Von hier aus ist auch die Ebene zu sehen. Blau, eben – wie das Meer, je nun, so eine Wüste. Darum fahren die Leute dort so schnell: der Weg ist ihnen zu traurig, man geht – geht und es ist, als träte man immer auf derselben Stelle herum. Man würde nicht in die Ebene gehen, nur so, um sich umzuschauen; hingegen hier – wie am Feiertag, man braucht nur der Nase nachzugehen und findet immer wieder einen Grund, weiterzugehen; hier hinter diese Wegbiegung, hinter den Wildbach, dorthin zu jener Fichte, über die Weide dort oben, und wenn man schon da ist, in den Wald; gegen Mittag sieht der Wald, lauter Buchen, graue und lichte Stämme, als wäre hier Nebel gelagert; und hier, dort, überall blühen Alpenveilchen wie rötliche Flammen. Und da, sieh doch, was für ein blonder Steinpilz, er hebt das dürre Blattwerk hoch, ei, welch starker und weißer Fuß; und weißt du was? ich lasse dich hier, Pilz, Pilzchen, ich werde weder Kuckucksblumen noch Glockenblümchen, sondern ein Erdbeersträußchen für Hafia pflücken, drunten am Waldrand, wo sie am süßesten sind, Hordubal bleibt stehn und hält den Atem an: ein Reh; dort drüben steht ein Reh, blond und licht wie das Laub vom vorigen Jahr, steht im Farnkraut und sichert: was bist du, ein Mensch oder ein Baumstumpf. Ein Klotz bin ich, ein Baumstumpf ein schwarzer Ast, entflieh' bloß nicht; hast denn auch du Angst vor mir, wildes Getier? Nein, es hat keine Angst; es reißt ein Blättchen ab, blickt, mahlt mit dem Mund wie eine Ziege. Beck, beck, sagt es, stampft mit den Hufen auf und trabt weiter. Und Juraj ist plötzlich überglücklich, so leicht, so leicht steigt es hinan, und denkt an nichts. Er geht nur, geht, und fühlt sich wohl. Ein Reh hab' ich gesehn, wird er abends Hafia erzählen – oje, und wo? Nun, dort oben, in der Ebene gibt es keine Rehe, Hafia.

Und da ist es schon – niemand weiß, was eigentlich: ein zerfallener Bau, umherliegende Balken, aber was für Balken, Herrgott im Himmel, Glockenstühle könnte man daraus zimmern, von Nachtschatten und Himbeeren überwuchert, von wilden Lilien, Nießkraut, Farren und Storchschnabel, wahrlich, ein seltsamer und verwunschener Ort – hier wendet sich der Wald gen Mitternacht; schwarzer Wald, bemooster Wald, schwarz und feucht ist das Erdreich, ja, sogar spuken soll es hier; und weißliche, durchsichtige Pilze, wie Sülze, Hasenklee und Dunkelheit, immer diese Dunkelheit; kein Eichhörnchen hört man hier, keine Fliege, so ein schwarzer Wald ist es, ungern gehen Kinder hier durch und selbst die Männer schlagen ein Kreuz. Aber da ist schon der Waldrand, bis an die Knie watet man durch Heidelbeerbüsche und hebt die Zweige hoch, und wieviel Flechtwerk hier niederhängt, die Brombeeren halten einem die Füße fest, ach, nicht leicht entläßt einen der Wald ins freie Feld, man muß sich durch das Dickicht hindurcharbeiten wie ein Eber, und heidi! wie aus dem Wald geschossen, gleichwie vom Wald selber ausgespien, steht man auf der Alm, auf der Polonina, gelobt sei Jesus Christus, da sind wir.

Weit ist die Polonina: hin und wieder Fichten, groß und mächtig wie eine Kirche, man möchte den Hut abnehmen und laut grüßen; und das Gras glatt, glitschig, ganz kurz, weich stapft man darauf wie auf einem Teppich; lang und kahl dehnt sich die Polonina zwischen den Wäldern, wölbt sich weit und breit, den Himmel über sich, und hat die Wälder seitlich abgestreift: so wie wenn ein Mann seine Brust entblößt und daliegt, daliegt und dem lieben Gott in die Fenster guckt, – ah, ahah, wie geht da sein Atem! Und Juraj Hordubal ist auf einmal so kleinwinzig wie eine Ameise und trippelt über die Polonina, wohin, Ameislein? Nun, dorthin, hinauf zu dem Kamm, siehst du dort die kleinen roten Ameisen weiden? Dorthin strebe ich.

