitterten und krachten. Hätte die
Hütte an solchen Tagen oben auf der Alm gestanden, sie wäre
unverzüglich ins Tal hinabgeweht worden.
Hier wohnte der Geißenpeter, der elfjährige Bube, der jeden Morgen
unten im Dörfli die Geißen holte, um sie hoch auf die Alm
hinaufzutreiben, um sie da die kurzen kräftigen Kräuter fressen zu
lassen bis zum Abend; dann sprang der Peter mit den leichtfüßigen
Tierchen wieder herunter, tat, im Dörfli angekommen, einen
schrillen Pfiff durch die Finger, und jeder Besitzer holte seine
Geiß auf dem Platz. Meistens kamen kleine Buben und Mädchen, denn
die friedlichen Geißen waren nicht zu fürchten, und das war denn
den ganzen Sommer durch die einzige Zeit am Tage, da der Peter mit
seinesgleichen verkehrte; sonst lebte er nur mit den Geißen. Er
hatte zwar daheim seine Mutter und die blinde Großmutter; aber da
er immer am Morgen sehr früh fortmusste und am Abend vom Dörfli
spät heimkam, weil er sich da noch so lange als möglich mit den
Kindern unterhalten musste, so verbrachte er daheim nur gerade so
viel Zeit, um am Morgen seine Milch und Brot und am Abend
ebendasselbe hinunterzuschlucken und dann sich aufs Ohr zu legen
und zu schlafen. Sein Vater, der auch schon der Geißenpeter
genannt worden war, weil er in früheren Jahren in demselben Berufe
gestanden hatte, war vor einigen Jahren beim Holzfällen verunglückt.
Seine Mutter, die zwar Brigitte hieß, wurde von jedermann um des
Zusammenhangs willen die Geißenpeterin genannt, und die blinde
Großmutter kannten weit und breit Alt und Jung nur unter dem Namen
Großmutter.
Die Dete hatte wohl zehn Minuten gewartet und sich nach allen
Seiten umgesehen, ob die Kinder mit den Geißen noch nirgends zu
sehen seien; als dies aber nicht der Fall war, so stieg sie noch
ein wenig höher, wo sie besser die ganze Alm bis hinunter übersehen
konnte, und guckte nun von hier aus bald dahin, bald dorthin mit
Zeichen großer Ungeduld auf dem Gesicht und in den Bewegungen.
Unterdessen rückten die Kinder auf einem großen Umwege heran, denn
der Peter wusste viele Stellen, wo allerhand Gutes an Sträuchern
und Gebüschen für seine Geißen zu nagen war; darum machte er mit
seiner Herde vielerlei Wendungen auf dem Wege. Erst war das Kind
mühsam nachgeklettert, in seiner schweren Rüstung vor Hitze und
Unbequemlichkeit keuchend und alle Kräfte anstrengend. Es sagte
kein Wort, blickte aber unverwandt bald auf den Peter, der mit
seinen nackten Füßen und leichten Höschen ohne alle Mühe hin und
her sprang, bald auf die Geißen, die mit den dünnen, schlanken
Beinchen noch leichter über Busch und Stein und steile Abhänge
hinaufkletterten. Auf einmal setzte das Kind sich auf den Boden
nieder, zog mit großer Schnelligkeit Schuhe und Strümpfe aus, stand
wieder auf, zog sein rotes, dickes Halstuch weg, machte sein
Röckchen auf, zog es schnell aus und hatte gleich noch eins
auszuhäkeln, denn die Base Dete hatte ihm das Sonntagskleidchen
über das Alltagszeug angezogen, um der Kürze willen, damit niemand
es tragen müsse.
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