Lang, grausam und ohne Schlaf waren Deborahs Nächte. Eine Wand aus kaltem Glas trennte sie von ihrem Mann. Ihre Brüste welkten, ihr Leib schwoll an wie ein Hohn auf ihre Unfruchtbarkeit, ihre Schenkel wurden schwer, und Blei hing an ihren Füßen.
Eines Morgens im Sommer erwachte sie früher als Mendel. Ein zwitschernder Sperling am Fensterbrett hatte sie geweckt. Noch lag ihr sein Pfiff im Ohr, Erinnerung an Geträumtes, Glückliches, wie die Stimme eines Sonnenstrahls. Die frühe, warme Dämmerung durchdrang die Poren und Ritzen der hölzernen Fensterläden, und obwohl die Kanten der Möbel noch im Schatten der Nacht verrannen, war Deborahs Auge schon klar, ihr Gedanke hart, ihr Herz kühl. Sie warf einen Blick auf den schlafenden Mann und entdeckte die ersten weißen Haare in seinem schwarzen Bart. Er räusperte sich im Schlaf. Er schnarchte. Schnell sprang sie vor den blinden Spiegel. Sie fuhr mit kalten, strählenden Fingerspitzen durch ihren schütteren Scheitel, zog eine Strähne nach der andern vor die Stirn und suchte nach weißen Haaren. Sie glaubte, ein einziges gefunden zu haben, ergriff es mit einer harten Zange aus zwei Fingern und riß es aus. Dann öffnete sie ihr Hemd vor dem Spiegel. Sie sah ihre schlaffen Brüste, hob sie hoch, ließ sie fallen, strich mit der Hand über den hohlen und dennoch gewölbten Leib, sah die blauen verzweigten Adern an ihren Schenkeln und beschloß, wieder ins Bett zu gehn. Sie wandte sich um, und ihr Blick stieß erschrocken auf das geöffnete Aug' ihres Mannes. »Was schaust du?« rief sie. Er antwortete nicht. Es war, als gehörte das offene Auge nicht ihm, denn er selbst schlief noch. Unabhängig von ihm hatte es sich geöffnet. Selbständig neugierig war es geworden. Das Weiße des Auges schien weißer als gewöhnlich. Die Pupille war winzig. Das Auge erinnerte Deborah an einen vereisten See mit einem schwarzen Punkt darinnen. Es konnte kaum eine Minute offen gewesen sein, aber Deborah hielt diese Minute für ein Jahrzehnt. Mendels Auge schloß sich wieder. Er atmete ruhig weiter, er schlief, ohne Zweifel. Ein fernes Trillern von Millionen Lerchen erhob sich draußen, über dem Haus, unter den Himmeln. Schon drang die anbrechende Hitze des jungen Tages in den morgendlich verdunkelten Raum. Bald mußte die Uhr sechs Schläge schlagen, die Stunde, in der Mendel Singer aufzustehen pflegte. Deborah rührte sich nicht.
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