»Ich habe mir das gleich gedacht, als ich Sie so schlecht englisch sprechen hörte. Also, die Geschichte mit dem Glücksschiff verhält sich folgendermaßen: Halbjährlich finden Verlosungen statt. Im Juni gibt es einen Treffer von fünfhundert Pfund und viele kleinere Preise, um Weihnachten aber wird ein einziger Gewinn ausgelost, und der beträgt fünftausend Pfund.«
Bill sah dem Zug nach, dem ein Rudel Gassenjungen folgte, bis er außer Sicht kam und der Verkehr wieder aufgenommen werden konnte.
»Das ist mir alles ganz neu«, meinte er. »Ich will mal sehen, ob ich bei meinem polizeilichen Berater noch Informationen darüber bekommen kann.«
Der Polizist grinste.
»Freilich, Sie wohnen ja bei Mr. Bullott, nicht wahr?«
»Ganz richtig.«
Holbrook war nicht wenig erstaunt, daß man ihn sogar in der Edgware Road kannte.
»Ich habe Sie oft bei ihm ein und aus gehen sehen, als ich dort im Revier Dienst tat. Ich würde Sie allerdings nicht wiedererkannt haben, wenn mich nicht der Bursche da drüben gefragt hätte, ob Sie nicht der Untermieter des Inspektors seien.«
Bill schaute in die Richtung, die ihm der Polizist mit einem unauffälligen Seitenblick gewiesen hatte. Dort stand, wenige Schritte von ihnen entfernt, ein Mann, der unter normalen Umständen seine Aufmerksamkeit kaum erregt hätte. Bill pflegte Leute, die er zufällig traf, gleich in bestimmte Kategorien einzuteilen. Eine davon war die der ›angemessen bezahlten Angestellten‹. Zu dieser rechnete er den Mann entschieden.
Er trug einen gutsitzenden Anzug, ein makellos weißes Hemd mit Stehkragen, eine schwarze Halsbinde und starke, gut gearbeitete Schuhe. Sein hageres Gesicht verriet hohe Intelligenz. Er hatte einen rötlichen Schnurrbart, und auf seiner Nase saß ein goldgefaßter Kneifer.
»Was glauben Sie, ist der Mann?« fragte der Polizist mit überlegenem Lächeln.
»Na, ich denke, ein Staatsbeamter in guter Stellung«, vermutete Bill.
»Da täuschen Sie sich aber gewaltig«, erwiderte der andere, dem dieses Fragespiel sichtlich Spaß machte.
»Was denn sonst?«
»Er ist - Einbrecher! Toby Marsh ist einer der geschicktesten Einbruchskünstler Londons. Und ist erst ein einziges Mal erwischt worden, und auch das nur durch Zufall.«
In diesem Augenblick wandte der Mann mit dem Zwicker sich ihnen zu, um sie von Kopf bis Fuß zu mustern. Gleich darauf sah er wieder weg.
»Den möchte ich gern mal sprechen«, meinte Bill. »Können Sie ihn nicht herrufen?«
»Ich?« entsetzte sich der Polizist. »Werde mich schwer hüten! Was glauben Sie denn, wie der mich behandeln würde! Ein gewöhnlicher Polizist hat mit solchen Herren nichts zu schaffen. Es liegt ja nichts gegen ihn vor, das heißt, es ist ihm nichts nachzuweisen, und die Detektivabteilung sieht es gar nicht gern, wenn wir uns mit solchen Leuten einlassen.«
Jetzt ging der Mann weiter und verschwand bald in der Menge.
»Übrigens«, fuhr der Polizist fort, »weiß man nie, ob solche Burschen nicht für unsere Leute arbeiten. Ich halte zwar Toby nicht für einen Lockspitzel, aber ein Einbrecher von Rang kann unserem Hauptpolizeiamt sehr nützlich sein. Ich würde möglicherweise einen Rüffel bekommen, wenn ich ihn unnötigerweise verstimmte.«
Dennoch sollte Bills Wunsch nach einem Gespräch mit Toy Marsh gleich danach in Erfüllung gehen. Er war auf die Cambridge Terrace eingebogen, als er den interessanten Mann wieder vor sich sah. Er stand, mit dem Rücken ans Geländer gelehnt, wie einer da, der jemand erwartet. Bill wollte gerade vorbeigehen, als Toby Marsh auf ihn zukam.
»Verzeihen Sie, Sir!« Er sprach mit dem leicht näselnden Ton, der in gewissen Kreisen als Zeichen vornehmer Abkunft gilt. »Ich habe beobachtet, wie Sie ratlos und verblüfft das Treiben dieser Spießer verfolgten. Seltsame Neigungen haben diese Leute, nicht? Sie als Zeitungsmann wird es vielleicht interessieren, etwas über die psychologischen Hintergründe zu hören, die Beweggründe, die zu solchen Schaustellungen führen.«
Bill überraschte die gewählte Ausdrucksweise des Meistereinbrechers. Toby Marsh fuhr, ohne eine Antwort abzuwarten, fort:
»Bei den unteren Klassen ist der Nachahmungstrieb stärker entwickelt. Wenn er sich mit Großmannssucht paart, muß etwas Verschrobenes zustande kommen. Das eindrücklichste Beispiel sind die ›Stolzen Söhne von Ragusa‹ mit ihrem Mysterienkult, ihren Erkennungszeichen beim Händedruck, ihrem Losungswort - das nebenbei gesagt ›Drache‹ heißt -, ihren Talaren und Kapuzen, die den ganzen Kopf verhüllen und nur Augenschlitze aufweisen, mit ihren Einweihungszeremonien, bei denen bengalisches Licht eine große Rolle spielt, ihren Prioren, Logenmeistern und Tagesbefehlen.«
Bill grinste.
»Sie scheinen sich ja in dem Orden recht gut auszukennen?«
»Ich kenne so ziemlich alle Geheimgesellschaften«, erklärte Marsh mit einer Handbewegung, die jede Bewunderung bescheiden zurückweisen sollte. »Ganz besonders vertraut bin ich aber mit dem ›Dreiundzwanzigsten Grad‹ der Söhne von Ragusa. Ja -«, wiederholte er, als er mit Genugtuung das Erstaunen im Gesicht des andern sah, »mit dem Dreiundzwanzigsten Grad der Söhne von Ragusa und speziell auch mit der ›Goldenen Stimme des Alls‹!«
Bill sah ihn einen Augenblick lang verwirrt an. Er überlegte, ob der Mann betrunken sei.
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