So war es eine rechte Wohltat für die Frau,
daß sie einmal hinausgehen konnte.
Unterdessen verstanden sich die beiden vortrefflich. Auf Silvios
Fragen konnte Rico ganz gut antworten; auch geriet es ihm, sich
verständlich zu machen, wo er nicht gleich das rechte Wort
wußte. Die Unterhaltung war dem Silvio sehr kurzweilig. Die
Mutter hatte Muße, die Blumenbeete, die Weinreben, die
schönen Feigenbäume im Acker und ringsum alles anzusehen,
ohne daß Silvio ein einziges Mal gerufen hätte.
Aber als sie nun hereinkam und es bald zu dämmern anfing
und Rico aufstand, um fortzugehen, schlug Silvio großen
Lärm und hielt Rico mit beiden Händen fest. Er wollte ihn
nicht loslassen, wenn er nicht gleich verspreche, er komme morgen
und alle Tage wieder. Aber Frau Menotti war eine vorsichtige Frau;
sie hatte den Bericht der Wirtin auch ziemlich verstanden und
beschwichtigte nun den Silvia. Sie versprach ihm, gleich in den
ersten Tagen zu der Wirtin zu gehen und mit ihr zu sprechen; Rico
könne von sich aus nichts versprechen, er müsse folgsam
sein.
Endlich ließ der Kleine seinen neuen Freund los und gab
ihm die Hand. Dieser ging ungern aus der Stube weg. Er wäre
lieber dageblieben, wo es so still war, wo alles gut aussah und
Silvio und die Mutter so freundlich zu ihm waren.
Es vergingen wenige Tage, da trat eines Abends Frau Menotti
wohlgekleidet in die »Goldene Sonne« ein. Die Wirtin
lief ihr entgegen und führte sie in den oberen Saal. Frau
Menotti fragte höflich, ob es der Frau Wirtin nicht ungelegen
wäre, ihr für ein paar Abende in der Woche den Rico zu
überlassen; er unterhalte ihr das kranke Büblein so gut,
und sie wollte gern dafür in jeder gewünschten Weise
erkenntlich sein.
Es schmeichelte der Wirtin, daß die wohlangesehene Frau
Menotti sie um eine Gefälligkeit bitten kam, und es wurde
gleich festgesetzt, daß Rico an jedem freien Abend kommen
würde. Frau Menotti übernahm dagegen, für Ricos
Bekleidung zu sorgen, so daß die Wirtin mit dieser Regelung
überaus zufrieden war; denn nun hatte sie keinen Heller
für den Knaben auszugeben und den reinen Gewinn von ihm. Die
Frauen schieden in der größten Zufriedenheit
voneinander.
So vergingen für Rico die Tage. In kurzer Zeit sprach er so
geläufig italienisch, als hätte er es immer gekonnt. Vor
Jahren hatte er es auch einmal gekonnt. Ein Wort nach dem andern
fiel ihm ohne Mühe wieder ein; und er hatte ein gutes Ohr und
sprach wie ein ansässiger Italiener, so daß sich alle
Leute darüber verwundern mußten. Die Wirtin konnte ihn
so gut gebrauchen, wie sie nicht einmal erwartet hatte; denn seine
Aufgaben erfüllte er so sauber und ordentlich, wie sie selbst
es nicht besser tun konnte. Ja, er hatte mehr Geduld als sie, und
wenn etwas zu einem Fest hergerichtet werden mußte, etwa zu
einer Hochzeit, so mußte es Rico tun, denn er wußte ja
auch, was schön war. Wenn er seine Aufträge erledigte,
war er wieder zurück, ehe die Wirtin nur denken konnte, er sei
am Ort angekommen. Er brauchte keine Zeit zur Unterhaltung. Wenn
ihn jemand aus-fragen wollte, kehrte er auf der Stelle um und ging
davon. Das gefiel der Wirtin besonders, als sie es merkte, und es
flößte ihr eine solche Achtung vor dem Jungen ein,
daß sie ihn selbst nicht nach seinem Herkommen ausfragte.
So kam es, daß eigentlich niemand wußte, wie er nach
Peschiera gekommen war. Es hatte sich eine Geschichte verbreitet,
die nahm jedermann an und glaubte, er sei als ein verlassenes
Waisenkind da droben in den Bergen schlecht gehalten und bös
behandelt worden. Er sei entlaufen und habe viele Gefahren
bestanden auf der langen Reise und sei endlich hier angekommen, wo
die Leute nicht so roh seien wie in den Bergen, und hier sei er
gern. Und wenn die Wirtin die Geschichte erzählte, so
ermangelte sie nicht, hinzuzusetzen: er verdiene auch, daß es
ihm so gut ergangen sei und er den Schutz unter ihrem Dach gefun
den habe.
Als der erste Tanzsonntag kam, da versammelten sich in der
»Goldenen Sonne« so erstaunlich viele Leute, daß
man nicht wußte, wo sie alle untergebracht werden
könnten. Jeder wollte den kleinen fremden Musikanten sehen und
hören, und diejenigen, die ihn am ersten Abend schon
gehört hatten, kamen zuallererst und wollten mit ihrem Lied
beginnen.
Die Wirtin lief hin und her im Feuer der Arbeit und
glänzte, als wäre sie selbst zur »Goldenen
Sonne« geworden, und wenn sie auf ihren Mann traf, sagte sie
jedesmal triumphierend: »Hab ich's nicht gesagt?«
Rico hörte erst einem Tanz zu, der von drei Geigern
gespielt wurde. Die Melodien fielen ihm so ins Ohr und in die
Finger, daß er gleich nachher mitspielen konnte, und nun
wußte er den Tanz für immer. So kam es, daß er am
späten Abend, als man zu tanzen aufhörte, alle Tänze
mitspielen konnte; denn man hatte sie öfter durchgenommen.
Am Ende mußte auch noch das Peschiera-Lied gesungen
werden, von Rico begleitet. War schon den ganzen Abend ein
Lärm gewesen, so kamen nun die Gemüter erst recht ins
Feuer, und es ging zu, daß Rico ein paarmal dachte: jetzt
fahren sie aufeinander los und schlagen sich tot. Aber es war alles
in Freundschaft gemeint.
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