Weit ist die Polonina. Weit ist sie, himmlischer Vater: würdest du's glauben, eine Herde Ochsen? Diese roten Punkte? Gut hat es der Schöpfer: er blickt hernieder und sagt sich, dieser schwarze Punkt dort ist ein gewisser Hordubal, der lichte Punkt dort ist Polana; ich muß mal sehn, werden sich die beiden Punkte begegnen? oder soll ich sie mit dem Finger zueinander schieben? Und da flitzt etwas Schwarzes den Hang herunter und geradewegs hierher; es rennt, kollert den Abhang herunter, wer bist du? und du bist ein schwarzes Hündchen, zerkläffst dir dein Mäulchen, ach, geh doch, sehe ich wie ein Strauchdieb aus? Komm her, bist ein tapferer Hund; ich will mal nach dem Batscha droben sehen. Schon ist das Herdengeläute zu hören. »Hajza«, ruft der Hirte, mit großen, ruhigen Augen blicken die Ochsen auf Juraj, winken mit dem Schweif und weiden weiter; der Batscha steht unbewegt, wie ein Wacholderstrauch steht er und blickt dem Ankömmling entgegen.

»Hej«, ruft Juraj, »bist du's, Mischa? Nun, Gott zum Gruß!«

Mischa nichts, schaut nur.

»Kennst mich nicht? Bin der Hordubal.«

»So, der Hordubal«, sagt Mischa und staunt nicht; wer sollte über etwas staunen?

»Bin aus Amerika zurück.«

»Was?«

»Aus Amerika.«

»So, aus Amerika.«

»Wessen Ochsen weidest du da, Mischa?«

»Was?«

»Wessen Ochsen sind das?«

»So, wessen Ochsen. Aus Krivá.«

»So, so, aus Krivá. Schöne Tiere. Und du, Mischa, gesund? Bin gekommen, um dich zu sehen.«

»Was?«

»Nun, dich anzuschauen.«

Mischa nichts, blinzelt nur; man verlernt das Sprechen da oben. Hordubal legt sich, auf den Ellenbogen gestützt, ins Gras und nimmt einen Halm in den Mund; hier – hier eine andere Welt, man braucht nicht zu reden, 's ist nicht nötig. Vom April bis September weidet Mischa hier, sieht wochenlang keine Menschenseele –

»Nun, Mischa, warst du schon einmal dort unten, wo die Ebene ist?«

»Was?«

»Warst du in der Ebene, Mischa?«

»So, in der Ebene. Nein.«

»Und dort oben, auf dem Durny, da bist du schon gewesen?«

»Ja.«

»Und hier hinter dem Berg nicht?«

»Nein.«

Da siehst du – und ich – bis nach Amerika; und was hab' ich davon? Nicht einmal meine Frau versteh' ich –

»Dort – das sind schon die andern Weiden«, sagt Mischa.

»Hör mal«, fragt Juraj, so wie er zu fragen pflegte, als er noch ein Knabe war. »Was war einmal dieser Bau im Wald?«

»Was?«

»Dieser Bau im Wald.«

»So, der Bau.« Mischa pafft nachdenklich aus seiner Tabakspfeife. »Wer weiß es. Man sagt, die Raubritter wollten dort eine Burg bauen. Aber was wissen die Leute.«

»Und ist es wahr, daß es dort spukt?«

»So, so«, sagt Mischa unbestimmt.

Hordubal hat sich auf den Rücken gedreht. Gut ist es hier, denkt er; und was dort unten ist – das weißt du selbst nicht mehr. Dort drängen sich die Leute auf einem Hof, jeder steht dem andern im Wege, gleich werden sie wie die Hähne raufen; fast schmerzt der Mund, so heftig schließt du ihn, um nicht loszuschreien.

»Hast du ein Weib, Mischa?«

»Was?«

»Ob du ein Weib hast?«

»Nein.«

In der Ebene sind keine solchen Wolken; dort ist der Himmel leer, aber hier – wie Kühe auf der Weide; man liegt auf dem Rücken und weidet. Und sie scheinen zu segeln, und man segelt mit ihnen, man fließt gleichsam fort, seltsam, daß man so leicht ist und mit ihnen schweben kann. Wohin gehen die Wolken, wohin geraten sie am Abend? Gleich als lösten sie sich auf, aber kann sich denn etwas nur so verlieren?

Hordubal hat sich auf den Ellenbogen aufgestützt.

»Ich wollte dich etwas fragen, Mischa – kennst du keine Liebeskräuter?«

»Was?«

»Ein Liebeskraut, das Liebe weckt. Damit sich zum Beispiel ein Mädel in dich verliebt.«

»Ach«, brummt Mischa, »das will ich nicht.«

»Du nicht, aber ein anderer möchte es.«

»Und wozu«, ärgert sich Mischa. »Nicht nötig.«

»Aber du kennst solche Kräuter?«

»Kenn' ich nicht.« Mischa spuckt aus.