Einzelne Männer irrten mit schwankenden, gelben Laternen durch die runde Nacht, eine vergessene Decke zu holen und ein klirrendes Geschirr mit Mundvorrat. Ringsum, in den tausend kleinen Häuschen, waren Ankömmlinge untergebracht. Sie schliefen auf Pritschen neben den Betten der Einheimischen, die Siechen, die Krummen, die Lahmen, die Wahnsinnigen, die Idiotischen, die Herzschwachen, die Zuckerkranken, die den Krebs im Leibe trugen, deren Augen mit Trachom verseucht waren, Frauen mit unfruchtbarem Schoß, Mütter mit mißgestalteten Kindern, Männer, denen Gefängnis oder Militärdienst drohte, Deserteure, die um eine geglückte Flucht baten, von Ärzten Aufgegebene, von der Menschheit Verstoßene, von der irdischen Gerechtigkeit Mißhandelte, Bekümmerte, Sehnsüchtige, Verhungernde und Satte, Betrüger und Ehrliche, alle, alle, alle ...
Deborah wohnte bei Kluczýsker Verwandten ihres Mannes. Sie schlief nicht. Die ganze Nacht kauerte sie neben dem Korb Menuchims in der Ecke, neben dem Herd; finster war das Zimmer, finster war ihr Herz. Sie wagte nicht mehr, Gott anzurufen, er schien ihr zu hoch, zu groß, zu weit, unendlich hinter unendlichen Himmeln, eine Leiter aus Millionen Gebeten hätte sie haben müssen, um einen Zipfel von Gott zu erreichen. Sie suchte nach toten Gönnern, rief die Eltern an, den Großvater Menuchims, nach dem der Kleine hieß, dann die Erzväter der Juden, Abraham, Isaak und Jakob, die Gebeine Mosis und zum Schluß die Erzmütter. Wo immer eine Fürsprach möglich war, schickte sie einen Seufzer vor. Sie pochte an hundert Gräber, an hundert Türen des Paradieses. Vor Angst, daß sie morgen den Rabbi nicht erreichen würde, weil zuviel Bittende da waren, betete sie zuerst um das Glück, rechtzeitig vordringen zu können, als wäre die Gesundung ihres Sohnes dann schon ein Kinderspiel. Endlich sah sie durch die Ritzen der schwarzen Fensterläden ein paar fahle Streifen des Morgens. Schnell erhob sie sich. Sie zündete die trockenen Kienspäne an, die auf dem Herd lagen, suchte und fand einen Topf, holte den Samowar vom Tisch, warf die brennenden Späne hinein, schüttete Kohle nach, faßte das Gefäß an beiden Henkeln, bückte sich und blies hinein, daß die Funken herausstoben und um ihr Angesicht knisterten. Es war, als handelte sie nach einem geheimnisvollen Ritus. Bald siedete das Wasser, bald kochte der Tee, die Familie erhob sich, sie setzten sich vor irdene, braune Geschirre und tranken. Da hob Deborah ihren Sohn aus dem Korb. Er winselte. Sie küßte ihn schnell und viele Male, mit einer rasenden Zärtlichkeit, ihre feuchten Lippen knallten auf das graue Angesicht, die dürren Händchen, die krummen Schenkel, den aufgedunsenen Bauch des Kleinen, es war, als schlüge sie das Kind mit ihrem liebenden mütterlichen Mund. Hierauf packte sie ihn ein, schnürte einen Strick um das Paket und hängte sich ihren Sohn um den Hals, damit ihre Hände frei würden. Platz wollte sie sich schaffen im Gedränge vor der Tür des Rabbi.
Mit scharfem Heulen stürzte sie sich in die Menge der Wartenden, mit grausamen Fäusten drängte sie Schwache auseinander, niemand konnte sie aufhalten. Wer immer, von ihrer Hand getroffen und weggerückt, sich nach ihr umsah, um sie zurückzuweisen, war geblendet von dem brennenden Schmerz in ihrem Angesicht, ihrem offenen roten Mund, aus dem ein sengender Hauch zu strömen schien, von dem kristallenen Leuchten der großen, rollenden Tränen, von den Wangen, die in hellroten Flammen standen, von den dicken blauen Adern am gereckten Hals, in denen sich die Schreie sammelten, ehe sie ausbrachen. Wie eine Fackel wehte Deborah einher. Mit einem einzigen grellen Schrei, hinter dem die grauenhafte Stille einer ganzen gestorbenen Welt einstürzte, fiel Deborah vor der endlich erreichten Tür des Rabbi nieder, die Klinke in der gereckten Rechten. Mit der Linken trommelte sie gegen das braune Holz. Menuchim schleifte vor ihr her am Boden.
Jemand machte die Tür auf. Der Rabbi stand am Fenster, er kehrte ihr den Rücken, ein schwarzer, schmaler Strich. Plötzlich wandte er sich um. Sie blieb an der Schwelle, auf beiden Armen bot sie ihren Sohn dar, wie man ein Opfer bringt. Sie erhaschte einen Schimmer von dem bleichen Angesicht des Mannes, das eins zu sein schien mit seinem weißen Bart. Sie hatte sich vorgenommen, in die Augen des Heiligen zu sehen, um sich zu überzeugen, daß wirklich in ihnen die mächtige Güte lebe.
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