Aber ich langweile Sie gewiß mit meinem Hobby.«

»Keineswegs«, widersprach ich mit Nachdruck. »Es interessiert mich brennend, um so mehr, als ich schon die Gelegenheit hatte, Sie derlei in der Praxis anwenden zu sehen. Aber Sie sprachen vorhin von Beobachtung und Deduktion. Das eine bedingt doch wohl das andere, gewissermaßen?«

»Kaum«, antwortete er, lehnte sich behaglich in seinem Sessel zurück und ließ aus seiner Pfeife dicke, bläuliche Rauchkringel aufsteigen. »Zum Beispiel zeigt mir die Beobachtung, daß Sie heute vormittag auf dem Postamt in der Wigmore Street waren, die Deduktion aber sagt mir, daß Sie dort ein Telegramm aufgegeben haben.«

»Stimmt!« sagte ich. »Beides stimmt! Aber ich muß gestehen, daß es mir unerklärlich ist, wie Sie darauf gekommen sind. Es war ein ganz plötzlicher Entschluß meinerseits, und ich habe keinem Menschen gegenüber etwas davon erwähnt.«

»Nichts einfacher als das«, meinte er, über meine Verblüffung schmunzelnd; »es ist so lächerlich einfach, daß sich eine Erklärung eigentlich erübrigt; aber vielleicht kann sie etwas zur Festlegung der Grenzen von Beobachtung und Deduktion beitragen. Meine Beobachtungsgabe teilt mir mit, daß auf dem Rist eines Ihrer Schuhe ein wenig rötliche Erde klebt. Direkt vor dem Postamt in der Wigmore Street ist das Pflaster aufgerissen und ein Erdhaufen aufgeworfen worden, der so liegt, daß man ihn kaum umgehen kann, wenn man ins Postamt will. Die Erde dort hat einen ganz besonderen, rötlichen Farbton, der meines Wissens an keinem anderen Ort der näheren Umgebung zu finden ist. Bis hierher ist alles Beobachtung; der Rest ist Deduktion.«

»Und wie haben Sie dann das Telegramm deduziert?«

»Nun, ich wußte natürlich, daß Sie keinen Brief geschrieben hatten, da ich Ihnen den ganzen Morgen gegenübersaß. Zudem kann ich sehen, daß Sie in Ihrem Schreibtisch, der offensteht, einen ganzen Bogen Briefmarken und ein dickes Bündel Postkarten haben. Wofür also sollten Sie das Postamt betreten, außer um ein Telegramm aufzugeben? Man schließe alle anderen Möglichkeiten aus, und die eine, die übrigbleibt, muß die Wahrheit sein.«

»In diesem Fall trifft das sicherlich zu«, griff ich den Faden nach einigem Nachdenken wieder auf. »Allerdings liegt diese Sache, wie Sie ja selbst sagen, sehr einfach. Würden Sie es als Unverschämtheit empfinden, wenn ich Ihre Theorie auf eine härtere Probe stellte?«

»Ganz im Gegenteil«, antwortete er, »es würde mich davon abhalten, eine zweite Dosis Kokain zu nehmen. Es wird mir ein Vergnügen sein, mich mit jeglichem Problem zu befassen, das Sie mir vorzulegen belieben.«

»Ich habe Sie verschiedentlich sagen hören, es sei kaum möglich, einen Gegenstand täglich in Gebrauch zu haben, ohne Spuren darauf zu hinterlassen, die einem geübten Beobachter Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Besitzers gestatteten. Nun denn, ich habe hier eine Uhr, die erst kürzlich in meinen Besitz gelangt ist. Würden Sie so gut sein, mir Ihre Meinung über den Charakter oder die Gewohnheiten des früheren Eigentümers mitzuteilen?«

Ich reichte ihm die Uhr mit einem Anflug von heimlicher Schadenfreude, denn die Aufgabe war, so glaubte ich, unlösbar, und ich beabsichtigte, ihm wegen des professoralen Tones, den er gelegentlich anschlug, eine Lehre zu erteilen. Er wog die Uhr in der Hand, musterte eingehend das Zifferblatt, öffnete das Gehäuse und untersuchte das Uhrwerk, zuerst von bloßem Auge, dann mit Hilfe eines starken Vergrößerungsglases. Als er schließlich die Uhr wieder zuklappte und mir zurückgab, konnte ich mir angesichts seiner niedergeschlagenen Miene nur mit Mühe ein Lächeln verkneifen.

»Es sind kaum Anhaltspunkte vorhanden«, bemerkte er. »Die Uhr ist vor kurzem gereinigt worden, und das bringt mich um die aufschlußreichsten Hinweise.«

»Ganz recht«, bestätigte ich, »die Uhr wurde gereinigt, ehe sie mir übersandt wurde.«

Insgeheim machte ich meinem Gefährten den Vorwurf, sich für sein Versagen einer äußerst faulen und nichtssagenden Ausrede zu bedienen. Was für Anhaltspunkte konnte er denn von einer nicht gereinigten Uhr erwarten?

»Obgleich unbefriedigend, war meine Untersuchung doch nicht gänzlich fruchtlos«, bemerkte er, während er mit gedankenverlorenem, stumpfem Blick zur Decke starrte. »Ihre Berichtigung vorbehalten, würde ich meinen, daß die Uhr Ihrem ältesten Bruder gehörte, der sie von Ihrem Vater geerbt hat.«

»Das schließen Sie zweifellos aus dem ›H.W.‹ auf der Rückseite.«

»Genau. Das ›W.‹ weist auf Ihren Namen hin. Das Datum auf der Uhr liegt etwa fünfzig Jahre zurück, und das Monogramm ist gleich alt wie die Uhr; also muß sie für die letzte Generation gemacht worden sein. Es ist üblich, daß Familienschmuck auf den ältesten Sohn übergeht, und dieser trägt in den meisten Fällen denselben Vornamen wie sein Vater. Wenn ich mich recht erinnere, ist Ihr Vater bereits vor vielen Jahren verstorben. Die Uhr muß also zuletzt im Besitz Ihres ältesten Bruders gewesen sein.«

»Soweit richtig«, sagte ich. »Sonst noch etwas?«

»Er war ein liederlicher Mensch – sehr liederlich und nachlässig. Er hatte ursprünglich gute Aussichten, aber er vertat sein Glück, lebte längere Zeit in Armut, kam ab und zu mal für kurze Zeit zu Geld, verfiel schließlich der Trunksucht und starb.