Es scheint, wir halten auf die Surrey-Seite8 zu. Ja, dacht ich mir’s doch, jetzt sind wir auf der Brücke. Schauen Sie, man kann einen Blick auf den Fluß erhaschen.«
Tatsächlich sahen wir flüchtig einen Abschnitt der Themse und den Widerschein der Lampen auf dem breiten, ruhig fließenden Gewässer, aber schon war der Wagen weitergejagt und ins Straßengewirr des jenseitigen Ufers eingetaucht.
»Wandsworth Road«, bemerkte mein Gefährte. »Priory Road. Larkhall Lane. Stockwell Place. Robert Street. Coldharbour Lane. Unsere Ausfahrt scheint uns nicht in die allervornehmsten Gegenden zu führen.«
Tatsächlich befanden wir uns in einer höchst zweifelhaften, wenig einladenden Umgebung. Lange Reihen düsterer Backsteinhäuser wurden einzig vom Flitter grell erleuchteter Pubs an den Straßenecken aufgelockert. Es folgten Reihen von zweigeschossigen Einfamilienhäusern, jedes mit einem winzig kleinen Vorgarten, dann wieder endlose Reihen von neuen, aufdringlichen Backsteingebäuden – monströse Tentakel, welche die riesenhafte Stadt ins Land ausstreckte. Endlich hielt der Wagen vor dem dritten Haus einer neugebauten Häuserreihe. Keines der Nachbarhäuser schien bewohnt zu sein, und auch das, vor dem wir standen, war dunkel bis auf einen schwachen Schimmer, der durch das Küchenfenster drang. Auf unser Klopfen hin wurde die Tür jedoch unverzüglich aufgerissen von einem Hindu-Diener, der einen gelben Turban, ein weißes, wallendes Gewand und eine gelbe Schärpe trug. Die exotische Gestalt wirkte seltsam fehl am Platz in diesem Allerweltseingang eines drittklassigen englischen Vorortshauses.
»Der Sahib9 erwartet Sie«, sagte der Diener, und er hatte noch nicht ausgeredet, als aus dem Innern des Hauses eine hohe, schrille Stimme an unser Ohr drang.
»Bring sie zu mir herein, Khitmutgar10«, krähte sie, »bring sie sogleich zu mir.«
4. Die Geschichte des kahlen Mannes
Wir folgten dem Inder durch einen schmutzigen, schäbigen Gang, der schlecht beleuchtet und noch schlechter eingerichtet war, bis wir rechts zu einer Tür gelangten, die er aufstieß. Blendend helles Licht strömte uns entgegen, und mittendrin stand ein kleiner Mann, dessen auffallend hoher Schädel von einem Kranz roter Borsten gesäumt wurde, über denen sich eine glänzende Glatze erhob wie ein Berggipfel über den Tannenwipfeln. Er rang in einem fort die Hände, und über sein Gesicht lief ein unablässiges Zucken: bald lächelnd, bald sich verfinsternd kamen seine Züge nicht einen Moment lang zur Ruhe. Die Natur hatte ihn mit einer Hängelippe und einer deutlich sichtbaren Reihe gelber, unregelmäßiger Zähne ausgestattet, was er zu verbergen suchte, indem er sich immer wieder mit der Hand über die untere Gesichtshälfte fuhr. Trotz seiner auffälligen Kahlheit schien er noch jung zu sein. Tatsächlich hatte er eben erst sein dreißigstes Lebensjahr vollendet.
»Zu Ihren Diensten, Miss Morstan«, wiederholte er mehrfach mit hoher, dünner Stimme. »Zu Ihren Diensten, Gentlemen. Bitte treten Sie ein in mein kleines Heiligtum. Es ist zwar nicht groß, Miss, aber ganz nach meinem Geschmack eingerichtet. Eine Oase der Kunst in der öden Wüstenei von Südlondon.«
Der Anblick der Wohnung, in die wir gebeten wurden, setzte uns alle in Erstaunen. Sie wirkte in diesem armseligen Hause so fehl am Platz wie ein Diamant reinsten Wassers in einer Fassung aus Katzengold. Üppigste schimmernde Vorhangstoffe und Tapisserien bedeckten die Wände und waren hier und da gerafft, um den Blick auf ein kostbar gerahmtes Gemälde oder eine orientalische Vase freizugeben. Der Teppich war bernsteinfarben und schwarz und von solcher Dicke und Weichheit, daß man beim Gehen behaglich darin einsank, als schritte man über einen Moosteppich. Zwei große Tigerfelle, die quer darüber gebreitet waren, verstärkten noch den Eindruck von orientalischem Luxus, ebenso wie eine riesige Huka11, die auf einer Matte in der Ecke stand. Eine brennende Lampe in Gestalt einer silbernen Taube hing an einem beinahe unsichtbaren Golddraht in der Mitte des Zimmers und erfüllte die Luft mit einem feinen, aromatischen Wohlgeruch.
»Mr.
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